T1 Erster Theil
1:1
Zarathustra's Vorrede.
1:2
hp 1.
1:3
Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und
den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoss er seines
Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahr nicht muede.
Endlich aber verwandelte sich sein Herz, - und eines Morgens stand er
mit der Morgenroethe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr
also:
1:4
"Du grosses Gestirn! Was waere dein Glueck, wenn du nicht Die
haettest, welchen du leuchtest!
1:5
Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Hoehle: du wuerdest deines
Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler
und meine Schlange.
1:6
Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Ueberfluss
ab und segneten dich dafuer.
1:7
Siehe! Ich bin meiner Weisheit ueberdruessig, wie die Biene, die
des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Haende, die sich
ausstrecken.
1:8
Ich moechte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den
Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen einmal ihres
Reichthums froh geworden sind.
1:9
Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn
du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du
ueberreiches Gestirn!
1:10
Ich muss, gleich dir, _untergehen_, wie die Menschen es nennen, zu
denen ich hinab will.
1:11
So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein
allzugrosses Glueck sehen kann!
1:12
Segne den Becher, welche ueberfliessen will, dass das Wasser golden
aus ihm fliesse und ueberallhin den Abglanz deiner Wonne trage!
1:13
Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will
wieder Mensch werden."
1:14
- Also begann Zarathustra's Untergang.
1:15
hp 2.
1:16
Zarathustra stieg allein das Gebirge abwaerts und Niemand begegnete
ihm. Als er aber in die Waelder kam, stand auf einmal ein Greis vor
ihm, der seine heilige Huette verlassen hatte, um Wurzeln im Walde zu
suchen. Und also sprach der Greis zu Zarathustra:
1:17
Nicht fremd ist mir dieser Wanderer: vor manchen Jahre gieng er her
vorbei. Zarathustra hiess er; aber er hat sich verwandelt. Damals
trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer in die
Thaeler tragen? Fuerchtest du nicht des Brandstifters Strafen?
1:18
Ja, ich erkenne Zarathustra. Rein ist sein Auge, und an seinem Munde
birgt sich kein Ekel. Geht er nicht daher wie ein Taenzer?
1:19
Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra, ein Erwachter
ist Zarathustra: was willst du nun bei den Schlafenden?
1:20
Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich.
Wehe, du willst an's Land steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder
selber schleppen?
1:21
Zarathustra antwortete: "Ich liebe die Menschen."
1:22
Warum, sagte der Heilige, gieng ich doch in den Wald und die Einoede?
War es nicht, weil ich die Menschen allzu sehr liebte?
1:23
Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir
eine zu unvollkommene Sache. Liebe zum Menschen wuerde mich umbringen.
1:24
Zarathustra antwortete: "Was sprach ich von Liebe! Ich bringe den
Menschen ein Geschenk."
1:25
Gieb ihnen Nichts, sagte der Heilige. Nimm ihnen lieber Etwas ab und
trage es mit ihnen - das wird ihnen am wohlsten thun: wenn er dir nur
wohlthut!
1:26
Und willst du ihnen geben, so gieb nicht mehr, als ein Almosen, und
lass sie noch darum betteln!
1:27
"Nein, antwortete Zarathustra, ich gebe kein Almosen. Dazu bin ich
nicht arm genug."
1:28
Der Heilige lachte ueber Zarathustra und sprach also: So sieh zu,
dass sie deine Schaetze annehmen! Sie sind misstrauisch gegen die
Einsiedler und glauben nicht, dass wir kommen, um zu schenken.
1:29
Unse Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie wenn
sie Nachts in ihren Betten einen Mann gehen hoeren, lange bevor die
Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der Dieb?
1:30
Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu
den Thieren! Warum willst du nicht sein, wie ich, - ein Baer unter
Baeren, ein Vogel unter Voegeln?
1:31
"Und was macht der Heilige im Walde?" fragte Zarathustra.
1:32
Der Heilige antwortete: Ich mache Lieder und singe sie, und wenn ich
Lieder mache, lache, weine und brumme ich: also lobe ich Gott.
1:33
Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen lobe ich den Gott, der mein
Gott ist. Doch was bringst du uns zum Geschenke?
1:34
Als Zarathustra diese Worte gehoert hatte, gruesste er den Heiligen
und sprach: "Was haette ich euch zu geben! Aber lasst mich schnell
davon, dass ich euch Nichts nehme!" - Und so trennten sie sich von
einander, der Greis und der Mann, lachend, gleichwie zwei Knaben
lachen.
1:35
Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen:
"Sollte es denn moeglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde
noch Nichts davon gehoert, dass _Gott_todt_ ist!" -
1:36
hp 3.
1:37
Als Zarathustra in die Naechste Stadt kam, die an den Waeldern liegt,
fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markte: denn es war
verheissen worden, das man einen Seiltaenzer sehen solle. Und
Zarathustra sprach also zum Volke:
1:38
Ich lehre euch den Uebermenschen. Der Mensch ist Etwas, das
ueberwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu ueberwinden?
1:39
Was ist der Affe fuer den Menschen? Ein Gelaechter oder eine
schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch fuer den Uebermenschen
sein: ein Gelaechter oder eine schmerzliche Scham.
1:40
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in
euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt ist der Mensch
mehr Affe, als irgend ein Affe.
1:41
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt
und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu
Gespenstern oder Pflanzen werden?
1:42
Seht, ich lehre euch den Uebermenschen!
1:43
Der Uebermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der
Uebermensch _sei_ der Sinn der Erde!
1:44
Ich beschwoere euch, meine Brueder, _bleibt_der_Erde_treu_ und
glaubt Denen nicht, welche euch von ueberirdischen Hoffnungen reden!
Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.
1:45
Veraechter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete,
deren die Erde muede ist: so moegen sie dahinfahren!
1:46
Einst war der Frevel an Gott der groesste Frevel, aber Gott starb, und
damit auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das
Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen hoeher zu achten,
als der Sinn der Erde!
1:47
Einst blickte die Seele veraechtlich auf den Leib: und damals war
diese Verachtung das Hoechste: - sie wollte ihn mager, graesslich,
verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschluepfen.
1:48
Oh diese Seele war selbst noch mager, graesslich und verhungert: und
Grausamkeit war die Wollust dieser Seele!
1:49
Aber auch ihr noch, meine Brueder, sprecht mir: was kuendet euer Leib
von eurer Seele? Ist eure Seele nicht Armuth und Schmutz und ein
erbaermliches Behagen?
1:50
Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein
Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu koennen, ohne
unrein zu werden.
1:51
Seht, ich lehre euch den Uebermenschen: der ist diess Meer, in ihm
kann eure grosse Verachtung untergehn.
1:52
Was ist das Groesste, das ihr erleben koennt? Das ist die Stunde der
grossen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glueck zum Ekel
wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.
1:53
Die Stunde, wo ihr sagt: "Was liegt an meinem Gluecke! Es ist Armuth
und Schmutz, und ein erbaermliches Behagen. Aber mein Glueck sollte
das Dasein selber rechtfertigen!"
1:54
Die Stunde, wo ihr sagt: "Was liegt an meiner Vernunft! Begehrt sie
nach Wissen wie der Loewe nach seiner Nahrung? Sie ist Armuth und
Schmutz und ein erbaermliches Behagen!"
1:55
Die Stunde, wo ihr sagt: "Was liegt an meiner Tugend! Noch hat sie
mich nicht rasen gemacht. Wie muede bin ich meines Guten und meines
Boesen! Alles das ist Armuth und Schmutz und ein erbaermliches
Behagen!"
1:56
Die Stunde, wo ihr sagt: "Was liegt an meiner Gerechtigkeit! Ich sehe
nicht, dass ich Gluth und Kohle waere. Aber der Gerechte ist Gluth und
Kohle!"
1:57
Die Stunde, wo ihr sagt: "Was liegt an meinem Mitleiden! Ist nicht
Mitleid das Kreuz, an das Der genagelt wird, der die Menschen liebt?
Aber mein Mitleiden ist keine Kreuzigung."
1:58
Spracht ihr schon so? Schriet ihr schon so? Ach, dass ich euch schon
so schreien gehoert hatte!
1:59
Nicht eure Suende - eure Genuegsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz
selbst in eurer Suende schreit gen Himmel!
1:60
Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der
Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden muesstet?
1:61
Seht, ich lehre euch den Uebermenschen: der ist dieser Blitz, der ist
dieser Wahnsinn! -
1:62
Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer aus dem Volke: "Wir
hoerten nun genug von dem Seiltaenzer; nun lasst uns ihn auch sehen!"
Und alles Volk lachte ueber Zarathustra. Der Seiltaenzer aber, welcher
glaubte, dass das Wort ihm gaelte, machte sich an sein Werk.
1:63
hp 4.
1:64
Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach er
also:
1:65
Der Mensch ist ein Seil, geknuepft zwischen Thier und Uebermensch, -
ein Seil ueber einem Abgrunde.
1:66
Ein gefaehrliches Hinueber, ein gefaehrliches Auf-dem-Wege, ein
gefaehrliches Zurueckblicken, ein gefaehrliches Schaudern und
Stehenbleiben.
1:67
Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Bruecke und kein
Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein
_Uebergang_ und ein _Untergang_ ist.
1:68
Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als
Untergehende, denn es sind die Hinuebergehenden.
1:69
Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden
sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.
1:70
Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund
suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde
opfern, dass die Erde einst der Uebermenschen werde.
1:71
Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erkennen
will, damit einst der Uebermensch lebe. Und so will er seinen
Untergang.
1:72
Ich liebe Den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem
Uebermenschen das Haus baue und zu ihm Erde, Thier und Pflanze
vorbereite: denn so will er seinen Untergang.
1:73
Ich liebe Den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum
Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht.
1:74
Ich liebe Den, welcher nicht einen Tropfen Geist fuer sich
zurueckbehaelt, sondern ganz der Geist seiner Tugend sein will: so
schreitet er als Geist ueber die Bruecke.
1:75
Ich liebe Den, welcher aus seiner Tugend seinen Hang und sein
Verhaengniss macht: so will er um seiner Tugend willen noch leben und
nicht mehr leben.
1:76
Ich liebe Den, welcher nicht zu viele Tugenden haben will. Eine Tugend
ist mehr Tugend, als zwei, weil sie mehr Knoten ist, an den sich das
Verhaengniss haengt.
1:77
Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben
will und nicht zurueckgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht
bewahren.
1:78
Ich liebe Den, welcher sich schaemt, wenn der Wuerfel zu seinem
Gluecke faellt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher Spieler?
- denn er will zu Grunde gehen.
1:79
Ich liebe Den, welcher goldne Worte seinen Thaten voraus wirft
und immer noch mehr haelt, als er verspricht: denn er will seinen
Untergang.
1:80
Ich liebe Den, welcher die Zukuenftigen rechtfertigt und die
Vergangenen erloest: denn er will an den Gegenwaertigen zu Grunde
gehen.
1:81
Ich liebe Den, welcher seinen Gott zuechtigt, weil er seinen Gott
liebt: denn er muss am Zorne seines Gottes zu Grunde gehen.
1:82
Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der
an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht er gerne
ueber die Bruecke.
1:83
Ich liebe Den, dessen Seele uebervoll ist, so dass er sich selber
vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein
Untergang.
1:84
Ich liebe Den, der freien Geistes und freien Herzes ist: so ist sein
Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber treibt ihn zum
Untergang.
1:85
Ich liebe alle Die, welche schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus
der dunklen Wolke, die ueber den Menschen haengt: sie verkuendigen,
dass der Blitz kommt, und gehn als Verkuendiger zu Grunde.
1:86
Seht, ich bin ein Verkuendiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen
aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Uebermensch. -
1:87
hp 5.
1:88
Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk
an und schwieg. "Da stehen sie", sprach er zu seinem Herzen, "da
lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund fuer
diese Ohren.
1:89
Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den
Augen hoeren. Muss man rasseln gleich Pauken und Busspredigern? Oder
glauben sie nur dem Stammelnden?
1:90
Sie haben etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was
sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus vor den
Ziegenhirten.
1:91
Drum hoeren sie ungern von sich das Wort `Verachtung`. So will ich
denn zu ihrem Stolze reden.
1:92
So will ich ihnen vom Veraechtlichsten sprechen: das aber ist
_der_letzte_Mensch_."
1:93
Und also sprach Zarathustra zum Volke:
1:94
Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an
der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner hoechsten Hoffnung pflanze.
1:95
Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm
und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen koennen.
1:96
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner
Sehnsucht ueber den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens
verlernt hat, zu schwirren!
1:97
Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden
Stern gebaeren zu koennen. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.
1:98
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebaeren
wird. Wehe! Es kommt die Weit des veraechtlichsten Menschen, der sich
selber nicht mehr verachten kann.
1:99
Seht! Ich zeige euch _den_letzten_Menschen_.
1:100
"Was ist Liebe? Was ist Schoepfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern"
- so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
1:101
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr huepft der letzte
Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie
der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am laengsten.
1:102
"Wir haben das Glueck erfunden" - sagen die letzten Menschen und
blinzeln.
1:103
Sie haben den Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man
braucht Waerme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn
man braucht Waerme.
1:104
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen suendhaft: man geht
achtsam einher. Ein Thor, der noch ueber Steine oder Menschen
stolpert!
1:105
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Traeume. Und viel Gift
zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
1:106
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt
dass die Unterhaltung nicht angreife.
1:107
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer
will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
1:108
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich:
wer anders fuehlt, geht freiwillig in's Irrenhaus.
1:109
"Ehemals war alle Welt irre" - sagen die Feinsten und blinzeln.
1:110
Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende
zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versoehnt sich bald - sonst
verdirbt es den Magen.
1:111
Man hat sein Luestchen fuer den Tag und sein Luestchen fuer die Nacht:
aber man ehrt die Gesundheit.
1:112
"Wir haben das Glueck erfunden" - sagen die letzten Menschen und
blinzeln -
1:113
Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche man auch "die
Vorrede" heisst: denn an dieser Stelle unterbrach ihn das Geschrei und
die Lust der Menge. "Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra,
- so riefen sie - mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken
wir dir den Uebermenschen!" Und alles Volk jubelte und schnalzte mit
der Zunge. Zarathustra aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen:
1:114
Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht den Mund fuer diese Ohren.
1:115
Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Baeche und
Baeume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten.
1:116
Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormittag. Aber
sie meinen, ich sei kalt und ein Spoetter in furchtbaren Spaessen.
1:117
Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen, hassen
sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen.
1:118
hp 6.
1:119
Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr
machte. Inzwischen naemlich hatte der Seiltaenzer sein Werk begonnen:
er war aus einer kleiner Thuer hinausgetreten und gieng ueber das
Seil, welches zwischen zwei Thuermen gespannt war, also, dass es ueber
dem Markte und dem Volke hieng. Als er eben in der Mitte seines Weges
war, oeffnete sich die kleine Thuer noch einmal, und ein bunter
Gesell, einem Possenreisser gleich, sprang heraus und gieng mit
schnellen Schritten dem Ersten nach. "Vorwaerts, Lahmfuss, rief
seine fuerchterliche Stimme, vorwaerts Faulthier, Schleichhaendler,
Bleichgesicht! Dass ich dich nicht mit meiner Ferse kitzle! Was
treibst du hier zwischen Thuermen? In den Thurm gehoerst du,
einsperren sollte man dich, einem Bessern, als du bist, sperrst du
die freie Bahn!" - Und mit jedem Worte kam er ihm naeher und naeher:
als er aber nur noch einen Schritt hinter ihm war, da geschah das
Erschreckliche, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte: - er
stiess ein Geschrei aus wie ein Teufel und sprang ueber Den hinweg,
der ihm im Wege war. Dieser aber, als er so seinen Nebenbuhler siegen
sah, verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und
schoss schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in
die Tiefe. Der Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm
hineinfaehrt: Alles floh aus einander und uebereinander, und am
meisten dort, wo der Koerper niederschlagen musste.
1:120
Zarathustra aber blieb stehen, und gerade neben ihn fiel der Koerper
hin, uebel zugerichtet und zerbrochen, aber noch nicht todt. Nach
einer Weile kam dem Zerschmetterten das Bewusstsein zurueck, und
er sah Zarathustra neben sich knieen. "Was machst du da? sagte er
endlich, ich wusste es lange, dass mir der Teufel ein Bein stellen
werde. Nun schleppt er mich zur Hoelle: willst du's ihm wehren?"
1:121
"Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra, das giebt es Alles
nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hoelle.
Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fuerchte nun
Nichts mehr!"
1:122
Der Mann blickte misstrauisch auf. "Wenn du die Wahrheit sprichst,
sagte er dann, so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verliere.
Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat,
durch Schlaege und schmale Bissen."
1:123
"Nicht doch, sprach Zarathustra; du hast aus der Gefahr deinen Beruf
gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf
zu Grunde: dafuer will ich dich mit meinen Haenden begraben."
1:124
Als Zarathustra diess gesagt hatte, antwortete der Sterbende nicht
mehr; aber er bewegte die Hand, wie als ob er die Hand Zarathustra's
zum Danke suche. -
1:125
hp 7.
1:126
Inzwischen kam der Abend, und der Markt barg sich in Dunkelheit: da
verlief sich das Volk, denn selbst Neugierde und Schrekken werde
muede. Zarathustra aber sass neben dem Todten auf der Erde und war
in Gedanken versunken: so vergass er die Zeit. Endlich aber wurde es
Nacht, und ein kalter Wind blies ueber den Einsamen. Da erhob sich
Zarathustra und sagte zu seinem Herzen:
1:127
Wahrlich, einen schoenen Fischfang that heute Zarathustra! Keinen
Menschen fieng er, wohl aber einen Leichnam.
1:128
Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn: ein
Possenreisser kann ihm zum Verhaengniss werden.
1:129
Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der
Uebermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.
1:130
Aber noch bin ich ihnen ferne, und mein Sinn redet nicht zu ihren
Sinnen. Eine Mitte bin ich noch den Menschen zwischen einem Narren und
einem Leichnam.
1:131
Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege Zarathustra's. Komm, du
kalter und steifer Gefaehrte! Ich trage dich dorthin, wo ich dich mit
meinen Haenden begrabe.
1:132
hp 8.
1:133
Als Zarathustra diess zu seinem Herzen gesagt hatte, lud er den
Leichnam auf seinem Ruecken und machte sich auf den Weg. Und noch
nicht war er hundert Schritte gegangen, da schlich ein Mensch an ihn
heran und fluesterte ihm in's Ohr - und siehe! Der, welcher redete,
war der Possenreisser vom Thurme. "Geh weg von dieser Stadt, oh
Zarathustra, sprach er; es hassen dich hier zu Viele. Es hassen
dich die Guten und Gerechten und sie nennen dich ihren Feind und
Veraechter; es hassen dich die Glaeubigen des rechten Glaubens,
und sie nennen dich die Gefahr der Menge. Dein Glueck war es, dass
man ueber dich lachte: und wahrlich, du redetest gleich einem
Possenreisser. Dein Glueck war es, dass du dich dem todten Hunde
geselltest; als du dich so erniedrigtest, hast du dich selber fuer
heute errettet. Geh aber fort aus dieser Stadt - oder morgen springe
ich ueber dich hinweg, ein Lebendiger ueber einen Todten." Und als
er diess gesagt hatte, verschwand der Mensch; Zarathustra aber gieng
weiter durch die dunklen Gassen.
1:134
Am Thore der Stadt begegneten ihm die Todtengraeber: sie leuchteten
ihm mit der Fackel in's Gesicht, erkannten Zarathustra und spotteten
sehr ueber ihn. "Zarathustra traegt den todten Hund davon: brav,
dass Zarathustra zum Todtengraeber wurde! Denn unsere Haende sind zu
reinlich fuer diesen Braten. Will Zarathustra wohl dem Teufel seinen
Bissen stehlen? Nun wohlan! Und gut Glueck zur Mahlzeit! Wenn nur
nicht der Teufel ein besserer Dieb ist, als Zarathustra! - er stiehlt
die Beide, er frisst sie Beide!" Und sie lachten mit einander und
steckten die Koepfe zusammen.
1:135
Zarathustra sagte dazu kein Wort und gieng seines Weges. Als er zwei
Stunden gegangen war, an Waeldern und Suempfen vorbei, da hatte er zu
viel das hungrige Geheul der Woelfe gehoert, und ihm selber kam der
Hunger. So blieb er an einem einsamen Hause stehn, in dem ein Licht
brannte.
1:136
Der Hunger ueberfaellt mich, sagte Zarathustra, wie ein Raeuber. In
Waeldern und Suempfen ueberfaellt mich mein Hunger und in tiefer
Nacht.
1:137
Wunderliche Launen hat mein Hunger. Oft kommt er mir erst nach der
Mahlzeit, und heute kam er den ganzen Tag nicht: wo weilte er doch?
1:138
Und damit schlug Zarathustra an das Thor des Hauses. Ein alter Mann
erschien; er trug das Licht und fragte: "Wer kommt zu mir und zu
meinem schlimmen Schlafe?"
1:139
"Ein Lebendiger und ein Todter, sagte Zarathustra. Gebt mir zu essen
und zu trinken, ich vergass es am Tage. Der, welcher den Hungrigen
speiset, erquickt seine eigene Seele: so spricht die Weisheit."
1:140
Der Alte gieng fort, kam aber gleich zurueck und bot Zarathustra Brod
und Wein. "Eine boese Gegend ist's fuer Hungernde, sagte er; darum
wohne ich hier. Thier und Mensch kommen zu mir, dem Einsiedler. Aber
heisse auch deinen Gefaehrten essen und trinken, er ist mueder als
du." Zarathustra antwortete: "Todt ist mein Gefaehrte, ich werde ihn
schwerlich dazu ueberreden." "Das geht mich Nichts an, sagte der Alte
muerrisch; wer an meinem Hause anklopft, muss auch nehmen, was ich ihm
biete. Esst und gehabt euch wohl!" -
1:141
Darauf gieng Zarathustra wieder zwei Stunden und vertraute dem Wege
und dem Lichte der Sterne: denn er war ein gewohnter Nachtgaenger und
liebte es, allem Schlafenden in's Gesicht zu sehn. Als aber der Morgen
graute, fand sich Zarathustra in einem tiefen Walde, und kein Weg
zeigte sich ihm mehr. Da legte er den Todten in einen hohlen Baum sich
zu Haeupten - denn er wollte ihn vor den Woelfen schuetzen - und sich
selber auf den Boden und das Moos. Und alsbald schlief er ein, mueden
Leibes, aber mit einer unbewegten Seele.
1:142
hp 9.
1:143
Lange schlief Zarathustra, und nicht nur die Morgenroethe gieng ueber
sein Antlitz, sondern auch der Vormittag. Endlich aber that sein Auge
sich auf: verwundert sah Zarathustra in den Wald und die Stille,
verwundert sah er in sich hinein. Dann erhob er sich schnell, wie ein
Seefahrer, der mit Einem Male Land sieht, und jauchzte: denn er sah
eine neue Wahrheit. Und also redete er dann zu seinem Herzen:
1:144
Ein Licht gieng mir auf: Gefaehrten brauche ich und lebendige, - nicht
todte Gefaehrten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will.
1:145
Sondern lebendige Gefaehrten brauche ich, die mir folgen, weil sie
sich selber folgen wollen - und dorthin, wo ich will.
1:146
Ein Licht gieng mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu
Gefaehrten! Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!
1:147
Viele wegzulocken von der Heerde - dazu kam ich. Zuernen soll mir Volk
und Heerde: Raeuber will Zarathustra den Hirten heissen.
1:148
Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten. Hirten
sage ich: aber sie nennen sich die Glaeubigen des rechten Glaubens.
1:149
Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisten? Den, der
zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: - das
aber ist der Schaffende.
1:150
Siehe die Glaeubigen aller Glauben! Wen hassen sie am meisten? Den,
der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: -
das aber ist der Schaffende.
1:151
Gefaehrten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht
Heerden und Glaeubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die,
welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben.
1:152
Gefaehrten sucht der Schaffende, und Miterntende: denn Alles steht bei
ihm reif zur Ernte. Aber ihm fehlen die hundert Sicheln: so rauft er
Aehren aus und ist aergerlich.
1:153
Gefaehrten sucht der Schaffende, und solche, die ihre Sicheln zu
wetzen wissen. Vernichter wird man sie heissen und Veraechter des
Guten und Boesen. Aber die Erntenden sind es und die Feiernden.
1:154
Mitschaffende sucht Zarathustra, Miterntende und Mitfeiernde sucht
Zarathustra: was hat er mit Heerden und Hirten und Leichnamen zu
schaffen!
1:155
Und du, mein erster Gefaehrte, gehab dich wohl! Gut begrub ich dich in
deinem hohlen Baume, gut barg ich dich vor den Woelfen.
1:156
Aber ich scheide von dir, die Zeit ist um. Zwischen Morgenroethe und
Morgenroethe kam mir eine neue Wahrheit.
1:157
Nicht Hirt soll ich sein, nicht Todtengraeber. Nicht reden einmal will
ich wieder mit dem Volke; zum letzten Male sprach ich zu einem Todten.
1:158
Den Schaffenden, den Erntenden, den Feiernden will ich mich
zugesellen: den Regenbogen will ich ihnen zeigen und alle die Treppen
des Uebermenschen.
1:159
Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern; und
wer noch Ohren hat fuer Unerhoertes, dem will ich sein Herz schwer
machen mit meinem Gluecke.
1:160
Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; ueber die Zoegernden
und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr
Untergang!
1:161
hp 10.
1:162
Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen gesprochen, als die Sonne
im Mittag stand: da blickte er fragend in die Hoehe - denn er hoerte
ueber sich den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe! Ein Adler zog in
weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht
einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um
seinen Hals geringelt.
1:163
"Es sind meine Thiere!" sagte Zarathustra und freute sich von Herzen.
1:164
"Das stolzeste Thier unter der Sonne und das kluegste Thier unter der
Sonne - sie sind ausgezogen auf Kundschaft.
1:165
Erkunden wollen sie, ob Zarathustra noch lebe. Wahrlich, lebe ich
noch?
1:166
Gefaehrlicher fand ich's unter Menschen als unter Thieren,
gefaehrlicher Wege geht Zarathustra. Moegen mich meine Thiere
fuehren!"
1:167
Als Zarathustra diess gesagt hatte, gedachte er der Worte des Heiligen
im Walde, seufzte und sprach also zu seinem Herzen:
1:168
Moechte ich klueger sein! Moechte ich klug von Grund aus sein, gleich
meiner Schlange!
1:169
Aber Unmoegliches bitte ich da: so bitte ich denn meinen Stolz, dass
er immer mit meiner Klugheit gehe!
1:170
Und wenn mich einst meine Klugheit verlaesst: - ach, sie liebt es,
davonzufliegen! - moege mein Stolz dann noch mit meiner Thorheit
fliegen!
1:171
- Also begann Zarathustra's Untergang.
1:172
Die Reden Zarathustra's
1:173
Von den drei Verwandlungen
1:174
Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum
Kamele wird, und zum Loewen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der
Loewe.
1:175
Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem
Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine
Staerke.
1:176
Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem
Kameele gleich, und will gut beladen sein.
1:177
Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsame Geist, dass
ich es auf mich nehme und meiner Staerke froh werde.
1:178
Ist es nicht das: sich erniedrigen, um seinem Hochmuth wehe zu thun?
Seine Thorheit leuchten lassen, um seiner Weisheit zu spotten?
1:179
Oder ist es das: von unserer Sache scheiden, wenn sie ihren Sieg
feiert? Auf hohe Berge steigen, um den Versucher zu versuchen?
1:180
Oder ist es das: sich von Eicheln und Gras der Erkenntniss naehren und
um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden?
1:181
Oder ist es das: krank sein und die Troester heimschicken und mit
Tauben Freundschaft schliessen, die niemals hoeren, was du willst?
1:182
Oder ist es das: in schmutziges Wasser steigen, wenn es das Wasser der
Wahrheit ist, und kalte Froesche und heisse Kroeten nicht von sich
weisen?
1:183
Oder ist es das: Die lieben, die uns verachten, und dem Gespenste die
Hand reichen, wenn es uns fuerchten machen will?
1:184
Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kameele
gleich, das beladen in die Wueste eilt, also eilt er in seine Wueste.
1:185
Aber in der einsamsten Wueste geschieht die zweite Verwandlung: zum
Loewen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr
sein in seiner eignen Wueste.
1:186
Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er ihm werden und
seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem grossen Drachen ringen.
1:187
Welches ist der grosse Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott
heissen mag? "Du-sollst" heisst der grosse Drache. Aber der Geist des
Loewen sagt "Ich will".
1:188
"Du-sollst" liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein Schuppenthier, und
auf jeder Schuppe glaenzt golden "Du-sollst!"
1:189
Tausendjaehrige Werthe glaenzen an diesen Schuppen, und also spricht
der maechtigste aller Drachen "aller Werth der Dinge - der glaenzt an
mir."
1:190
"Aller Werth ward schon geschaffen, und aller geschaffene Werth - das
bin ich. Wahrlich, es soll kein `Ich will` mehr geben!" Also spricht
der Drache.
1:191
Meine Brueder, wozu bedarf es des Loewen im Geiste? Was genuegt nicht
das lastbare Thier, das entsagt und ehrfuerchtig ist?
1:192
Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Loewe noch nicht: aber
Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des
Loewen.
1:193
Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht:
dazu, meine Brueder bedarf es des Loewen.
1:194
Recht sich nehmen zu neuen Werthen - das ist das furchtbarste Nehmen
fuer einen tragsamen und ehrfuerchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben
ist es ihm und eines raubenden Thieres Sache.
1:195
Als sein Heiligstes liebte er einst das "Du-sollst": nun muss er Wahn
und Willkuer auch noch im Heiligsten finden, dass er sich Freiheit
raube von seiner Liebe: des Loewen bedarf es zu diesem Raube.
1:196
Aber sagt, meine Brueder, was vermag noch das Kind, das auch der Loewe
nicht vermochte? Was muss der raubende Loewe auch noch zum Kinde
werden?
1:197
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein
aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
1:198
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brueder, bedarf es eines heiligen
Ja-sagens: _seinen_ Willen will nun der Geist, _seine_ Welt gewinnt
sich der Weltverlorene.
1:199
Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist zum
Kameele ward, und zum Loewen das Kameel, und der Loewe zuletzt zum
Kinde. --
1:200
Also sprach Zarathustra. Und damals weilte er in der Stadt, welche
genannt wird: die bunte Kuh.
1:201
Von den Lehrstuehlen der Tugend
1:202
Man ruehmte Zarathustra einen Weisen, der gut vom Schlafe und von
der Tugend zu reden wisse: sehr werde er geehrt und gelohnt dafuer,
und alle Juenglinge saessen vor seinem Lehrstuhle. Zu ihm gieng
Zarathustra, und mit allen Juenglingen sass er vor seinem Lehrstuhle.
Und also sprach der Weise:
1:203
Ehre und Scham vor dem Schlafe! Das ist das Erste! Und Allen aus dem
Wege gehn, die schlecht schlafen und Nachts wachen!
1:204
Schamhaft ist noch der Dieb vor dem Schlafe: stets stiehlt er sich
leise durch die Nacht. Schamlos aber ist der Waechter der Nacht,
schamlos traegt er sein Horn.
1:205
Keine geringe Kunst ist schlafen: es thut schon Noth, den ganzen Tag
darauf hin zu wachen.
1:206
Zehn Mal musst du des Tages dich selber ueberwinden: das macht eine
gute Muedigkeit und ist Mohn der Seele.
1:207
Zehn Mal musst du dich wieder dir selber versoehnen; denn Ueberwindung
ist Bitterniss, und schlecht schlaeft der Unversoehnte.
1:208
Zehn Wahrheiten musst du des Tages finden: sonst suchst du noch des
Nachts nach Wahrheit, und deine Seele blieb hungrig.
1:209
Zehn Mal musst du lachen am Tage und heiter sein: sonst stoert dich
der Magen in der Nacht, dieser Vater der Truebsal.
1:210
Wenige wissen das: aber man muss alle Tugenden haben, um gut zu
schlafen. Werde ich falsch Zeugniss reden? Werde ich ehebrechen?
1:211
Werde ich mich geluesten lassen meines Naechsten Magd? Das Alles
vertruege sich schlecht mit gutem Schlafe.
1:212
Und selbst wenn man alle Tugenden hat, muss man sich noch auf Eins
verstehn: selber die Tugenden zur rechten Zeit schlafen schicken.
1:213
Dass sie sich nicht mit einander zanken, die artigen Weiblein! Und
ueber dich, du Unglueckseliger!
1:214
Friede mit Gott und dem Nachbar: so will es der gute Schlaf. Und
Friede auch noch mit des Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des
Nachts um.
1:215
Ehre der Obrigkeit und Gehorsam, und auch der krummen Obrigkeit! So
will es der gute Schlaf. Was kann ich dafuer, dass die Macht gerne auf
krummen Beinen Wandelt?
1:216
Der soll mir immer der beste Hirt heissen, der sein Schaf auf die
gruenste Aue fuehrt: so vertraegt es sich mit dem gutem Schlafe.
1:217
Viel Ehren will ich nicht, noch grosse Schaetze: das entzuendet die
Milz. Aber schlecht schlaeft es sich ohne einen guten Namen und einen
kleinen Schatz.
1:218
Eine kleine Gesellschaft ist mir willkommener als eine boese: doch
muss sie gehn und kommen zur rechten Zeit. So vertraegt es sich mit
gutem Schlafe.
1:219
Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen: sie foerdern den Schlaf.
Selig sind die, sonderlich, wenn man ihnen immer Recht giebt.
1:220
Also laeuft der Tag dem Tugendsamen. Kommt nun die Nacht, so huete
ich mich wohl, den Schlaf zu rufen! Nicht will er gerufen sein, der
Schlaf, der der Herr der Tugenden ist!
1:221
Sondern ich denke, was ich des Tages gethan und gedacht. Wiederkaeuend
frage ich mich, geduldsam gleich einer Kuh: welches waren doch deine
zehn Ueberwindungen?
1:222
Und welches waren die zehn Versoehnungen und die zehn Wahrheiten und
die zehn Gelaechter, mit denen sich mein Herz guetlich that?
1:223
Solcherlei erwaegend und gewiegt von vierzig Gedanken, ueberfaellt
mich auf einmal der Schlaf, der Ungerufne, der Herr der Tugenden.
1:224
Der Schlaf klopft mir auf meine Auge: da wird es schwer. Der Schlaf
beruehrt mir den Mund: da bleibt er offen.
1:225
Wahrlich, auf weichen Sohlen kommt er mir, der liebste der Diebe, und
stiehlt mir meine Gedanken: dumm stehe ich da wie dieser Lehrstuhl.
1:226
Aber nicht lange mehr stehe ich dann: da liege ich schon. -
1:227
Als Zarathustra den Weisen also sprechen hoerte, lachte er bei sich im
Herzen: denn ihm war dabei ein Licht aufgegangen. Und also sprach er
zu seinem Herzen:
1:228
Ein Narr ist mir dieser Weise da mit seinen vierzig Gedanken: aber ich
glaube, dass er sich wohl auf das Schlafen versteht.
1:229
Gluecklich schon, wer in der Naehe dieses Weisen wohnt! Solch ein
Schlaf steckt an, noch durch eine dicke Wand hindurch steckt er an.
1:230
Ein Zauber wohnt selbst in seinem Lehrstuhle. Und nicht vergebens
sassen die Juenglinge vor dem Prediger der Tugend.
1:231
Seine Weisheit heisst: wachen, um gut zu schlafen. Und wahrlich,
haette das Leben keinen Sinn und muesste ich Unsinn waehlen, so waere
auch mir diess der waehlenswuerdigste Unsinn.
1:232
Jetzo verstehe ich klar, was einst man vor Allem suchte, wenn man
Lehrer der Tugend suchte. Guten Schlaf suchte man sich und mohnblumige
Tugenden dazu!
1:233
Allen diesen gelobten Weisen der Lehrstuehle war Weisheit der Schlaf
ohne Traeume: sie kannten keinen bessern Sinn des Lebens.
1:234
Auch noch heute wohl giebt es Einige, wie diesen Prediger der Tugend,
und nicht immer so Ehrliche: aber ihre Zeit ist um. Und nicht mehr
lange stehen sie noch: da liegen sie schon.
1:235
Selig sind diese Schlaefrigen: denn sie sollen bald einnicken. -
1:236
Also sprach Zarathustra.
1:237
Von den Hinterweltlern
1:238
Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich
allen Hinterweltlern. Eines leidenden und zerquaelten Gottes Werk
schien mir da die Welt.
1:239
Traum schien mir da die Welt und Dichtung eines Gottes; farbiger Rauch
vor den Augen eines goettlich Unzufriednen.
1:240
Gut und boese und Lust und Leid und Ich und Du - farbiger Rauch
duenkte mich's vor schoepferischen Augen. Wegsehn wollte der Schoepfer
von sich, - da schuf er die Welt.
1:241
Trunkne Lust ist's dem Leidenden, wegzusehn von seinem Leiden und sich
zu verlieren. Trunkne Lust Und Selbst-sich-Verlieren duenkte mich
einst die Welt.
1:242
Diese Welt, die ewig unvollkommene, eines ewigen Widerspruches Abbild
und unvollkommnes Abbild - eine trunkne Lust ihrem unvollkommnen
Schoepfer: - also duenkte mich einst die Welt.
1:243
Also warf auch ich einst meinen Wahn jenseits des Menschen, gleich
allen Hinterweltlern. Jenseits des Menschen in Wahrheit?
1:244
Ach, ihr Brueder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und
-Wahnsinn, gleich allen Goettern!
1:245
Mensch war er, und nur ein armes Stueck Mensch und Ich: aus der
eigenen Asche und Gluth kam es mir, dieses Gespenst, und wahrlich!
Nicht kam es mir von Jenseits!
1:246
Was geschah, meine Brueder? Ich ueberwand mich, den Leidenden, ich
trug meine eigne Asche zu Berge, eine hellere Flamme erfand ich mir.
Und siehe! Da _wich_ das Gespenst von mir!
1:247
Leiden waere es mir jetzt und Qual dem Genesenen, solche Gespenster zu
glauben: Leiden waere es mir jetzt und Erniedrigung. Also rede ich zu
den Hinterweltlern.
1:248
Leiden war's und Unvermoegen - das schuf alle Hinterwelten; und jener
kurze Wahnsinn des Gluecks, den nur der Leidendste erfaehrt.
1:249
Muedigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem
Todessprunge, eine arme unwissende Muedigkeit, die nicht einmal mehr
wollen will: die schuf alle Goetter und Hinterwelten.
1:250
Glaubt es mir, meine Brueder! Der Leib war's, der am Leibe
verzweifelte, - der tastete mit den Fingern des bethoerten Geistes an
die letzten Waende.
1:251
Glaubt es mir, meine Brueder! Der Leib war's, der an der Erde
verzweifelte, - der hoerte den Bauch des Seins zu sich reden.
1:252
Und da wollte er mit dem Kopfe durch die letzten Waende, und nicht nur
mit dem Kopfe, - hinueber zu "jener Welt".
1:253
Aber "jene Welt" ist gut verborgen vor dem Menschen, jene entmenschte
unmenschliche Welt, die ein himmlisches Nichts ist; und der Bauch des
Seins redet gar nicht zum Menschen, es sei denn als Mensch.
1:254
Wahrlich, schwer zu beweisen ist alles Sein und schwer zum Reden zu
bringen. Sagt mir, ihr Brueder, ist nicht das Wunderlichste aller
Dinge noch am besten bewiesen?
1:255
Ja, diess Ich und des Ich's Widerspruch und Wirrsal redet noch am
redlichsten von seinem Sein, dieses schaffende, wollende, werthende
Ich, welches das Maass und der Werth der Dinge ist.
1:256
Und diess redlichste Sein, das Ich - das redet vom Leibe, und es
will noch den Leib, selbst wenn es dichtet und schwaermt und mit
zerbrochnen Fluegeln flattert.
1:257
Immer redlicher lernt es reden, das Ich: und je mehr es lernt, um so
mehr findet es Worte und Ehren fuer Leib und Erde.
1:258
Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen:
- nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken,
sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn
schafft!
1:259
Einen neuen Willen lehre ich die Menschen: diesen Weg wollen, den
blindlings der Mensch gegangen, und gut ihn heissen und nicht mehr von
ihm bei Seite schleichen, gleich den Kranken und Absterbenden!
1:260
Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und
erfanden das Himmlische und die erloesenden Blutstropfen: aber auch
noch diese suessen und duestern Gifte nahmen sie von Leib und Erde!
1:261
Ihrem Elende wollten sie entlaufen, und die Sterne waren ihnen zu
weit. Da seufzten sie: "Oh dass es doch himmlische Wege gaebe, sich in
ein andres Sein und Glueck zu schleichen!" - da erfanden sie sich ihre
Schliche und blutigen Traenklein!
1:262
Ihrem Leibe und dieser Erde nun entrueckt waehnten sie sich, diese
Undankbaren. Doch wem dankten sie ihrer Entrueckung Krampf und Wonne?
Ihrem Leibe und dieser Erde.
1:263
Milde ist Zarathustra den Kranken. Wahrlich, er zuernt nicht ihren
Arten des Trostes und Undanks. Moegen sie Genesende werden und
Ueberwindende und einen hoeheren Leib sich schaffen!
1:264
Nicht auch zuernt Zarathustra dem Genesenden, wenn er zaertlich
nach seinem Wahne blickt und Mitternachts um das Grab seines Gottes
schleicht: aber Krankheit und kranker Leib bleiben mir auch seine
Thraenen noch.
1:265
Vieles krankhafte Volk gab es immer unter Denen, welche dichten und
gottsuechtig sind; wuethend hassen sie den Erkennenden und jene
juengste der Tugenden, welche heisst: Redlichkeit.
1:266
Rueckwaerts blicken sie immer nach dunklen Zeiten: da freilich
war Wahn und Glaube ein ander Ding; Raserei der Vernunft war
Gottaehnlichkeit, und Zweifel Suende.
1:267
Allzugut kenne ich diese Gottaehnlichen: sie wollen, dass an sie
geglaubt werde, und Zweifel Suende sei. Allzugut weiss ich auch, woran
sie selber am besten glauben.
1:268
Wahrlich nicht an Hinterwelten und erloesende Blutstropfen: sondern an
den Leib glauben auch sie am besten, und ihr eigener Leib ist ihnen
ihr Ding an sich.
1:269
Aber ein krankhaftes Ding ist er ihnen: und gerne moechten sie aus
der Haut fahren. Darum horchen sie nach den Predigern des Todes und
predigen selber Hinterwelten.
1:270
Hoert mir lieber, meine Brueder, auf die Stimme des gesunden Leibes:
eine redlichere und reinere Simme ist diess.
1:271
Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommne und
rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde.
1:272
Also sprach Zarathustra.
1:273
Von den Veraechtern des Leibes
1:274
Den Veraechtern des Leibes will ich mein Wort sagen. Nicht umlernen
und umlehren sollen sie mir, sondern nur ihrem eignen Leibe Lebewohl
sagen - und also stumm werden.
1:275
"Leib bin ich und Seele" - so redet das Kind. Und warum sollte man
nicht wie die Kinder reden?
1:276
Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und
Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort fuer ein Etwas am Leibe.
1:277
Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein
Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.
1:278
Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder,
die du "Geist" nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen
Vernunft.
1:279
"Ich" sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Groessere ist,
woran du nicht glauben willst, - dein Leib und seine grosse Vernunft:
die sagt nicht Ich, aber thut Ich.
1:280
Was der Sinn fuehlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich
sein Ende. Aber Sinn und Geist moechten dich ueberreden, sie seien
aller Dinge Ende: so eitel sind sie.
1:281
Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das
Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch
mit den Ohren des Geistes.
1:282
Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert,
zerstoert. Es herrscht und ist auch des Ich's Beherrscher.
1:283
Hinter deinen Gedanken und Gefuehlen, mein Bruder, steht ein
maechtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heisst Selbst. In
deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.
1:284
Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit.
Und wer weiss denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit noethig
hat?
1:285
Dein Selbst lacht ueber dein Ich und seine stolzen Spruenge. "Was sind
mir diese Spruenge und Fluege des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg
zu meinem Zwecke. Ich bin das Gaengelband des Ich's und der Einblaeser
seiner Begriffe."
1:286
Das Selbst sagt zum Ich: "hier fuehle Schmerz!" Und da leidet es und
denkt nach, wie es nicht mehr leide - und dazu eben _soll_ es denken.
1:287
Das Selbst sagt zum Ich: "hier fuehle Lust!" Da freut es sich und
denkt nach, wie es noch oft sich freue - und dazu eben _soll_ es
denken.
1:288
Den Veraechtern des Leibes will ich ein Wort sagen. Dass sie
verachten, das macht ihr Achten. Was ist es, das Achten und Verachten
und Werth und Willen schuf?
1:289
Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich
Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand
seines Willens.
1:290
Noch in eurer Thorheit und Verachtung, ihr Veraechter des Leibes,
dient ihr eurem Selbst. Ich sage euch: euer Selbst selber will sterben
und kehrt sich vom Leben ab.
1:291
Nicht mehr vermag es das, was es am liebsten wilI: - ueber sich hinaus
zu schaffen. Das will es am liebsten, das ist seine ganze Inbrunst.
1:292
Aber zu spaet ward es ihm jetzt dafuer: - so will euer Selbst
untergehn, ihr Veraechter des Leibes.
1:293
Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet ihr zu Veraechtern des
Leibes! Denn nicht mehr vermoegt ihr ueber euch hinaus zu schaffen.
1:294
Und darum zuernt ihr nun dem Leben und der Erde. Ein ungewusster Neid
ist im scheelen Blick eurer Verachtung.
1:295
Ich gehe nicht euren Weg, ihr Veraechter des Leibes! Ihr seid mir
keine Bruecken zum Uebermenschen! -
1:296
Also sprach Zarathustra.
1:297
Von den Freuden- und Leidenschaften
1:298
Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist, so
hast du sie mit Niemandem gemeinsam.
1:299
Freilich, du willst sie bei Namen nennen und liebkosen; du willst sie
am Ohre zupfen und Kurzweil mit ihr treiben.
1:300
Und siehe! Nun hast du ihren Namen mit dem Volke gemeinsam und bist
Volk und Heerde geworden mit deiner Tugend!
1:301
Besser thaetest du, zu sagen: "unaussprechbar ist und namenlos, was
meiner Seele Qual und Suesse macht und auch noch der Hunger meiner
Eingeweide ist."
1:302
Deine Tugend sei zu hoch fuer die Vertraulichkeit der Namen: und musst
du von ihr reden, so schaeme dich nicht, von ihr zu stammeln.
1:303
So sprich und stammle: "Das ist _mein_ Gutes, das liebe ich, so
gefaellt es mir ganz, so allein will ich das Gute.
1:304
Nicht will ich es als eines Gottes Gesetz, nicht will ich es als
eine Menschen-Satzung und -Nothdurft: kein Wegweiser sei es mir fuer
Ueber-Erden und Paradiese.
1:305
Eine irdische Tugend ist es, die ich liebe: wenig Klugheit ist darin
und am wenigsten die Vernunft Aller.
1:306
Aber dieser Vogel baute bei mir sich das Nest: darum liebe und herze
ich ihn, - nun sitze er bei mir auf seinen goldnen Eiern."
1:307
So sollst du stammeln und deine Tugend loben.
1:308
Einst hattest du Leidenschaften und nanntest sie boese. Aber
jetzt hast du nur noch deine Tugenden: die wuchsen aus deinen
Leidenschaften.
1:309
Du legtest dein hoechstes Ziel diesen Leidenschaften an's Herz: da
wurden sie deine Tugenden und Freudenschaften.
1:310
Und ob du aus dem Geschlechte der Jaehzornigen waerest oder aus dem
der Wolluestigen oder der Glaubens-Wuethigen oder der Rachsuechtigen:
1:311
Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine
Teufel zu Engeln.
1:312
Einst hattest du wilde Hunde in deinem Keller: aber am Ende
verwandelten sie sich zu Voegeln und lieblichen Saengerinnen.
1:313
Aus deinen Giften brautest du dir deinen Balsam; deine Kuh Truebsal
melktest du, - nun trinkst du die suesse Milch ihres Euters.
1:314
Und nichts Boeses waechst mehr fuerderhin aus dir, es sei denn das
Boese, das aus dem Kampfe deiner Tugenden waechst.
1:315
Mein Bruder, wenn du Glueck hast, so hast du Eine Tugend und nicht
mehr: so gehst du leichter ueber die Bruecke.
1:316
Auszeichnend ist es, viele Tugenden zu haben, aber ein schweres Loos;
und Mancher gieng in die Wueste und toedtete sich, weil er muede war,
Schlacht und Schlachtfeld von Tugenden zu sein.
1:317
Mein Bruder, ist Krieg und Schlacht boese? Aber nothwendig ist diess
Boese, nothwendig ist der Neid und das Misstrauen und die Verleumdung
unter deinen Tugenden.
1:318
Siehe, wie jede deiner Tugenden begehrlich ist nach dem Hoechsten: sie
will deinen ganzen Geist, dass er _ihr_ Herold sei, sie will deine
ganze Kraft in Zorn, Hass und Liebe.
1:319
Eifersuechtig ist jede Tugend auf die andre, und ein furchtbares Ding
ist Eifersucht. Auch Tugenden koennen an der Eifersucht zu Grunde
gehn.
1:320
Wen die Flamme der Eifersucht umringt, der wendet zuletzt, gleich dem
Scorpione, gegen sich selber den vergifteten Stachel.
1:321
Ach, mein Bruder, sahst du noch nie eine Tugend sich selber verleumden
und erstechen?
1:322
Der Mensch ist Etwas, das ueberwunden werden muss: und darum sollst du
deine Tugenden lieben, - denn du wirst an ihnen zu Grunde gehn. -
1:323
Also sprach Zarathustra.
1:324
Vom bleichen Verbrecher
1:325
Ihr wollt nicht toedten, ihr Richter und Opferer, bevor das Thier
nicht genickt hat? Seht, der bleiche Verbrecher hat genickt: aus
seinem Auge redet die grosse Verachtung.
1:326
"Mein Ich ist Etwas, das ueberwunden werden soll: mein Ich ist mir die
grosse Verachtung des Menschen": so redet es aus diesem Auge.
1:327
Dass er sich selber richtete, war sein hoechster Augenblick: lasst den
Erhabenen nicht wieder zurueck in sein Niederes!
1:328
Es giebt keine Erloesung fuer Den, der so an sich selber leidet, es
sei denn der schnelle Tod.
1:329
Euer Toedten, ihr Richter, soll ein Mitleid sein und keine Rache. Und
indem ihr toedtet, seht zu, dass ihr selber das Leben rechtfertiget!
1:330
Es ist nicht genug, dass ihr euch mit Dem versoehnt, den ihr toedtet.
Eure Traurigkeit sei Liebe zum Uebermenschen: so rechtfertigt ihr euer
Noch-Leben!
1:331
"Feind" sollt ihr sagen, aber nicht "Boesewicht"; "Kranker" sollt
ihr sagen, aber nicht "Schuft"; "Thor" sollt ihr sagen, aber nicht
"Suender".
1:332
Und du, rother Richter, wenn du laut sagen wolltest, was du Alles
schon in Gedanken gethan hast: so wuerde Jedermann schreien: "Weg mit
diesem Unflath und Giftwurm!"
1:333
Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes die That, ein Anderes
das Bild der That. Das Rad des Grundes rollt nicht wischen ihnen.
1:334
Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich. Gleichwuechsig war er
seiner That, als er sie that: aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie
gethan war.
1:335
Immer sah er sich nun als Einer That Thaeter. Wahnsinn heisse ich
diess: die Ausnahme verkehrte sich ihm zum Wesen.
1:336
Der Strich bannt die Henne; der Streich, den er fuehrte, bannte seine
arme Vernunft - den Wahnsinn _nach_ der That heisse ich diess.
1:337
Hoert, ihr Richter! Einen anderen Wahnsinn giebt es noch: und der ist
vor der That. Ach, ihr krocht mir nicht tief genug in diese Seele!
1:338
So spricht der rothe Richter: "was mordete doch dieser Verbrecher? Er
wollte rauben." Aber ich sage euch: seine Seele wollte Blut, nicht
Raub: er duerstete nach dem Glueck des Messers!
1:339
Seine arme Vernunft aber begriff diesen Wahnsinn nicht und ueberredete
ihn. "Was liegt an Blut! sprach sie; willst du nicht zum mindesten
einen Raub dabei machen? Eine Rache nehmen?"
1:340
Und er horchte auf seine arme Vernunft: wie Blei lag ihre Rede auf
ihm, - da raubte er, als er mordete. Er wollte sich nicht seines
Wahnsinns schaemen.
1:341
Und nun wieder liegt das Blei seiner Schuld auf ihm, und wieder ist
seine arme Vernunft so steif, so gelaehmt, so schwer.
1:342
Wenn er nur den Kopf schuetteln koennte, so wuerde seine Last
herabrollen: aber wer schuettelt diesen Kopf?
1:343
Was ist dieser Mensch? Ein Haufen von Krankheiten, welche durch den
Geist in die Welt hinausgreifen: da wollen sie ihre Beute machen.
1:344
Was ist dieser Mensch? Ein Knaeuel wilder Schlangen, welche selten bei
einander Ruhe haben, - da gehn sie fuer sich fort und suchen Beute in
der Welt.
1:345
Seht diesen armen Leib! Was er litt und begehrte, das deutete sich
diese arme Seele, - sie deutete es als moerderische Lust und Gier nach
dem Glueck des Messers.
1:346
Wer jetzt krank wird, den ueberfaellt das Boese, das jetzt boese ist:
wehe will er thun, mit dem, was ihm wehe thut. Aber es gab andre
Zeiten und ein andres Boeses und Gutes.
1:347
Einst war der Zweifel boese und der Wille zum Selbst. Damals wurde der
Kranke zum Ketzer und zur Hege: als Ketzer und Hexe litt er und wollte
leiden machen.
1:348
Aber diess will nicht in eure Ohren: euren Guten schade es, sagt ihr
mir. Aber was liegt mir an euren Guten!
1:349
Vieles an euren Guten macht mir Ekel, und wahrlich nicht ihr Boeses.
Wollte ich doch, sie haetten einen Wahnsinn, an dem sie zu Grunde
giengen, gleich diesem bleichen Verbrecher!
1:350
Wahrlich, ich wollte, ihr Wahnsinn hiesse Wahrheit oder Treue oder
Gerechtigkeit: aber sie haben ihre Tugend, um lange zu leben und in
einem erbaermlichen Behagen.
1:351
Ich bin ein Gelaender am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann!
Eure Kruecke aber bin ich nicht. -
1:352
Also sprach Zarathustra.
1:353
Vom Lesen und Schreiben
1:354
Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute
schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist
ist.
1:355
Es ist nicht leicht moeglich, fremdes Blut zu verstehen: ich hasse die
lesenden Muessiggaenger.
1:356
Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr fuer den Leser. Noch ein
Jahrhundert Leser - und der Geist selber wird stinken.
1:357
Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein
das Schreiben, sondern auch das Denken.
1:358
Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er
gar noch Poebel.
1:359
Wer in Blut und Spruechen schreibt, der will nicht gelesen, sondern
auswendig gelernt werden.
1:360
Im Gebirge ist der naechste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst
du lange Beine haben. Sprueche sollen Gipfel sein: und Die, zu denen
gesprochen wird, Grosse und Hochwuechsige.
1:361
Die Luft duenn und rein, die Gefahr nahe und der Geist voll einer
froehlichen Bosheit: so passt es gut zu einander.
1:362
Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin muthig. Muth, der die
Gespenster verscheucht, schafft sich selber Kobolde, - der Muth will
lachen.
1:363
Ich empfinde nicht mehr mit euch: diese Wolke, die ich unter mir sehe,
diese Schwaerze und Schwere, ueber die ich lache, - gerade das ist
eure Gewitterwolke.
1:364
Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe
hinab, weil ich erhoben bin.
1:365
Wer von euch kann zugleich lachen und erhoben sein?
1:366
Wer auf den hoechsten Bergen steigt, der lacht ueber alle
Trauer-Spiele und Trauer-Ernste.
1:367
Muthig, unbekuemmert, spoettisch, gewaltthaetig - so will uns die
Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.
1:368
Ihr sagt mir: "das Leben ist schwer zu tragen." Aber wozu haettet ihr
Vormittags euren Stolz und Abends eure Ergebung?
1:369
Das Leben ist schwer zu tragen: aber so thut mir doch nicht so
zaertlich! Wir sind allesammt huebsche lastbare Esel und Eselinnen.
1:370
Was haben wir gemein mit der Rosenknospe, welche zittert, weil ihr ein
Tropfen Thau auf dem Leibe liegt?
1:371
Es ist wahr: wir lieben das Leben, nicht, weil wir an's Leben, sondern
weil wir an's Lieben gewoehnt sind.
1:372
Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber immer auch etwas
Vernunft im Wahnsinn.
1:373
Und auch mir, der ich dem Leben gut bin, scheinen Schmetterlinge und
Seifenblasen und was ihrer Art unter Menschen ist, am meisten vom
Gluecke zu wissen.
1:374
Diese leichten thoerichten zierlichen beweglichen Seelchen flattern zu
sehen - das verfuehrt Zarathustra zu Thraenen und Liedern.
1:375
Ich wuerde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstuende.
1:376
Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gruendlich,
tief, feierlich: es war der Geist der Schwere, - durch ihn fallen alle
Dinge.
1:377
Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen toedtet man. Auf, lasst uns den
Geist der Schwere toedten!
1:378
Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen. Ich habe
fliegen gelernt: seitdem will ich nicht erst gestossen sein, um von
der Stelle zu kommen.
1:379
Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir,
jetzt tanzt ein Gott durch mich.
1:380
Also sprach Zarathustra.
1:381
Vom Baum am Berge
1:382
Zarathustra's Auge hatte gesehn, dass ein Juengling ihm auswich. Und
als er eines Abends allein durch die Berge gieng, welche die Stadt
umschliessen, die genannt wird "die bunte Kuh": siehe, da fand er im
Gehen diesen Juengling, wie er an einen Baum gelehnt sass und mueden
Blickes in das Thal schaute. Zarathustra fasste den Baum an, bei
welchem der Juengling sass, und sprach also:
1:383
Wenn ich diesen Baum da mit meinen Haenden schuetteln wollte, ich
wuerde es nicht vermoegen.
1:384
Aber der Wind, den wir nicht sehen, der quaelt und biegt ihn, wohin er
will. Wir werden am schlimmsten von unsichtbaren Haenden gebogen und
gequaelt.
1:385
Da erhob sich der Juengling bestuerzt und sagte: "ich hoere
Zarathustra und eben dachte ich an ihn." Zarathustra entgegnete:
1:386
"Was erschrickst du desshalb? - Aber es ist mit dem Menschen wie mit
dem Baume.
1:387
Je mehr er hinauf in die Hoehe und Helle will, um so staerker streben
seine Wurzeln erdwaerts, abwaerts, in's Dunkle, Tiefe, - in's Boese."
1:388
"Ja in's Boese! rief der Juengling. Wie ist es moeglich, dass du meine
Seele entdecktest?"
1:389
Zarathustra laechelte und sprach: "Manche Seele wird man nie
entdecken, es sei denn, dass man sie zuerst erfindet." "Ja in's Boese!
rief der Juengling nochmals.
1:390
Du sagtest die Wahrheit, Zarathustra. Ich traue mir selber nicht mehr,
seitdem ich in die Hoehe will, und Niemand traut mir mehr, - wie
geschieht diess doch?
1:391
Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein Gestern. Ich
ueberspringe oft die Stufen, wenn ich steige, - das verzeiht mir keine
Stufe.
1:392
Bin ich oben, so finde ich mich immer allein. Niemand redet mit mir,
der Frost der Einsamkeit macht mich zittern. Was will ich doch in der
Hoehe?
1:393
Meine Verachtung und meine Sehnsucht wachsen mit einander; je hoeher
ich steige, um so mehr verachte ich Den, der steigt. Was will er doch
in der Hoehe?
1:394
Wie schaeme ich mich meines Steigens und Stolperns! Wie spotte ich
meines heftigen Schnaubens! Wie hasse ich den Fliegenden! Wie muede
bin ich in der Hoehe!"
1:395
Hier schwieg der Juengling. Und Zarathustra betrachtete den Baum, an
dem sie standen, und sprach also:
1:396
Dieser Baum steht einsam hier am Gebirge; er wuchs hoch hinweg ueber
Mensch und Thier.
1:397
Und wenn er reden wollte, er wuerde Niemanden haben, der ihn
verstuende: so hoch wuchs er.
1:398
Nun wartet er und wartet, - worauf wartet er doch? Er wohnt dem Sitze
der Wolken zu nahe: er wartet wohl auf den ersten Blitz?
1:399
Als Zarathustra diess gesagt hatte, rief der Juengling mit heftigen
Gebaerden: "Ja, Zarathustra, du sprichst die Wahrheit. Nach meinem
Untergange verlangte ich, als ich in die Hoehe wollte, und du bist der
Blitz, auf den ich wartete! Siehe, was bin ich noch, seitdem du uns
erschienen bist? Der _Neid_ auf dich ist's, der mich zerstoert hat!" -
So sprach der Juengling und weinte bitterlich. Zarathustra aber legte
seinen Arm um ihn und fuehrte ihn mit sich fort.
1:400
Und als sie eine Weile mit einander gegangen waren, hob Zarathustra
also an zu sprechen:
1:401
Es zerreisst mir das Herz. Besser als deine Worte es sagen, sagt mir
dein Auge alle deine Gefahr.
1:402
Noch bist du nicht frei, du _suchst_ noch nach Freiheit. Uebernaechtig
machte dich dein Suchen und ueberwach.
1:403
In die freie Hoehe willst du, nach Sternen duerstet deine Seele. Aber
auch deine schlimmen Triebe duersten nach Freiheit.
1:404
Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie bellen vor Lust in
ihrem Keller, wenn dein Geist alle Gefaengnisse zu loesen trachtet.
1:405
Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit ersinnt: ach, klug
wird solchen Gefangnen die Seele, aber auch arglistig und schlecht.
1:406
Reinigen muss sich noch der Befreite des Geistes. Viel Gefaengniss und
Moder ist noch in ihm zurueck: rein muss noch sein Auge werden.
1:407
Ja, ich kenne deine Gefahr. Aber bei meiner Liebe und Hoffnung
beschwoere ich dich: wirf deine Liebe und Hoffnung nicht weg!
1:408
Edel fuehlst du dich noch, und edel fuehlen dich auch die Andern noch,
die dir gram sind und boese Blicke senden. Wisse, dass Allen ein Edler
im Wege steht.
1:409
Auch den Guten steht ein Edler im Wege: und selbst wenn sie ihn einen
Guten nennen, so wollen sie ihn damit bei Seite bringen.
1:410
Neues will der Edle schaffen und eine neue Tugend. Altes will der
Gute, und dass Altes erhalten bleibe.
1:411
Aber nicht das ist die Gefahr des Edlen, dass er ein Guter werde,
sondern ein Frecher, ein Hoehnender, ein Vernichter.
1:412
Ach, ich kannte Edle, die verloren ihre hoechste Hoffnung. Und nun
verleumdeten sie alle hohen Hoffnungen.
1:413
Nun lebten sie frech in kurzen Luesten, und ueber den Tag hin warfen
sie kaum noch Ziele.
1:414
"Geist ist auch Wollust" - so sagten sie. Da zerbrachen ihrem Geiste
die Fluegel: nun kriecht er herum und beschmutzt im Nagen.
1:415
Einst dachten sie Helden zu werden: Luestlinge sind es jetzt. Ein Gram
und ein Grauen ist ihnen der Held.
1:416
Aber bei meiner Liebe und Hoffnung beschwoere ich dich: wirf den
Helden in deiner Seele nicht weg! Halte heilig deine hoechste
Hoffnung! -
1:417
Also sprach Zarathustra.
1:418
Von den Predigern des Todes
1:419
Es giebt Prediger des Todes: und die Erde ist voll von Solchen, denen
Abkehr gepredigt werden muss vom Leben.
1:420
Voll ist die Erde von Ueberfluessigen, verdorben ist das Leben durch
die Viel-zu-Vielen. Moege man sich mit dem "ewigen Leben" aus diesem
Leben weglocken!
1:421
"Gelbe": so nennt man die Prediger des Todes, oder "Schwarze". Aber
ich will sie euch noch in andern Farben zeigen.
1:422
Da sind die Fuerchterlichen, welche in sich das Raubthier herumtragen
und keine Wahl haben, es sei denn Lueste oder Selbstzerfleischung. Und
auch ihre Lueste sind noch Selbstzerfleischung.
1:423
Sie sind noch nicht einmal Menschen geworden, diese Fuerchterlichen:
moegen sie Abkehr predigen vom Leben und selber dahinfahren!
1:424
Da sind die Schwindsuechtigen der Seele: kaum sind sie geboren,
so fangen sie schon an zu sterben und sehnen sich nach Lehren der
Muedigkeit und Entsagung.
1:425
Sie wollen gerne todt sein, und wir sollten ihren Willen gut heissen!
Hueten wir uns, diese Todten zu erwecken und diese lebendigen Saerge
zu versehren!
1:426
Ihnen begegnet ein Kranker oder ein Greis oder ein Leichnam; und
gleich sagen sie "das Leben ist widerlegt!"
1:427
Aber nur sie sind widerlegt und ihr Auge, welches nur das Eine Gesicht
sieht am Dasein.
1:428
Eingehuellt in dicke Schwermuth und begierig auf die kleinen Zufaelle,
welche den Tod bringen: so warten sie und beissen die Zaehne auf
einander.
1:429
Oder aber: sie greifen nach Zuckerwerk und spotten ihrer Kinderei
dabei: sie haengen an ihrem Strohhalm Leben und spotten, dass sie noch
an einem Strohhalm haengen.
1:430
Ihre Weisheit lautet: "ein Thor, der leben bleibt, aber so sehr sind
wir Thoren! Und das eben ist das Thoerichtste am Leben!" -
1:431
"Das Leben ist nur Leiden" - so sagen Andre und luegen nicht: so sorgt
doch, dass _ihr_ aufhoert! So sorgt doch, dass das Leben aufhoert,
welches nur Leiden ist!
1:432
Und also laute die Lehre eurer Tugend "du sollst dich selber toedten!
Du sollst dich selber davonstehlen!" -
1:433
"Wollust ist Suende, - so sagen die Einen, welche den Tod predigen -
lasst uns bei Seite gehn und keine Kinder zeugen!"
1:434
"Gebaeren ist muehsam, - sagen dich Andern - wozu noch gebaeren? Man
gebiert nur Unglueckliche!" Und auch sie sind Prediger des Todes.
1:435
"Mitleid thut noth - so sagen die Dritten. Nehmt hin, was ich habe!
Nehmt hin, was ich bin! Um so weniger bindet mich das Leben!"
1:436
Waeren sie Mitleidige von Grund aus, so wuerden sie ihren Naechsten
das Leben verleiden. Boese sein - das waere ihre rechte Guete.
1:437
Aber sie wollen loskommen vom Leben: was schiert es sie, dass sie
Andre mit ihren Ketten und Geschenken noch fester binden! -
1:438
Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid ihr
nicht sehr muede des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif fuer die Predigt
des Todes?
1:439
Ihr Alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue,
Fremde, - ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiss ist Flucht und Wille,
sich selber zu vergessen.
1:440
Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, wuerdet ihr weniger euch dem
Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in
euch - und selbst zur Faulheit nicht!
1:441
Ueberall ertoent die Stimme Derer, welche den Tod predigen: und die
Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt werden muss.
1:442
Oder "das ewige Leben": das gilt mir gleich, - wofern sie nur schnell
dahinfahren!
1:443
Also sprach Zarathustra.
1:444
Vom Krieg und Kriegsvolke
1:445
Von unsern besten Feinden wollen wir nicht geschont sein, und auch von
Denen nicht, welche wir von Grund aus lieben. So lasst mich denn euch
die Wahrheit sagen!
1:446
Meine Brueder im Kriege! Ich liebe euch von Grund aus, ich bin und war
Euresgleichen. Und ich bin auch euer bester Feind. So lasst mich denn
euch die Wahrheit sagen!
1:447
Ich weiss um den Hass und Neid eures Herzens. Ihr seid nicht gross
genug, um Hass und Neid nicht zu kennen. So seid denn gross genug,
euch ihrer nicht zu schaemen!
1:448
Und wenn ihr nicht Heilige der Erkenntniss sein koennt, so seid mir
wenigstens deren Kriegsmaenner. Das sind die Gefaehrten und Vorlaeufer
solcher Heiligkeit.
1:449
Ich sehe viel Soldaten: moechte ich viel Kriegsmaenner sehn!
"Ein-form" nennt man's, was sie tragen: moege es nicht Ein-form sein,
was sie damit verstecken!
1:450
Ihr sollt mir Solche sein, deren Auge immer nach einem Feinde sucht -
nach _eurem_ Feinde. Und bei Einigen von euch giebt es einen Hass auf
den ersten Blick.
1:451
Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr fuehren und
fuer eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure
Redlichkeit darueber noch Triumph rufen!
1:452
Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den
kurzen Frieden mehr, als den langen.
1:453
Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rathe ich
nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer
Friede sei ein Sieg!
1:454
Man kann nur schweigen und stillsitzen, wenn man Pfeil und Bogen hat:
sonst schwaetzt und zankt man. Euer Friede sei ein Sieg!
1:455
Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage
euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.
1:456
Der Krieg und der Muth haben mehr grosse Dinge gethan, als die
Naechstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete
bisher die Verunglueckten.
1:457
Was ist gut? fragt ihr. Tapfer sein ist gut. Lasst die kleinen
Maedchen reden: "gut sein ist, was huebsch zugleich und ruehrend ist."
1:458
Man nennt euch herzlos: aber euer Herz ist aecht, und ich liebe die
Scham eurer Herzlichkeit. Ihr schaemt euch eurer Fluth, und Andre
schaemen sich ihrer Ebbe.
1:459
Ihr seid haesslich? Nun wohlan, meine Brueder! So nehmt das Erhabne um
euch, den Mantel des Haesslichen!
1:460
Und wenn eure Seele gross wird, so wird sie uebermuethig, und in eurer
Erhabenheit ist Bosheit. Ich kenne euch.
1:461
In der Bosheit begegnet sich der Uebermuethige mit dem Schwaechlinge.
Aber sie missverstehen einander. Ich kenne euch.
1:462
Ihr duerft nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde
zum Verachten. Ihr muesst stolz auf euern Feind sein: dann sind die
Erfolge eures Feindes auch eure Erfolge.
1:463
Auflehnung - das ist die Vornehmheit am Sclaven. Eure Vornehmheit sei
Gehorsam! Euer Befehlen selber sei ein Gehorchen!
1:464
Einem guten Kriegsmanne klingt "du sollst" angenehmer, als "ich will".
Und Alles, was euch lieb ist, sollt ihr euch erst noch befehlen
lassen.
1:465
Eure Liebe zum Leben sei Liebe zu eurer hoechsten Hoffnung: und eure
hoechste Hoffnung sei der hoechste Gedanke des Lebens!
1:466
Euren hoechsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen -
und er lautet: der Mensch ist Etwas, das ueberwunden werden soll.
1:467
So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am
Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!
1:468
Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brueder im
Kriege! -
1:469
Also sprach Zarathustra.
1:470
Vom neuen Goetzen
1:471
Irgendwo giebt es noch Voelker und Heerden, doch nicht bei uns, meine
Brueder: da giebt es Staaten.
1:472
Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt
sage ich euch mein Wort vom Tode der Voelker.
1:473
Staat heisst das kaelteste aller kalten Ungeheuer. Kalt luegt es auch;
und diese Luege kriecht aus seinem Munde: "Ich, der Staat, bin das
Volk."
1:474
Luege ist's! Schaffende waren es, die schufen die Voelker und haengten
einen Glauben und eine Liebe ueber sie hin: also dienten sie dem
Leben.
1:475
Vernichter sind es, die stellen Fallen auf fuer Viele und heissen sie
Staat: sie haengen ein Schwert und hundert Begierden ueber sie hin.
1:476
Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn
als boesen Blick und Suende an Sitten und Rechten.
1:477
Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten
und Boesen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es
sich in Sitten und Rechten.
1:478
Aber der Staat luegt in allen Zungen des Guten und Boesen; und was er
auch redet, er luegt - und was er auch hat, gestohlen hat er's.
1:479
Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zaehnen beisst er, der
Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide.
1:480
Sprachverwirrung des Guten und Boesen: dieses Zeichen gebe ich euch
als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses
Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!
1:481
Viel zu Viele werden geboren: fuer die Ueberfluessigen ward der Staat
erfunden!
1:482
Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! Wie er
sie schlingt und kaut und wiederkaeut!
1:483
"Auf der Erde ist nichts Groesseres als ich: der ordnende Finger bin
ich Gottes" - also bruellt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und
Kurzgeaeugte sinken auf die Kniee!
1:484
Ach, auch in euch, ihr grossen Seelen, raunt er seine duesteren
Luegen! Ach, er erraeth die reichen Herzen, die gerne sich
verschwenden!
1:485
Ja, auch euch erraeth er, ihr Besieger des alten Gottes! Muede wurdet
ihr im Kampfe, und nun dient eure Muedigkeit noch dem neuen Goetzen!
1:486
Helden und Ehrenhafte moechte er um sich aufstellen, der neue Goetze!
Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen, - das kalte
Unthier!
1:487
Alles will er _euch_ geben, wenn _ihr_ ihn anbetet, der neue Goetze:
also kauft er sich den Glanz eurer Tugend und den Blick eurer stolzen
Augen.
1:488
Koedern will er mit euch die Viel-zu-Vielen! Ja, ein
Hoellenkunststueck ward da erfunden, ein Pferd des Todes, klirrend im
Putz goettlicher Ehren!
1:489
Ja, ein Sterben fuer Viele ward da erfunden, das sich selber als Leben
preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes!
1:490
Staat nenne ich's, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat,
wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der
langsame Selbstmord Aller - "das Leben" heisst.
1:491
Seht mir doch diese Ueberfluessigen! Sie stehlen sich die Werke
der Erfinder und die Schaetze der Weisen: Bildung nennen sie ihren
Diebstahl - und Alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach!
1:492
Seht mir doch diese Ueberfluessigen! Krank sind sie immer, sie
erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen einander
und koennen sich nicht einmal verdauen.
1:493
Seht mir doch diese Ueberfluessigen! Reichthuemer erwerben sie und
werden aermer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der
Macht, viel Geld, - diese Unvermoegenden!
1:494
Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern ueber
einander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe.
1:495
Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn ist es, - als ob das
Glueck auf dem Throne saesse! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron -
und oft auch der Thron auf dem Schlamme.
1:496
Wahnsinnige sind sie mir Alle und kletternde Affen und Ueberheisse.
Uebel riecht mir ihr Goetze, das kalte Unthier: uebel riechen sie mir
alle zusammen, diese Goetzendiener.
1:497
Meine Brueder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Maeuler und
Begierden! Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt in's Freie!
1:498
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der
Goetzendienerei der Ueberfluessigen!
1:499
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von dem
Dampfe dieser Menschenopfer!
1:500
Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch
viele Sitze fuer Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere
weht.
1:501
Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig
besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armuth!
1:502
Dort, wo der Staat aufhoert, da beginnt erst der Mensch, der nicht
ueberfluessig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige
und unersetzliche Weise.
1:503
Dort, wo der Staat _aufhoert_, - so seht mir doch hin, meine
Brueder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Bruekken des
Uebermenschen? -
1:504
Also sprach Zarathustra.
1:505
Von den Fliegen des Marktes
1:506
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betaeubt
vom Laerme der grossen Maenner und zerstochen von den Stacheln der
kleinen.
1:507
Wuerdig wissen Wald und Fels mit dir zu schweigen. Gleiche wieder dem
Baume, den du liebst, dem breitaestigen: still und aufhorchend haengt
er ueber dem Meere.
1:508
Wo die Einsamkeit aufhoert, da beginnt der Markt; und wo der Markt
beginnt, da beginnt auch der Laerm der grossen Schauspieler und das
Geschwirr der giftigen Fliegen.
1:509
In der Welt taugen die besten Dinge noch Nichts, ohne Einen, der sie
erst auffuehrt: grosse Maenner heisst das Volk diese Auffuehrer.
1:510
Wenig begreift das Volk das Grosse, das ist: das Schaffende. Aber
Sinne hat es fuer alle Auffuehrer und Schauspieler grosser Sachen.
1:511
Um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt: - unsichtbar
dreht sie sich. Doch um die Schauspieler dreht sich das Volk und der
Ruhm: so ist es der Welt Lauf.
1:512
Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er glaubt
immer an Das, womit er am staerksten glauben macht, - glauben an
_sich_ macht!
1:513
Morgen hat er einen neuen Glauben und uebermorgen einen neueren.
Rasche Sinne hat er, gleich dem Volke, und veraenderliche Witterungen.
1:514
Umwerfen - das heisst ihm: beweisen. Toll machen - das heisst ihm:
ueberzeugen. Und Blut gilt ihm als aller Gruende bester.
1:515
Eine Wahrheit, die nur in feine Ohren schluepft, nennt er Luege und
Nichts. Wahrlich, er glaubt nur an Goetter, die grossen Laerm in der
Welt machen!
1:516
Voll von feierlichen Possenreissern ist der Markt - und das Volk
ruehmt sich seiner grossen Maenner! das sind ihm die Herrn der Stunde.
1:517
Aber die Stunde draengt sie: so draengen sie dich. Und auch von dir
wollen sie Ja oder Nein. Wehe, du willst zwischen Fuer und Wider
deinen Stuhl setzen?
1:518
Dieser Unbedingten und Draengenden halber sei ohne Eifersucht, du
Liebhaber der Wahrheit! Niemals noch haengte sich die Wahrheit an den
Arm eines Unbedingten.
1:519
Dieser Ploetzlichen halber gehe zurueck in deine Sicherheit: nur auf
dem Markt wird man mit Ja? oder Nein? ueberfallen.
1:520
Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen: lange muessen sie
warten, bis sie wissen, _was_ in ihre Tiefe fiel.
1:521
Abseits vom Markte und Ruhme begiebt sich alles Grosse: abseits vom
Markte und Ruhme wohnten von je die Erfinder neuer Werthe.
1:522
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von giftigen
Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo rauhe, starke Luft weht!
1:523
Fliehe in deine Einsamkeit! Du lebtest den Kleinen und Erbaermlichen
zu nahe. Fliehe vor ihrer unsichtbaren Rache! Gegen dich sind sie
Nichts als Rache.
1:524
Hebe nicht mehr den Arm gegen sie! Unzaehlbar sind sie, und es ist
nicht dein Loos, Fliegenwedel zu sein.
1:525
Unzaehlbar sind diese Kleinen und Erbaermlichen; und manchem stolzen
Baue gereichten schon Regentropfen und Unkraut zum Untergange.
1:526
Du bist kein Stein, aber schon wurdest du hohl von vielen Tropfen.
Zerbrechen und zerbersten wirst du mir noch von vielen Tropfen.
1:527
Ermuedet sehe ich dich durch giftige Fliegen, blutig geritzt sehe ich
dich an hundert Stellen; und dein Stolz will nicht einmal zuernen.
1:528
Blut moechten sie von dir in aller Unschuld, Blut begehren ihre
blutlosen Seelen - und sie stechen daher in aller Unschuld.
1:529
Aber, du Tiefer, du leidest zu tief auch an kleinen Wunden; und ehe du
dich noch geheilt hast, kroch dir der gleiche Giftwurm ueber die Hand.
1:530
Zu stolz bist du mir dafuer, diese Naschhaften zu toedten. Huete dich
aber, dass es nicht dein Verhaengniss werde, all ihr giftiges Unrecht
zu tragen!
1:531
Sie summen um dich auch mit ihrem Lobe: Zudringlichkeit ist ihr Loben.
Sie wollen die Naehe deiner Haut und deines Blutes.
1:532
Sie schmeicheln dir wie einem Gotte oder Teufel; sie winseln vor dir
wie vor einem Gotte oder Teufel. Was macht es! Schmeichler sind es und
Winsler und nicht mehr.
1:533
Auch geben sie sich dir oft als Liebenswuerdige. Aber das war immer
die Klugheit der Feigen. Ja, die Feigen sind klug!
1:534
Sie denken viel ueber dich mit ihrer engen Seele, - bedenklich bist du
ihnen stets! Alles, was viel bedacht wird, wird bedenklich.
1:535
Sie bestrafen dich fuer alle deine Tugenden. Sie verzeihen dir von
Grund aus nur - deine Fehlgriffe.
1:536
Weil du milde bist und gerechten Sinnes, sagst du: "unschuldig sind
sie an ihrem kleinen Dasein." Aber ihre enge Seele denkt: "Schuld ist
alles grosse Dasein."
1:537
Auch wenn du ihnen milde bist, fuehlen sie sich noch von dir
verachtet; und sie geben dir deine Wohlthat zurueck mit versteckten
Wehthaten.
1:538
Dein wortloser Stolz geht immer wider ihren Geschmack; sie frohlocken,
wenn du einmal bescheiden genug bist, eitel zu sein.
1:539
Das, was wir an einem Menschen erkennen, das entzuenden wir an ihm
auch. Also huete dich vor den Kleinen!
1:540
Vor dir fuehlen sie sich klein, und ihre Niedrigkeit glimmt und glueht
gegen dich in unsichtbarer Rache.
1:541
Merktest du nicht, wie oft sie stumm wurden, wenn du zu ihnen
tratest, und wie ihre Kraft von ihnen gieng wie der Rauch von einem
erloeschenden Feuer?
1:542
Ja, mein Freund, das boese Gewissen bist du deinen Naechsten: denn sie
sind deiner unwerth. Also hassen sie dich und moechten gerne an deinem
Blute saugen.
1:543
Deine Naechsten werden immer giftige Fliegen sein; Das, was gross
an dir ist, - das selber muss sie giftiger machen und immer
fliegenhafter.
1:544
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit und dorthin, wo eine rauhe,
starke Luft weht. Nicht ist es dein Loos, Fliegenwedel zu sein. -
1:545
Also sprach Zarathustra.
1:546
Von der Keuschheit
1:547
Ich liebe den Wald. In den Staedten ist schlecht zu leben: da giebt es
zu Viele der Bruenstigen.
1:548
Ist es nicht besser, in die Haende eines Moerders zu gerathen, als in
die Traeume eines bruenstigen Weibes?
1:549
Und seht mir doch diese Maenner an: ihr Auge sagt es - sie wissen
nichts Besseres auf Erden, als bei einem Weibe zu liegen.
1:550
Schlamm ist auf dem Grunde ihrer Seele; und wehe, wenn ihr Schlamm gar
noch Geist hat!
1:551
Dass ihr doch wenigstens als Thiere vollkommen waeret! Aber zum Thiere
gehoert die Unschuld.
1:552
Rathe ich euch, eure Sinne zu toedten? Ich rathe euch zur Unschuld der
Sinne.
1:553
Rathe ich euch zur Keuschheit? Die Keuschheit ist bei Einigen eine
Tugend, aber bei Vielen beinahe ein Laster.
1:554
Diese enthalten sich wohl: aber die Huendin Sinnlichkeit blickt mit
Neid aus Allem, was sie thun.
1:555
Noch in die Hoehen ihrer Tugend und bis in den kalten Geist hinein
folgt ihnen diess Gethier und sein Unfrieden.
1:556
Und wie artig weiss die Huendin Sinnlichkeit um ein Stueck Geist zu
betteln, wenn ihr ein Stuck Fleisch versagt wird!
1:557
Ihr liebt Trauerspiele und Alles, was das Herz zerbricht? Aber ich bin
misstrauisch gegen eure Huendin.
1:558
Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt luestern nach Leidenden. Hat
sich nicht nur eure Wollust verkleidet und heisst sich Mitleiden?
1:559
Und auch diess Gleichniss gebe ich euch: nicht Wenige, die ihren
Teufel austreiben wollten, fuhren dabei selber in die Saeue.
1:560
Wem die Keuschheit schwer faellt, dem ist sie zu widerrathen: dass sie
nicht der Weg zur Hoelle werde - das ist zu Schlamm und Brunst der
Seele.
1:561
Rede ich von schmutzigen Dingen? Das ist mir nicht das Schlimmste.
1:562
Nicht, wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern wenn sie seicht ist,
steigt der Erkennende ungern in ihr Wasser.
1:563
Wahrlich, es giebt Keusche von Grund aus: sie sind milder von Herzen,
sie lachen lieber und reichlicher als ihr.
1:564
Sie lachen auch ueber die Keuschheit und fragen: "was ist Keuschheit!
1:565
Ist Keuschheit nicht Thorheit? Aber diese Thorheit kam zu uns und
nicht wir zur ihr.
1:566
Wir boten diesem Gaste Herberge und Herz: nun wohnt er bei uns, - mag
er bleiben, wie lange er will!"
1:567
Also sprach Zarathustra.
1:568
Vom Freunde
1:569
"Einer ist immer zu viel um mich" - also denkt der Einsiedler. "Immer
Einmal Eins - das giebt auf die Dauer Zwei!"
1:570
Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespraeche: wie waere es
auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gaebe?
1:571
Immer ist fuer den Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist
der Kork, der verhindert, dass das Gespraech der Zweie in die Tiefe
sinkt.
1:572
Ach, es giebt zu viele Tiefen fuer alle Einsiedler. Darum sehnen sie
sich so nach einem Freunde und nach seiner Hoehe.
1:573
Unser Glaube an Andre verraeth, worin wir gerne an uns selber glauben
moechten. Unsre Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verraether.
1:574
Und oft will man mit der Liebe nur den Neid ueberspringen. Und oft
greift man an und macht sich einen Feind, um zu verbergen, dass man
angreifbar ist.
1:575
"Sei wenigstens mein Feind!" - so spricht die wahre Ehrfurcht, die
nicht um Freundschaft zu bitten wagt.
1:576
Will man einen Freund haben, so muss man auch fuer ihn Krieg fuehren
wollen: und um Krieg zu fuehren, muss man Feind sein _koennen_.
1:577
Man soll in seinem Freunde noch den Feind ehren. Kannst du an deinen
Freund dicht herantreten, ohne zu ihm ueberzutreten?
1:578
In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben. Du sollst ihm am
naechsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst.
1:579
Du willst vor deinem Freunde kein Kleid tragen? Es soll deines
Freundes Ehre sein, dass du dich ihm giebst, wie du bist? Aber
wuenscht dich darum zum Teufel!
1:580
Wer aus sich kein Hehl macht, empoert: so sehr habt ihr Grund, die
Nacktheit zu fuerchten! Ja, wenn ihr Goetter waeret, da duerftet ihr
euch eurer Kleider schaemen!
1:581
Du kannst dich fuer deinen Freund nicht schoen genug putzen: denn du
sollst ihm ein Pfeil und eine Sehnsucht nach dem Uebermenschen sein.
1:582
Sahst du deinen Freund schon schlafen, - damit du erfahrest, wie er
aussieht? Was ist doch sonst das Gesicht deines Freundes? Es ist dein
eignes Gesicht, auf einem rauhen und unvollkommnen Spiegel.
1:583
Sahst du deinen Freund schon schlafen? Erschrakst du nicht, dass
dein Freund so aussieht? Oh, mein Freund, der Mensch ist Etwas, das
ueberwunden werden muss.
1:584
Im Errathen und Stillschweigen soll der Freund Meister sein: nicht
Alles musst du sehn wollen. Dein Traum soll dir verrathen, was dein
Freund im Wachen thut.
1:585
Ein Errathen sei dein Mitleiden: dass du erst wissest, ob dein Freund
Mitleiden wolle. Vielleicht liebt er an dir das ungebrochne Auge und
den Blick der Ewigkeit.
1:586
Das Mitleiden mit dem Freunde berge sich unter einer harten Schale, an
ihm sollst du dir einen Zahn ausbeissen. So wird es seine Feinheit und
Suesse haben.
1:587
Bist du reine Luft und Einsamkeit und Brod und Arznei deinem Freunde?
Mancher kann seine eignen Ketten nicht loesen und doch ist er dem
Freunde ein Erloeser.
1:588
Bist du ein Sclave? So kannst du nicht Freund sein. Bist du ein
Tyrann? So kannst du nicht Freunde haben.
1:589
Allzulange war im Weibe ein Sclave und ein Tyrann versteckt. Desshalb
ist das Weib noch nicht der Freundschaft faehig: es kennt nur die
Liebe.
1:590
In der Liebe des Weibes ist Ungerechtigkeit und Blindheit gegen Alles,
was es nicht liebt. Und auch in der wissenden Liebe des Weibes ist
immer noch Ueberfall und Blitz und Nacht neben dem Lichte.
1:591
Nodl ist das Weib nicht der Freundschaft faehig: Katzen sind immer
noch die Weiber, und Voegel. Oder, besten Falles, Kuehe.
1:592
Noch ist das Weib nicht der Freundschaft faehig. Aber sagt mir, ihr
Maenner, wer von euch ist denn faehig der Freundschaft?
1:593
Oh ueber eure Armuth, ihr Maenner, und euren Geiz der Seele! Wie viel
ihr dem Freunde gebt, das will ich noch meinem Feinde geben, und will
auch nicht aermer damit geworden sein.
1:594
Es giebt Kameradschaft: moege es Freundschaft geben!
1:595
Also sprach Zarathustra.
1:596
Von tausend und Einem Ziele
1:597
VieIe Laender sah Zarathustra und viele Voelker: so entdeckte
er vieler Voelker Gutes und Boeses. Keine groessere Macht fand
Zarathustra auf Erden, als gut und boese.
1:598
Leben koennte kein Volk, das nicht erst schaetzte; will es sich aber
erhalten, so darf es nicht schaetzen, wie der Nachbar schaetzt.
1:599
Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und
Schmach: also fand ich's. Vieles fand ich hier boese genannt und dort
mit purpurnen Ehren geputzt.
1:600
Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich seine
Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit.
1:601
Eine Tafel der Gueter haengt ueber jedem Volke. Siehe, es ist seiner
Ueberwindungen Tafel; siehe, es ist die Stimme seines Willens zur
Macht.
1:602
Loeblich ist, was ihm schwer gilt; was unerlaesslich und schwer,
heisst gut, und was aus der hoechsten Noth noch befreit, das Seltene,
Schwerste, - das preist es heilig.
1:603
Was da macht, dass es herrscht und siegt und glaenzt, seinem Nachbarn
zu Grauen und Neide: das gilt ihm das Hohe, das Erste, das Messende,
der Sinn aller Dinge.
1:604
Wahrlich, mein Bruder, erkanntest du erst eines Volkes Noth und
Land und Himmel und Nachbar: so erraethst du wohl das Gesetz seiner
Ueberwindungen und warum es auf dieser Leiter zu seiner Hoffnung
steigt.
1:605
"Immer sollst du der Erste sein und den Andern vorragen: Niemanden
soll deine eifersuechtige Seele lieben, es sei denn den Freund" -
diess machte einem Griechen die Seele zittern: dabei gieng er seinen
Pfad der Groesse.
1:606
"Wahrheit reden und gut mit Bogen und Pfeil verkehren" - so duenkte es
jenem Volke zugleich lieb und schwer, aus dem mein Name kommt - der
Name, welcher mir zugleich lieb und schwer ist.
1:607
"Vater und Mutter ehren und bis in die Wurzel der Seele hinein ihnen
zu Willen sein": diese Tafel der Ueberwindung haengte ein andres Volk
ueber sich auf und wurde maechtig und ewig damit.
1:608
"Treue ueben und um der Treue Willen Ehre und Blut auch an boese und
faehrliche Sachen setzen": also sich lehrend bezwang sich ein anderes
Volk, und also sich bezwingend wurde es schwanger und schwer von
grossen Hoffnungen.
1:609
Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Boeses.
Wahrlich, sie nahmen es nicht, sie fanden es nicht, nicht fiel es
ihnen als Stimme vom Himmel.
1:610
Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, - er
schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich
"Mensch", das ist: der Schaetzende.
1:611
Schaetzen ist Schaffen: hoert es, ihr Schaffenden! Schaetzen selber
ist aller geschaetzten Dinge Schatz und Kleinod.
1:612
Durch das Schaetzen erst giebt es Werth: und ohne das Schaetzen waere
die Nuss des Daseins hohl. Hoert es, ihr Schaffenden!
1:613
Wandel der Werthe, - das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet,
wer ein Schoepfer sein muss.
1:614
Schaffende waren erst Voelker und spaet erst Einzelne; wahrlich, der
Einzelne selber ist noch die juengste Schoepfung.
1:615
Voelker haengten sich einst eine Tafel des Guten ueber sich. Liebe,
die herrschen will, und Liebe, die gehorchen will, erschufen sich
zusammen solche Tafeln.
1:616
Aelter ist an der Heerde die Lust, als die Lust am Ich: und so lange
das gute Gewissen Heerde heisst, sagt nur das schlechte Gewissen: Ich.
1:617
Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen
Vieler will: das ist nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang.
1:618
Liebende waren es stets und Schaffende, die schufen Gut und Boese.
Feuer der Liebe glueht in aller Tugenden Namen und Feuer des Zorns.
1:619
Viele Laender sah Zarathustra und viele Voelker: keine groessere Macht
fand Zarathustra auf Erden, als die Werke der Liebenden: "gut" und
"boese" ist ihr Name.
1:620
Wahrlich, ein Ungethuem ist die Macht dieses Lobens und Tadelns. Sagt,
wer bezwingt es mir, ihr Brueder? Sagt, wer wirft diesem Thier die
Fessel ueber die tausend Nacken?
1:621
Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Voelker gab es. Nur die
Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat
die Menschheit kein Ziel.
1:622
Aber sagt mir doch, meine Brueder: wenn der Menschheit das Ziel noch
fehlt, fehlt da nicht auch - sie selber noch? -
1:623
Also sprach Zarathustra.
1:624
Von der Naechstenliebe
1:625
Ihr draengt euch um den Naechsten und habt schoene Worte dafuer. Aber
ich sage euch: eure Naechstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch
selber.
1:626
Ihr fluechtet zum Naechsten vor euch selber und moechtet euch daraus
eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer "Selbstloses".
1:627
Das Du ist aelter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber noch
nicht das Ich: so draengt sich der Mensch hin zum Naechsten.
1:628
Rathe ich euch zur Naechstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur
Naechsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!
1:629
Hoeher als die Liebe zum Naechsten ist die Liebe zum Fernsten und
Kuenftigen; hoeher noch als die Liebe zu Menschen ist die Liebe zu
Sachen und Gespenstern.
1:630
Diess Gespenst, das vor dir herlaeuft, mein Bruder, ist schoener als
du; warum giebst du ihm nicht dein Fleisch und deine Knochen? Aber du
fuerchtest dich und laeufst zu deinem Naechsten.
1:631
Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug:
nun wollt ihr den Naechsten zur Liebe verfuehren und euch mit seinem
Irrthum vergolden.
1:632
Ich wollte, ihr hieltet es nicht aus mit allerlei Naechsten und deren
Nachbarn; so muesstet ihr aus euch selber euren Freund und sein
ueberwallendes Herz schaffen.
1:633
Ihr ladet euch einen Zeugen ein, wenn ihr von euch gut reden wollt;
und wenn ihr ihn verfuehrt habt, gut von euch zu denken, denkt ihr
selber gut von euch.
1:634
Nicht nur Der luegt, welcher wider sein Wissen redet, sondern erst
recht Der, welcher wider sein Nichtwissen redet. Und so redet ihr von
euch im Verkehre und beluegt mit euch den Nachbar.
1:635
Also spricht der Narr: "der Umgang mit Menschen verdirbt den
Charakter, sonderlich wenn man keinen hat."
1:636
Der Eine geht zum Naechsten, weil er sich sucht, und der Andre, weil
er sich verlieren moechte. Eure schlechte Liebe zu euch selber macht
euch aus der Einsamkeit ein Gefaengniss.
1:637
Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Naechsten bezahlen; und
schon wenn ihr zu fuenfen mit einander seid, muss immer ein sechster
sterben.
1:638
Ich liebe auch eure Feste nicht: zu viel Schauspieler fand ich dabei,
und auch die Zuschauer gebaerdeten sich oft gleich Schauspielern.
1:639
Nicht den Naechsten lehre ich euch, sondern den Freund. Der Freund sei
euch das Fest der Erde und ein Vorgefuehl des Uebermenschen.
1:640
Ich lehre euch den Freund und sein uebervolles Herz. Aber man muss
verstehn, ein Schwamm zu sein, wenn man von uebervollen Herzen geliebt
sein will.
1:641
Ich lehre euch den Freund, in dem die Welt fertig dasteht, eine Schale
des Guten, - den schaffenden Freund, der immer eine fertige Welt zu
verschenken hat.
1:642
Und wie ihm die Welt auseinander rollte, so rollt sie ihm wieder in
Ringen zusammen, als das Werden des Guten durch das Boese, als das
Werden der Zwecke aus dem Zufalle.
1:643
Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute: in
deinem Freunde sollst du den Uebermenschen als deine Ursache lieben.
1:644
Meine Brueder, zur Naechstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch
zur Fernsten-Liebe.
1:645
Also sprach Zarathustra.
1:646
Vom Wege des Schaffenden
1:647
Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den Weg
zu dir selber suchen? Zaudere noch ein Wenig und hoere mich.
1:648
"Wer sucht, der geht leicht selber verloren. Alle Vereinsamung ist
Schuld": also spricht die Heerde. Und du gehoertest lange zur Heerde.
1:649
Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch toenen. Und wenn du sagen
wirst "ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch", so wird es eine
Klage und ein Schmerz sein.
1:650
Siehe, diesen Schmerz selber gebar noch das Eine Gewissen: und dieses
Gewissens letzter Schimmer glueht noch auf deiner Truebsal.
1:651
Aber du willst den Weg deiner Truebsal gehen, welches ist der Weg zu
dir selber? So zeige mir dein Recht und deine Kraft dazu!
1:652
Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein
aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um
dich sich drehen?
1:653
Ach, es giebt so viel Luesternheit nach Hoehe! Es giebt so viel
Kraempfe der Ehrgeizigen! Zeige mir, dass du keiner der Luesternen und
Ehrgeizigen bist!
1:654
Ach, es giebt so viel grosse Gedanken, die thun nicht mehr als ein
Blasebalg: sie blasen auf und machen leerer.
1:655
Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hoeren und
nicht, dass du einem Joche entronnen bist.
1:656
Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen _durfte_? Es giebt
Manchen, der seinen letzten Werth wegwarf, als er seine Dienstbarkeit
wegwarf.
1:657
Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge
kuenden: frei _wozu_?
1:658
Kannst du dir selber dein Boeses und dein Gutes geben und deinen
Willen ueber dich aufhaengen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber
Richter sein und Raecher deines Gesetzes?
1:659
Furchtbar ist das Alleinsein mit dem Richter und Raecher des eignen
Gesetzes. Also wird ein Stern hinausgeworfen in den oeden Raum und in
den eisigen Athem des Alleinseins.
1:660
Heute noch leidest du an den Vielen, du Einer: heute noch hast du
deinen Muth ganz und deine Hoffnungen.
1:661
Aber einst wird dich die Einsamkeit muede machen, einst wird dein
Stolz sich kruemmen und dein Muth knirschen. Schreien wirst du einst
"ich bin allein!"
1:662
Einst wirst du dein Hohes nicht mehr sehn und dein Niedriges
allzunahe; dein Erhabnes selbst wird dich fuerchten machen wie ein
Gespenst. Schreien wirst du einst: "Alles ist falsch!"
1:663
Es giebt Gefuehle, die den Einsamen toedten wollen; gelingt es ihnen
nicht, nun, so muessen sie selber sterben! Aber vermagst du das,
Moerder zu sein?
1:664
Kennst du, mein Bruder, schon das Wort "Verachtung"? Und die Qual
deiner Gerechtigkeit, Solchen gerecht zu sein, die dich verachten?
1:665
Du zwingst Viele, ueber dich umzulernen; das rechnen sie dir hart an.
Du kamst ihnen nahe und giengst doch vorueber: das verzeihen sie dir
niemals.
1:666
Du gehst ueber sie hinaus: aber je hoeher du steigst, um so kleiner
sieht dich das Auge des Neides. Am meisten aber wird der Fliegende
gehasst.
1:667
"Wie wolltet ihr gegen mich gerecht sein! - musst du sprechen - ich
erwaehle mir eure Ungerechtigkeit als den mir zugemessnen Theil."
1:668
Ungerechtigkeit und Schmutz werfen sie nach dem Einsamen: aber, mein
Bruder, wenn du ein Stern sein willst, so musst du ihnen desshalb
nicht weniger leuchten!
1:669
Und huete dich vor den Guten und Gerechten! Sie kreuzigen gerne Die,
welche sich ihre eigne Tugend erfinden, - sie hassen den Einsamen.
1:670
Huete dich auch vor der heiligen Einfalt! Alles ist ihr unheilig,
was nicht einfaeltig ist; sie spielt auch gerne mit dem Feuer - der
Scheiterhaufen.
1:671
Und huete dich auch vor den Anfaellen deiner Liebe! Zu schnell streckt
der Einsame Dem die Hand entgegen, der ihm begegnet.
1:672
Manchem Menschen darfst du nicht die Hand geben, sondern nur die
Tatze: und ich will, dass deine Tatze auch Krallen habe.
1:673
Aber der schlimmste Feind, dem du begegnen kannst, wirst du immer dir
selber sein; du selber lauerst dir auf in Hoehlen und Waeldern.
1:674
Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber fuhrt dein
Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln!
1:675
Ketzer wirst du dir selber sein und Hexe und Wahrsager und Narr und
Zweifler und Unheiliger und Boesewicht.
1:676
Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest
du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!
1:677
Einsamer, du gehst den Weg des Schaffenden: einen Gott willst du dir
schaffen aus deinen sieben Teufeln!
1:678
Einsamer, du gehst den Weg des Liebenden: dich selbst liebst du und
desshalb verachtest du dich, wie nur Liebende verachten.
1:679
Schaffen will der Liebende, weil er verachtet! Was weiss Der von
Liebe, der nicht gerade verachten musste, was er liebte!
1:680
Mit deiner Liebe gehe in deine Vereinsamung und mit deinem Schaffen,
mein Bruder; und spaet erst wird die Gerechtigkeit dir nachhinken.
1:681
Mit meinen Thraenen gehe in deine Vereinsamung, mein Bruder. Ich liebe
Den, der ueber sich selber hinaus schaffen will und so zu Grunde
geht. -
1:682
Also sprach Zarathustra.
1:683
Von alten und jungen Weiblein
1:684
"Was schleichst du so scheu durch die Daemmerung, Zarathustra? Und was
birgst du behutsam unter deinem Mantel?
1:685
Ist es ein Schatz, der dir geschenkt? Oder ein Kind, das dir geboren
wurde? Oder gehst du jetzt selber auf den Wegen der Diebe, du Freund
der Boesen?" -
1:686
Wahrlich, mein Bruder! sprach Zarathustra, es ist ein Schatz, der mir
geschenkt wurde: eine kleine Wahrheit ist's, die ich trage.
1:687
Aber sie ist ungebaerdig wie ein junges Kind; und wenn ich ihr nicht
den Mund halte, so schreit sie ueberlaut.
1:688
Als ich heute allein meines Weges gieng, zur Stunde, wo die Sonne
sinkt, begegnete mir ein altes Weiblein und redete also zu meiner
Seele:
1:689
"Vieles sprach Zarathustra auch zu uns Weibern, doch nie sprach er uns
ueber das Weib."
1:690
Und ich entgegnete ihr: "ueber das Weib soll man nur zu Maennern
reden."
1:691
"Rede auch zu mir vom Weibe, sprach sie; ich bin alt genug, um es
gleich wieder zu vergessen."
1:692
Und ich willfahrte dem alten Weiblein und sprach also zu ihm:
1:693
Alles am Weibe ist ein Raethsel, und Alles am Weibe hat Eine Loesung:
sie heisst Schwangerschaft.
1:694
Der Mann ist fuer das Weib ein Mittel: der Zweck ist immer das Kind.
Aber was ist das Weib fuer den Mann?
1:695
Zweierlei will der aechte Mann: Gefahr und Spiel. Desshalb will er das
Weib, als das gefaehrlichste Spielzeug.
1:696
Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des
Kriegers: alles Andre ist Thorheit.
1:697
Allzusuesse Fruechte - die mag der Krieger nicht. Darum mag er das
Weib; bitter ist auch noch das suesseste Weib.
1:698
Besser als ein Mann versteht das Weib die Kinder, aber der Mann ist
kindlicher als das Weib.
1:699
Im aechten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. Auf, ihr
Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!
1:700
Ein Spielzeug sei das Weib, rein und fein, dem Edelsteine gleich,
bestrahlt von den Tugenden einer Welt, welche noch nicht da ist.
1:701
Der Strahl eines Sternes glaenze in eurer Liebe! Eure Hoffnung heisse:
"moege ich den Uebermenschen gebaeren!"
1:702
In eurer Liebe sei Tapferkeit! Mit eurer Liebe sollt ihr auf Den
losgehn, der euch Furcht einfloesst!
1:703
In eurer Liebe sei eure Ehre! Wenig versteht sich sonst das Weib auf
Ehre. Aber diess sei eure Ehre, immer mehr zu lieben, als ihr geliebt
werdet, und nie die Zweiten zu sein.
1:704
Der Mann fuerchte sich vor dem Weibe, wenn es liebt: da bringt es
jedes Opfer, und jedes andre Ding gilt ihm ohne Werth.
1:705
Der Mann fuerchte sich vor dem Weibe, wenn es hasst: denn der Mann ist
im Grunde der Seele nur boese, das Weib aber ist dort schlecht.
1:706
Wen hasst das Weib am meisten? - Also sprach das Eisen zum Magneten:
"ich hasse dich am meisten, weil du anziehst, aber nicht stark genug
bist, an dich zu ziehen."
1:707
Das Glueck des Mannes heisst: ich will. Das Glueck des Weibes heisst:
er will.
1:708
"Siehe, jetzt eben ward die Welt vollkommen!" - also denkt ein jedes
Weib, wenn es aus ganzer Liebe gehorcht.
1:709
Und gehorchen muss das Weib und eine Tiefe finden zu seiner
Oberflaeche. Oberflaeche ist des Weibes Gemueth, eine bewegliche
stuermische Haut auf einem seichten Gewaesser.
1:710
Des Mannes Gemueth aber ist tief, sein Strom rauscht in unterirdischen
Hoehlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift sie nicht. -
1:711
Da entgegnete mir das alte Weiblein: "Vieles Artige sagte Zarathustra
und sonderlich fuer Die, welche jung genug dazu sind.
1:712
Seltsam ist's, Zarathustra kennt wenig die Weiber, und doch hat er
ueber sie Recht! Geschieht diess desshalb, weil beim Weibe kein Ding
unmoeglich ist?
1:713
Und nun nimm zum Danke eine kleine Wahrheit! Bin ich doch alt genug
fuer sie!
1:714
Wickle sie ein und halte ihr den Mund: sonst schreit sie ueberlaut,
diese kleine Wahrheit."
1:715
"Gieb mir, Weib, deine kleine Wahrheit!" sagte ich. Und also sprach
das alte Weiblein:
1:716
"Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!" -
1:717
Also sprach Zarathustra.
1:718
Vom Biss der Natter
1:719
Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigenbaume eingeschlafen, da
es heiss war, und hatte seine Arme ueber das Gesicht gelegt. Da kam
eine Natter und biss ihn in den Hals, so dass Zarathustra vor Schmerz
aufschrie. Als er den Arm vom Gesicht genommen hatte, sah er die
Schlange an: da erkannte sie die Augen Zarathustra's, wand sich
ungeschickt und wollte davon. "Nicht doch, sprach Zarathustra; noch
nahmst du meinen Dank nicht an! Du wecktest mich zur Zeit, mein Weg
ist noch lang." "Dein Weg ist noch kurz, sagte die Natter traurig;
mein Gift toedtet." Zarathustra laechelte. "Wann starb wohl je ein
Drache am Gift einer Schlange? - sagte er. Aber nimm dein Gift
zurueck! Du bist nicht reich genug, es mir zu schenken." Da fiel ihm
die Natter von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde.
1:720
Als Zarathustra diess einmal seinen Juengern erzaehlte, fragten
sie: "Und was, oh Zarathustra, ist die Moral deiner Geschichte?"
Zarathustra antwortete darauf also:
1:721
Den Vernichter der Moral heissen mich die Guten und Gerechten: meine
Geschichte ist unmoralisch. -
1:722
So ihr aber einen Feind habt, so vergeltet ihm nicht Boeses mit Gutem:
denn das wuerde beschaemen. Sondern beweist, dass er euch etwas Gutes
angethan hat.
1:723
Und lieber zuernt noch, als dass ihr beschaemt! Und wenn euch geflucht
wird, so gefaellt es mir nicht, dass ihr dann segnen wollt. Lieber ein
Wenig mitfluchen!
1:724
Und geschah euch ein grosses Unrecht, so thut mir geschwind fuenf
kleine dazu! Graesslich ist Der anzusehn, den allein das Unrecht
drueckt.
1:725
Wusstet ihr diess schon? Getheiltes Unrecht ist halbes Recht. Und Der
soll das Unrecht auf sich nehmen, der es tragen kann!
1:726
Eine kleine Rache ist menschlicher, als gar keine Rache. Und wenn die
Strafe nicht auch ein Recht und eine Ehre ist fuer den Uebertretenden,
so mag ich auch euer Strafen nicht.
1:727
Vornehmer ist's, sich Unrecht zu geben als Recht zu behalten,
sonderlich wenn man Recht hat. Nur muss man reich genug dazu sein.
1:728
Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus dem Auge eurer Richter
blickt mir immer der Henker und sein kaltes Eisen.
1:729
Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden
Augen ist?
1:730
So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur alle Strafe, sondern
auch alle Schuld traegt!
1:731
So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden freispricht,
ausgenommen den Richtenden!
1:732
Wollt ihr auch diess noch hoeren? An Dem, der von Grund aus gerecht
sein will, wird auch noch die Luege zur Menschen-Freundlichkeit.
1:733
Aber wie wollte ich gerecht sein von Grund aus! Wie kann ich Jedem das
Seine geben! Diess sei mir genug: ich gebe Jedem das Meine.
1:734
Endlich, meine Brueder, huetet euch Unrecht zu thun allen Einsiedlern!
Wie koennte ein Einsiedler vergessen! Wie koennte er vergelten!
1:735
Wie ein tiefer Brunnen ist ein Einsiedler. Leicht ist es, einen Stein
hineinzuwerfen; sank er aber bis zum Grunde, sagt, wer will ihn wieder
hinausbringen?
1:736
Huetet euch, den Einsiedler zu beleidigen! Thatet ihr's aber, nun, so
toedtet ihn auch noch!
1:737
Also sprach Zarathustra.
1:738
Von Kind und Ehe
1:739
Ich habe eine Frage fuer dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei
werfe ich diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie
sei.
1:740
Du bist jung und wuenschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich:
bist du ein Mensch, der ein Kind sich wuenschen _darf_?
1:741
Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne,
der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich.
1:742
Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft? Oder
Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir?
1:743
Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde
sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner
Befreiung.
1:744
Ueber dich sollst du hinausbauen. Aber erst musst du mir selber gebaut
sein, rechtwinklig an Leib und Seele.
1:745
Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir
der Garten der Ehe!
1:746
Einen hoeheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus
sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du schaffen.
1:747
Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das
mehr ist, als die es schufen. Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als
vor den Wollenden eines solchen Willens.
1:748
Diess sei der Sinn und die Wahrheit deiner Ehe. Aber Das, was die
Viel-zu-Vielen Ehe nennen, diese Ueberfluessigen, - ach, wie nenne ich
das?
1:749
Ach, diese Armuth der Seele zu Zweien! Ach, dieser Schmutz der Seele
zu Zweien! Ach diess erbaermliche Behagen zu Zweien!
1:750
Ehe nennen sie diess Alles; und sie sagen, ihre Ehen seien im Himmel
geschlossen.
1:751
Nun, ich mag ihn nicht, diesen Himmel der Ueberfluessigen! Nein, ich
mag sie nicht, diese im himmlischen Netz verschlungenen Thiere!
1:752
Ferne bleibe mir auch der Gott, der heranhinkt, zu segnen, was er
nicht zusammenfuegte!
1:753
Lacht mir nicht ueber solche Ehen! Welches Kind haette nicht Grund,
ueber seine Eltern zu weinen?
1:754
Wuerdig schien mir dieser Mann und reif fuer den Sinn der Erde: aber
als ich sein Weib sah, schien mir die Erde ein Haus fuer Unsinnige.
1:755
Ja, ich wollte, dass die Erde in Kraempfen bebte, wenn sich ein
Heiliger und eine Gans mit einander paaren.
1:756
Dieser gieng wie ein Held auf Wahrheiten aus und endlich erbeutete er
sich eine kleine geputzte Luege. Seine Ehe nennt er's.
1:757
Jener war sproede im Verkehre und waehlte waehlerisch. Aber mit Einem
Male verdarb er fuer alle Male seine Gesellschaft: seine Ehe nennt
er's.
1:758
Jener suchte eine Magd mit den Tugenden eines Engels. Aber mit Einem
Male wurde er die Magd eines Weibes, und nun thaete es Noth, dass er
darueber noch zum Engel werde.
1:759
Sorgsam fand ich jetzt alle Kaeufer, und Alle haben listige Augen.
Aber seine Frau kauft auch der Listigste noch im Sack.
1:760
Viele kurze Thorheiten - das heisst bei euch Liebe. Und eure Ehe macht
vielen kurzer Thorheiten ein Ende, als Eine lange Dummheit.
1:761
Eure Liebe zum Weibe und des Weibes Liebe zum Manne: ach, moechte
sie doch Mitleiden sein mit leidenden und verhuellten Goettern! Aber
zumeist errathen zwei Thiere einander.
1:762
Aber auch noch eure beste Liebe ist nur ein verzuecktes Gleichniss und
eine schmerzhafte Gluth. Eine Fackel ist sie, die euch zu hoeheren
Wegen leuchten soll.
1:763
Ueber euch hinaus sollt ihr einst lieben! So _lernt_ erst lieben! Und
darum musstet ihr den bittern Kelch eurer Liebe trinken.
1:764
Bitterniss ist im Kelch auch der besten Liebe: so macht sie Sehnsucht
zum Uebermenschen, so macht sie Durst dir, dem Schaffenden!
1:765
Durst dem Schaffenden, Pfeil und Sehnsucht zum Uebermenschen: sprich,
mein Bruder, ist diess dein Wille zur Ehe?
1:766
Heilig heisst mir solch ein Wille und solche Ehe. -
1:767
Also sprach Zarathustra.
1:768
Vom freien Tode
1:769
Viele sterben zu spaet, und Einige sterben zu frueh. Noch klingt fremd
die Lehre: "stirb zur rechten Zeit!"
1:770
Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra.
1:771
Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten
Zeit sterben? Moechte er doch nie geboren sein! - Also rathe ich den
Ueberfluessigen.
1:772
Aber auch die Ueberfluessigen thun noch wichtig mit ihrem Sterben, und
auch die hohlste Nuss will noch geknackt sein.
1:773
Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch
erlernten die Menschen nicht, wie man die schoensten Feste weiht.
1:774
Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel
und ein Geloebniss wird.
1:775
Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden
und Gelobenden.
1:776
Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein
solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwuere weihte!
1:777
Also zu sterben ist das Beste; das Zweite aber ist: im Kampfe zu
sterben und eine grosse Seele zu verschwenden.
1:778
Aber dem Kaempfenden gleich verhasst wie dem Sieger ist euer
grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb - und doch als Herr
kommt.
1:779
Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil _ich_
will.
1:780
Und wann werde ich wollen? - Wer ein Ziel hat und einen Erben, der
will den Tod zur rechten Zeit fuer Ziel und Erben.
1:781
Und aus Ehrfurcht vor Ziel und Erben wird er keine duerren Kraenze
mehr im Heiligthum des Lebens aufhaengen.
1:782
Wahrlich, nicht will ich den Seildrehern gleichen: sie ziehen ihren
Faden in die Laenge und gehen dabei selber immer rueckwaerts.
1:783
Mancher wird auch fuer seine Wahrheiten und Siege zu alt; ein
zahnloser Mund hat nicht mehr das Recht zu jeder Wahrheit.
1:784
Und Jeder, der Ruhm haben will, muss sich bei Zeiten von der Ehre
verabschieden und die schwere Kunst ueben, zur rechten Zeit zu - gehn.
1:785
Man muss aufhoeren, sich essen zu lassen, wenn man am besten schmeckt:
das wissen Die, welche lange geliebt werden wollen.
1:786
Saure Aepfel giebt es freilich, deren Loos will, dass sie bis auf den
letzten Tag des Herbstes warten: und zugleich werden sie reif, gelb
und runzelig.
1:787
Andern altert das Herz zuerst und Andern der Geist. Und Einige sind
greis in der Jugend: aber spaet jung erhaelt lang jung.
1:788
Manchem missraeth das Leben: ein Giftwurm frisst sich ihm an's Herz.
So moege er zusehn, dass ihm das Sterben um so mehr gerathe.
1:789
Mancher wird nie suess, er fault im Sommer schon. Feigheit ist es, die
ihn an seinem Aste festhaelt.
1:790
Viel zu Viele leben und viel zu lange haengen sie an ihren Aesten.
Moechte ein Sturm kommen, der all diess Faule und Wurmfressne vom
Baume schuettelt!
1:791
Moechten Prediger kommen des _schnellen_ Todes! Das waeren mir die
rechten Stuerme und Schuettler an Lebensbaeumen Aber ich hoere nur den
langsamen Tod predigen und Geduld mit allem "Irdischen".
1:792
Ach, ihr predigt Geduld mit dem Irdischen? Dieses Irdische ist es, das
zu viel Geduld mit euch hat, ihr Laestermaeuler!
1:793
Wahrlich, zu frueh starb jener Hebraeer, den die Prediger des
langsamen Todes ehren: und Vielen ward es seitdem zum Verhaengniss,
dass er zu frueh starb.
1:794
Noch kannte er nur Thraenen und die Schwermuth des Hebraeers, sammt
dem Hasse der Guten und Gerechten, - der Hebraeer Jesus: da ueberfiel
ihn die Sehnsucht zum Tode.
1:795
Waere er doch in der Wueste geblieben und ferne von den Guten und
Gerechten! Vielleicht haette er leben gelernt und die Erde lieben
gelernt - und das Lachen dazu!
1:796
Glaubt es mir, meine Brueder! Er starb zu frueh; er selber haette
seine Lehre widerrufen, waere er bis zu meinem Alter gekommen! Edel
genug war er zum Widerrufen!
1:797
Aber ungereift war er noch. Unreif liebt der Juengling und unreif
hasst er auch Mensch und Erde. Angebunden und schwer ist ihm noch
Gemueth und Geistesfluegel.
1:798
Aber im Manne ist mehr Kind als im Juenglinge, und weniger Schwermuth:
besser versteht er sich auf Tod und Leben.
1:799
Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein-sager, wenn es nicht
Zeit mehr ist zum Ja: also versteht er sich auf Tod und Leben.
1:800
Dass euer Sterben keine Laesterung sei auf Mensch und Erde, meine
Freunde: das erbitte ich mir von dem Honig eurer Seele.
1:801
In eurem Sterben soll noch euer Geist und eure Tugend gluehn, gleich
einem Abendroth um die Erde: oder aber das Sterben ist euch schlecht
gerathen.
1:802
Also will ich selber sterben, dass ihr Freunde um meinetwillen die
Erde mehr liebt; und zur Erde will ich wieder werden, dass ich in Der
Ruhe habe, die mich gebar.
1:803
Wahrlich, ein Ziel hatte Zarathustra, er warf seinen Ball: nun seid
ihr Freunde meines Zieles Erbe, euch werfe ich den goldenen Ball zu.
1:804
Lieber als Alles sehe ich euch, meine Freunde, den goldenen Ball
werfen! Und so verziehe ich noch ein Wenig auf Erden: verzeiht es mir!
1:805
Also sprach Zarathustra.
1:806
Von der schenkenden Tugend
1:807
hp 1.
1:808
Als Zarathustra von der Stadt Abschied genommen hatte, welcher sein
Herz zugethan war und deren Name lautet: "die bunte Kuh" - folgten ihm
Viele, die sich seine Juenger nannten und gaben ihm das Geleit. Also
kamen sie an einen Kreuzweg: da sagte ihnen Zarathustra, dass er
nunmehr allein gehen wolle; denn er war ein Freund des Alleingehens.
Seine Juenger aber reichten ihm zum Abschiede einen Stab, an dessen
goldnem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte. Zarathustra
freute sich des Stabes und stuetzte sich darauf; dann sprach er also
zu seinen Juengern.
1:809
Sagt mir doch: wie kam Gold zum hoechsten Werthe? Darum, dass es
ungemein ist und unnuetzlich und leuchtend und mild im Glanze; es
schenkt sich immer.
1:810
Nur als Abbild der hoechsten Tugend kam Gold zum hoechsten Werthe.
Goldgleich leuchtet der Blick dem Schenkenden. Goldes-Glanz schliesst
Friede zwischen Mond und Sonne.
1:811
Ungemein ist die hoechste Tugend und unnuetzlich, leuchtend ist sie
und mild im Glanze: eine schenkende Tugend ist die hoechste Tugend.
1:812
Wahrlich, ich errathe euch wohl, meine Juenger: ihr trachtet, gleich
mir, nach der schenkenden Tugend. Was haettet ihr mit Katzen und
Woelfen gemeinsam?
1:813
Das ist euer Durst, selber zu Opfern und Geschenken zu werden: und
darum habt ihr den Durst, alle Reichthuemer in euren Seele zu haeufen.
1:814
Unersaettlich trachtet eure Seele nach Schaetzen und Kleinodien, weil
eure Tugend unersaettlich ist im Verschenken-Wollen.
1:815
Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, dass sie aus eurem Borne
zurueckstroemen sollen als die Gaben eurer Liebe.
1:816
Wahrlich, zum Raeuber an allen Werthen muss solche schenkende Liebe
werden; aber heil und heilig heisse ich diese Selbstsucht.
1:817
Eine andre Selbstsucht giebt es, eine allzuarme, eine hungernde,
die immer stehlen will, jene Selbstsucht der Kranken, die kranke
Selbstsucht.
1:818
Mit dem Auge des Diebes blickt sie auf alles Glaenzende; mit der Gier
des Hungers misst sie Den, der reich zu essen hat; und immer schleicht
sie um den Tisch der Schenkenden.
1:819
Krankheit redet aus solcher Begierde und unsichtbare Entartung; von
siechem Leibe redet die diebische Gier dieser Selbstsucht.
1:820
Sagt mir, meine Brueder: was gilt uns als Schlechtes und
Schlechtestes? Ist es nicht _Entartung_? - Und auf Entartung rathen
wir immer, wo die schenkende Seele fehlt.
1:821
Aufwaerts geht unser Weg, von der Art hinueber zur Ueber-Art. Aber
ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: "Alles fuer
mich."
1:822
Aufwaerts fliegt unser Sinn: so ist er ein Gleichniss unsres Leibes,
einer Erhoehung Gleichniss. Solcher Erhoehungen Gleichnisse sind die
Namen der Tugenden.
1:823
Also geht der Leib durch die Geschichte, ein Werdender und ein
Kaempfender. Und der Geist - was ist er ihm? Seiner Kaempfe und Siege
Herold, Genoss und Wiederhall.
1:824
Gleichnisse sind alle Namen von Gut und Boese: sie sprechen nicht aus,
sie winken nur. Ein Thor, welcher von ihnen Wissen will!
1:825
Achtet mir, meine Brueder, auf jede Stunde, wo euer Geist in
Gleichnissen reden will: da ist der Ursprung eurer Tugend.
1:826
Erhoeht ist da euer Leib und auferstanden; mit seiner Wonne entzueckt
er den Geist, dass er Schoepfer wird und Schaetzer und Liebender und
aller Dinge Wohlthaeter.
1:827
Wenn euer Herz breit und voll wallt, dem Strome gleich, ein Segen und
eine Gefahr den Anwohnenden: da ist der Ursprung eurer Tugend.
1:828
Wenn ihr erhaben seid ueber Lob und Tadel, und euer Wille allen Dingen
befehlen will, als eines Liebenden Wille: da ist der Ursprung eurer
Tugend.
1:829
Wenn ihr das Angenehme verachtet und das weiche Bett, und von den
Weichlichen euch nicht weit genug betten koennt: da ist der Ursprung
eurer Tugend.
1:830
Wenn ihr Eines Willens Wollende seid, und diese Wende aller Noth euch
Nothwendigkeit heisst: da ist der Ursprung eurer Tugend.
1:831
Wahrlich, ein neues Gutes und Boeses ist sie! Wahrlich, ein neues
tiefes Rauschen und eines neuen Quelles Stimme!
1:832
Macht ist sie, diese neue Tugend; ein herrschender Gedanke ist sie und
um ihn eine kluge Seele: eine goldene Sonne und um sie die Schlange
der Erkenntniss.
1:833
hp 2.
1:834
Hier schwieg Zarathustra eine Weile und sah mit Liebe auf seine
Juenger. Dann fuhr er also fort zu reden: - und seine Stimme hatte
sich verwandelt.
1:835
Bleibt mir der Erde treu, meine Brueder, mit der Macht eurer Tugend!
Eure schenkende Liebe und eure Erkenntniss diene dem Sinn der Erde!
Also bitte und beschwoere ich euch.
1:836
Lasst sie nicht davon fliegen vom Irdischen und mit den Fluegeln gegen
ewige Waende schlagen! Ach, es gab immer so viel verflogene Tugend!
1:837
Fuehrt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurueck - ja,
zurueck zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, einen
Menschen-Sinn!
1:838
Hundertfaeltig verflog und vergriff sich bisher so Geist wie Tugend.
Ach, in unserm Leibe wohnt jetzt noch all dieser Wahn und Fehlgriff:
Leib und Wille ist er da geworden.
1:839
Hundertfaeltig versuchte und verirrte sich bisher so Geist wie Tugend.
Ja, ein Versuch war der Mensch. Ach, viel Unwissen und Irrthum ist an
uns Leib geworden!
1:840
Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden - auch ihr Wahnsinn bricht an
uns aus. Gefaehrlich ist es, Erbe zu sein.
1:841
Noch kaempfen wir Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und ueber
der ganzen Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn.
1:842
Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brueder:
und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr
Kaempfende sein! Darum sollt ihr Schaffende sein!
1:843
Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhoeht er sich;
dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhoehten wird die
Seele froehlich.
1:844
Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch. Das sei
seine beste Huelfe, dass er Den mit Augen sehe, der sich selber heil
macht.
1:845
Tausend Pfade giebt es, die nie noch gegangen sind; tausend
Gesundheiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschoepft und
unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde.
1:846
Wachet und horcht, ihr Einsamen! Von der Zukunft her kommen Winde mit
heimlichem Fluegelschlagen; und an feine Ohren ergeht gute Botschaft.
1:847
Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein
Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswaehltet, soll ein
auserwaehltes Volk erwachsen: - und aus ihm der Uebermensch.
1:848
Wahrlich, eine Staette der Genesung soll noch die Erde werden! Und
schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein Heil bringender, - und eine
neue Hoffnung!
1:849
hp 3.
1:850
Als Zarathustra diese Worte gesagt hatte, schwieg er, wie Einer, der
nicht sein letztes Wort gesagt hat; lange wog er den Stab zweifelnd
in seiner Hand. Endlich sprach er also: - und seine Stimme hatte sich
verwandelt.
1:851
Allein gehe ich nun, meine Juenger! Auch ihr geht nun davon und
allein! So will ich es.
1:852
Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen
Zarathustra! Und besser noch: schaemt euch seiner! Vielleicht betrog
er euch.
1:853
Der Mensch der Erkenntniss muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern
auch seine Freunde hassen koennen.
1:854
Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schueler
bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?
1:855
Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfaellt?
Huetet euch, dass euch nicht eine Bildsaeule erschlage!
1:856
Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra!
Ihr seid meine Glaeubigen: aber was liegt an allen Glaeubigen!
1:857
Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle
Glaeubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.
1:858
Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn
ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.
1:859
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brueder, werde ich mir dann meine
Verlorenen suchen; mit einer anderen Liebe werde ich euch dann lieben.
1:860
Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder Einer
Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, dass ich den
grossen Mittag mit euch feiere.
1:861
Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn
steht zwischen Thier und Uebermensch und seinen Weg zum Abende als
seine hoechste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen
Morgen.
1:862
Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein
Hinuebergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntniss wird ihm im
Mittage stehn.
1:863
"Todt sind alle Goetter: nun wollen wir, dass der Uebermensch lebe." -
diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! -
1:864
Also sprach Zarathustra.
1:865
T2 Zweiter Theil
2:1
"- und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch
wiederkehren.
2:2
Wahrlich, mit andern _Augen_, meine Brueder, werde ich mir dann meine
Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben".
2:3
Zarathustra, von der schenkenden Tugend
2:4
Das Kind mit dem Spiegel
2:5
Hierauf gieng Zarathustra wieder zurueck in das Gebirge und in die
Einsamkeit seiner Hoehle und entzog sich den Menschen: wartend gleich
einem Saeemann, der seinen Samen ausgeworfen hat. Seine Seele aber
wurde voll von Ungeduld und Begierde nach Denen, welche er liebte:
denn er hatte ihnen noch Viel zu geben. Diess naemlich ist das
Schwerste, aus Liebe die offne Hand schliessen und als Schenkender die
Scham bewahren.
2:6
Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre; seine Weisheit aber
wuchs und machte ihm Schmerzen durch ihre Fuelle.
2:7
Eines Morgens aber wachte er schon vor der Morgenroethe auf, besann
sich lange auf seinem Lager und sprach endlich zu seinem Herzen:
2:8
Was erschrak ich doch so in meinem Traume, dass ich aufwachte? Trat
nicht ein Kind zu mir, das einen Spiegel trug?
2:9
"Oh Zarathustra - sprach das Kind zu mir - schaue Dich an im Spiegel!"
2:10
Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie ich auf, und mein
Herz war erschuettert: denn nicht mich sahe ich darin, sondern eines
Teufels Fratze und Hohnlachen.
2:11
Wahrlich, allzugut verstehe ich des Traumes Zeichen und Mahnung: meine
_Lehre_ ist in Gefahr, Unkraut will Weizen heissen!
2:12
Meine Feinde sind maechtig worden und haben meiner Lehre Bildniss
entstellt, also, dass meine Liebsten sich der Gaben schaemen muessen,
die ich ihnen gab.
2:13
Verloren giengen mir meine Freunde; die Stunde kam mir, meine
Verlornen zu suchen! -
2:14
Mit diesen Worten sprang Zarathustra auf, aber nicht wie ein
Geaengstigter, der nach Luft sucht, sondern eher wie ein Seher und
Saenger, welchen der Geist anfaellt. Verwundert sahen sein Adler
und seine Schlange auf ihn hin: denn gleich dem Morgenrothe lag ein
kommendes Glueck auf seinem Antlitze.
2:15
Was geschah mir doch, meine Thiere? - sagte Zarathustra. Bin ich nicht
verwandelt! Kam mir nicht die Seligkeit wie ein Sturmwind?
2:16
Thoericht ist mein Glueck und Thoerichtes wird es reden: zu jung noch
ist es - so habt Geduld mit ihm!
2:17
Verwundet bin ich von meinem Gluecke: alle Leidenden sollen mir Arzte
sein!
2:18
Zu meinen Freunden darf ich wieder hinab und auch zu meinen Feinden!
Zarathustra darf wieder reden und schenken und Lieben das Liebste
thun!
2:19
Meine ungeduldige Liebe fliesst ueber in Stroemen, abwaerts, nach
Aufgang und Niedergang. Aus schweigsamem Gebirge und Gewittern des
Schmerzes rauscht meine Seele in die Thaeler.
2:20
Zu lange sehnte ich mich und schaute in die Ferne. Zu lange gehoerte
ich der Einsamkeit: so verlernte ich das Schweigen.
2:21
Mund bin ich worden ganz und gar, und Brausen eines Bachs aus hohen
Felsen: hinab will ich meine Rede stuerzen in die Thaeler.
2:22
Und mag mein Strom der Liebe in Unwegsames stuerzen! Wie sollte ein
Strom nicht endlich den Weg zum Meere finden!
2:23
Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenugsamer; aber
mein Strom der Liebe reisst ihn mit sich hinab - zum Meere!
2:24
Neue Wege gehe ich, eine neue Rede kommt mir; muede wurde ich, gleich
allen Schaffenden, der alten Zungen. Nicht will mein Geist mehr auf
abgelaufnen Sohlen wandeln.
2:25
Zu langsam laeuft mir alles Reden: - in deinen Wagen springe ich,
Sturm! Und auch dich will ich noch peitschen mit meiner Bosheit!
2:26
Wie ein Schrei und ein jauchzen will ich ueber weite Meere hinfahren,
bis ich die glueckseligen Inseln finde, wo meine Freunde weilen: -
2:27
Und meine Feinde unter ihnen! Wie liebe ich nun jeden, zu dem ich nur
reden darf! Auch meine Feinde gehoeren zu meiner Seligkeit.
2:28
Und wenn ich auf mein wildestes Pferd steigen will, so hilft mir mein
Speer immer am besten hinauf: der ist meines Fusses allzeit bereiter
Diener: -
2:29
Der Speer, den ich gegen meine Feinde schleudere! Wie danke ich es
meinen Feinden, dass ich endlich ihn schleudern darf!
2:30
Zu gross war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelaechtern der
Blitze will ich Hagelschauer in die Tiefe werfen.
2:31
Gewaltig wird sich da meine Brust heben, gewaltig wird sie ihren Sturm
ueber die Berge hinblasen: so kommt ihr Erleichterung.
2:32
Wahrlich, einem Sturme gleich kommt mein Glueck und meine Freiheit!
Aber meine Feinde sollen glauben, _der_Boese_ rase ueber ihren
Haeuptern.
2:33
Ja, auch ihr werdet erschreckt sein, meine Freunde, ob meiner wilden
Weisheit; und vielleicht flieht ihr davon sammt meinen Feinden.
2:34
Ach, dass ich's verstuende, euch mit Hirtenfloeten zurueck zu locken!
Ach, dass meine Loewin Weisheit zaertlich bruellen lernte! Und Vieles
lernten wir schon mit einander!
2:35
Meine wilde Weisheit wurde traechtig auf einsamen Bergen; auf rauhen
Steinen gebar sie ihr Junges, Juengstes.
2:36
Nun laeuft sie naerrisch durch die harte Wueste und sucht und sucht
nach sanftem Rasen - meine alte wilde Weisheit!
2:37
Auf eurer Herzen sanften Rasen, meine Freunde! - auf eure Liebe
moechte sie ihr Liebstes betten!
2:38
Also sprach Zarathustra.
2:39
Auf den glueckseligen Inseln
2:40
Die Feigen fallen von den Baeumen, sie sind gut und suess; und indem
sie fallen, reisst ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen
Feigen.
2:41
Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun
trinkt ihren Saft und ihr suesses Fleisch! Herbst ist es umher und
reiner Himmel und Nachmittag.
2:42
Seht, welche Fuelle ist um uns! Und aus dem Ueberflusse heraus ist es
schoen hinaus zu blicken auf ferne Meere.
2:43
Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber
lehrte ich euch sagen: Uebermensch.
2:44
Gott ist eine Muthmaassung; aber ich will, dass euer Muthmaassen nicht
weiter reiche, als euer schaffender Wille.
2:45
Koenntet ihr einen Gott _schaffen_? - So schweigt mir doch von allen
Goettern! Wohl aber koenntet ihr den Uebermenschen schaffen.
2:46
Nicht ihr vielleicht selber, meine Brueder! Aber zu Vaetern und
Vorfahren koenntet ihr euch umschaffen des Uebermenschen: und Diess
sei euer bestes Schaffen! -
2:47
Gott ist eine Muthmaassung: aber ich will, dass euer Muthmaassen
begrenzt sei in der Denkbarkeit.
2:48
Koenntet ihr einen Gott _denken_? - Aber diess bedeute euch Wille
zur Wahrheit, dass Alles verwandelt werde in Menschen - Denkbares,
Menschen - Sichtbares, Menschen - Fuehlbares! Eure eignen Sinne sollt
ihr zu Ende denken!
2:49
Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden:
eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber
werden! Und wahrlich, zu eurer Seligkeit, ihr Erkennenden!
2:50
Und wie wolltet ihr das Leben ertragen ohne diese Hoffnung, ihr
Erkennenden? Weder in's Unbegreifliche duerftet ihr eingeboren sein,
noch in's Unvernuenftige.
2:51
Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: _wenn_ es
Goetter gaebe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein! _Also_ giebt
es keine Goetter.
2:52
Wohl zog ich den Schluss; nun aber zieht er mich. -
2:53
Gott ist eine Muthmaassung: aber wer traenke alle Qual dieser
Muthmaassung, ohne zu sterben? Soll dem Schaffenden sein Glaube
genommen sein und dem Adler sein Schweben in Adler-Fernen?
2:54
Gott ist ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm und Alles, was
steht, drehend. Wie? Die Zeit waere hinweg, und alles Vergaengliche
nur Luege?
2:55
Diess zu denken ist Wirbel und Schwindel menschlichen Gebeinen und
noch dem Magen ein Erbrechen: wahrlich, die drehende Krankheit heisse
ich's, Solches zu muthmaassen.
2:56
Boese heisse ich's und menschenfeindlich: all diess Lehren vom Einen
und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergaenglichen!
2:57
Alles Unvergaengliche - das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter
luegen zuviel. -
2:58
Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob
sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergaenglichkeit!
2:59
Schaffen - das ist die grosse Erloesung vom Leiden, und des Lebens
Leichtwerden. Aber dass der Schaffende sei, dazu selber thut Leid noth
und viel Verwandelung.
2:60
Ja, viel bitteres Sterben muss in eurem Leben sein, ihr Schaffenden!
Also seid ihr Fuersprecher und Rechtfertiger aller Vergaenglichkeit.
2:61
Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde,
dazu muss er auch die Gebaererin sein wollen und der Schmerz der
Gebaererin.
2:62
Wahrlich, durch hundert Seelen gieng ich meinen Weg und durch hundert
Wiegen und Geburtswehen. Manchen Abschied nahm ich schon, ich kenne
die herzbrechenden letzten Stunden.
2:63
Aber so will's mein schaffender Wille, mein Schicksal. Oder, dass
ich's euch redlicher sage: solches Schicksal gerade - will mein Wille.
2:64
Alles Fuehlende leidet an mir und ist in Gefaengnissen: aber mein
Wollen kommt mir stets als mein Befreier und Freudebringer.
2:65
Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit - so
lehrt sie euch Zarathustra.
2:66
Nicht-mehr-wollen und Nicht-mehr-schaetzen und Nicht-mehr-schaffen!
ach, dass diese grosse Muedigkeit mir stets ferne bleibe!
2:67
Auch im Erkennen fuehle ich nur meines Willens Zeuge- und Werde-Lust;
und wenn Unschuld in meiner Erkenntniss ist, so geschieht diess, weil
Wille zur Zeugung in ihr ist.
2:68
Hinweg von Gott und Goettem lockte mich dieser Wille; was waere denn
zu schaffen, wenn Goetter - da waeren!
2:69
Aber zum Menschen treibt er mich stets von Neuem, mein inbruenstiger
Schaffens-Wille; so treibt's den Hammer hin zum Steine.
2:70
Ach, ihr Menschen, im Steine schlaeft mir ein Bild, das Bild meiner
Bilder! Ach, dass es im haertesten, haesslichsten Steine schlafen
muss!
2:71
Nun wuethet mein Hammer grausam gegen sein Gefaengniss. Vom Steine
staeuben Stuecke: was schiert mich das?
2:72
Vollenden will ich's: denn ein Schatten kam zu mir - aller Dinge
Stillstes und Leichtestes kam einst zu mir!
2:73
Des Uebermenschen Schoenheit kam zu mir als Schatten. Ach, meine
Brueder! Was gehen mich noch - die Goetter an! -
2:74
Also sprach Zarathustra.
2:75
Von den Mitleidigen
2:76
Meine Freunde, es kam eine Spottrede zu eurem Freunde: "seht nur
Zarathustra! Wandelt er nicht unter uns wie unter Thieren?"
2:77
Aber so ist es besser geredet: "der Erkennende wandelt unter Menschen
_als_ unter Thieren."
2:78
Der Mensch selber aber heisst dem Erkennenden: das Thier, das rothe
Backen hat.
2:79
Wie geschah ihm das? Ist es nicht, weil er sich zu oft hat schaemen
muessen?
2:80
Oh meine Freunde! So spricht der Erkennende: Scham, Scham, Scham - das
ist die Geschichte des Menschen!
2:81
Und darum gebeut sich der Edle, nicht zu beschaemen: Scham gebeut er
sich vor allem Leidenden.
2:82
Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem
Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham.
2:83
Muss ich mitleidig sein, so will ich's doch nicht heissen; und wenn
ich's bin, dann gern aus der Ferne.
2:84
Gerne verhuelle ich auch das Haupt und fliehe davon, bevor ich noch
erkannt bin: und also heisse ich euch thun, meine Freunde!
2:85
Moege mein Schicksal mir immer Leidlose, gleich euch, ueber den Weg
fuehren, und Solche, mit denen mir Hoffnung und Mahl und Honig gemein
sein _darf_!
2:86
Wahrlich, ich that wohl Das und jenes an Leidenden: aber Besseres
schien ich mir stets zu thun, wenn ich lernte, mich besser freuen.
2:87
Seit es Menschen giebt, hat der Mensch sich zu wenig gefreut: Das
allein, meine Brueder, ist unsre Erbsuende!
2:88
Und lernen wir besser uns freuen, so verlernen wir am besten, Andern
wehe zu thun und Wehes auszudenken.
2:89
Darum wasche ich mir die Hand, die dem Leidenden half, darum wische
ich mir auch noch die Seele ab.
2:90
Denn dass ich den Leidenden leidend sah, dessen schaemte ich mich um
seiner Scham willen; und als ich ihm half, da vergieng ich mich hart
an seinem Stolze.
2:91
Grosse Verbindlichkeiten machen nicht dankbar, sondern rachsuechtig;
und wenn die kleine Wohlthat nicht vergessen wird, so wird noch ein
Nage-Wurm daraus.
2:92
"Seid sproede im Annehmen! Zeichnet aus damit, dass ihr annehmt!" -
also rathe ich Denen, die Nichts zu verschenken haben.
2:93
Ich aber bin ein Schenkender: gerne schenke ich, als Freund den
Freunden. Fremde aber und Arme moegen sich die Frucht selber von
meinem Baume pfluecken: so beschaemt es weniger.
2:94
Bettler aber sollte man ganz abschaffen! Wahrlich, man aergert sich
ihnen zu geben und, aergert sich ihnen nicht zu geben.
2:95
Und insgleichen die Suender und boesen Gewissen! Glaubt mir, meine
Freunde: Gewissensbisse erziehn zum Beissen.
2:96
Das Schlimmste aber sind die kleinen Gedanken. Wahrlich, besser noch
boes gethan, als klein gedacht!
2:97
Zwar ihr sagt: "die Lust an kleinen Bosheiten erspart uns manche
grosse boese That." Aber hier sollte man nicht sparen wollen.
2:98
Wie ein Geschwuer ist die boese That: sie juckt und kratzt und bricht
heraus, - sie redet ehrlich.
2:99
"Siehe, ich bin Krankheit" - so redet die boese That; das ist ihre
Ehrlichkeit.
2:100
Aber dem Pilze gleich ist der kleine Gedanke: er kriecht und duckt
sich und will nirgendswo sein - bis der ganze Leib morsch und welk ist
vor kleinen Pilzen.
2:101
Dem aber, der vom Teufel besessen ist, sage ich diess Wort in's Ohr:
"besser noch, du ziehest deinen Teufel gross! Auch fuer dich giebt es
noch einen Weg der Groesse!" -
2:102
Ach, meine Brueder! Man weiss von Jedermann Etwas zu viel! Und Mancher
wird uns durchsichtig, aber desshalb koennen wir noch lange nicht
durch ihn hindurch.
2:103
Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil Schweigen so schwer ist.
2:104
Und nicht gegen Den, der uns zuwider ist, sind wir am unbilligsten,
sondern gegen Den, welcher uns gar Nichts angeht.
2:105
Hast du aber einen leidenden Freund, so sei seinem Leiden eine
Ruhestaette, doch gleichsam ein hartes Bett, ein Feldbett: so wirst du
ihm am besten nuetzen.
2:106
Und thut dir ein Freund Uebles, so sprich: "ich vergebe dir, was du
mir thatest; dass du es aber _dir_ thatest, - wie koennte ich das
vergeben!"
2:107
Also redet alle grosse Liebe: die ueberwindet auch noch Vergebung und
Mitleiden.
2:108
Man soll sein Herz festhalten; denn laesst man es gehn, wie bald geht
Einem da der Kopf durch!
2:109
Ach, wo in der Welt geschahen groessere Thorheiten, als bei den
Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid, als die
Thorheiten der Mitleidigen?
2:110
Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Hoehe haben, welche ueber
ihrem Mitleiden ist!
2:111
Also sprach der Teufel einst zu mir: "auch Gott hat seine Hoelle: das
ist seine Liebe zu den Menschen."
2:112
Und juengst hoerte ich ihn diess Wort sagen: "Gott ist todt; an seinem
Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben." -
2:113
So seid mir gewarnt vordem Mitleiden: _daher_ kommt noch den Menschen
eine schwere Wolke! Wahrlich, ich verstehe mich auf Wetterzeichen!
2:114
Merket aber auch diess Wort: alle grosse Liebe ist noch ueber all
ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch - schaffen!
2:115
"Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, und meinen Naechsten gleich
mir" - so geht die Rede allen Schaffenden.
2:116
Alle Schaffenden aber sind hart. -
2:117
Also sprach Zarathustra.
2:118
Von den Priestern
2:119
Und einstmals gab Zarathustra seinen Juengern ein Zeichen und sprach
diese Worte zu ihnen:
2:120
"Hier sind Priester: und wenn es auch meine Feinde sind, geht mir
still an ihnen vorueber und mit schlafendem Schwerte!
2:121
Auch unter ihnen sind Helden; Viele von ihnen litten zuviel -: so
wollen sie Andre leiden machen.
2:122
Boese Feinde sind sie: Nichts ist rachsuechtiger als ihre Demuth. Und
leicht besudelt sich Der, welcher sie angreift.
2:123
Aber mein Blut ist mit dem ihren verwandt; und ich will mein Blut auch
noch in dem ihren geehrt wissen." -
2:124
Und als sie vorueber gegangen waren, fiel Zarathustra der Schmerz an;
und nicht lange hatte er mit seinem Schmerze gerungen, da hub er also
an zu reden:
2:125
Es jammert mich dieser Priester. Sie gehen mir auch wider den
Geschmack; aber das ist mir das Geringste, seit ich unter Menschen
bin.
2:126
Aber ich leide und litt mit ihnen: Gefangene sind es mir und
Abgezeichnete. Der, welchen sie Erloeser nennen, schlug sie in
Banden: -
2:127
In Banden falscher Werthe und Wahn-Worte! Ach dass Einer sie noch von
ihrem Erloeser erloeste!
2:128
Auf einem Eilande glaubten sie einst zu landen, als das Meer sie
herumriss; aber siehe, es war ein schlafendes Ungeheuer!
2:129
Falsche Werthe und Wahn-Worte: das sind die schlimmsten Ungeheuer fuer
Sterbliche, - lange schlaeft und wartet in ihnen das Verhaengniss.
2:130
Aber endlich kommt es und wacht und frisst und schlingt, was auf ihm
sich Huetten baute.
2:131
Oh seht mir doch diese Huetten an, die sich diese Priester bauten!
Kirchen heissen sie ihre suessduftenden Hoehlen.
2:132
Oh ueber diess verfaelschte Licht, diese versumpfte Luft! Hier, wo die
Seele zu ihrer Hoehe hinauf - nicht fliegen darf!
2:133
Sondern also gebietet ihr Glaube: "auf den Knien die Treppe hinan, ihr
Suender!"
2:134
Wahrlich, lieber sehe ich noch den Schamlosen, als die verrenkten
Augen ihrer Scham und Andacht!
2:135
Wer schuf sich solche Hoehlen und Buss-Treppen? Waren es nicht Solche,
die sich verbergen wollten und sich vor dem reinen Himmel schaemten?
2:136
Und erst wenn der reine Himmel wieder durch zerbrochne Decken blickt,
und hinab auf Gras und rothen Mohn an zerbrochnen Mauern, - will ich
den Staetten dieses Gottes wieder mein Herz zuwenden.
2:137
Sie nannten Gott, was ihnen widersprach und wehe that: und wahrlich,
es war viel Helden-Art in ihrer Anbetung!
2:138
Und nicht anders wussten sie ihren Gott zu lieben, als indem sie den
Menschen an's Kreuz schlugen!
2:139
Als Leichname gedachten sie zu leben, schwarz schlugen sie ihren
Leichnam aus; auch aus ihren Reden rieche ich noch die ueble Wuerze
von Todtenkammern.
2:140
Und wer ihnen nahe lebt, der lebt schwarzen Teichen nahe, aus denen
heraus die Unke ihr Lied mit suessem Tiefsinne singt.
2:141
Bessere Lieder muessten sie mir singen, dass ich an ihren Erloeser
glauben lerne: erloester muessten mir seine juenger aussehen!
2:142
Nackt moechte ich sie sehn: denn allein die Schoenheit sollte Busse
predigen. Aber wen ueberredet wohl diese vermummte Truebsal!
2:143
Wahrlich, ihre Erloeser selber kamen nicht aus der Freiheit und der
Freiheit siebentem Himmel! Wahrlich, sie selber wandelten niemals auf
den Teppichen der Erkenntniss!
2:144
Aus Luecken bestand der Geist dieser Erloeser; aber in jede Luecke
hatten sie ihren Wahn gestellt, ihren Lueckenbuesser, den sie Gott
nannten.
2:145
In ihrem Mitleiden war ihr Geist ertrunken, und wenn sie schwollen
und ueberschwollen von Mitleiden, schwamm immer obenauf eine grosse
Thorheit.
2:146
Eifrig trieben sie und mit Geschrei ihre Heerde ueber ihren Steg:
wie als ob es zur Zukunft nur Einen Steg gaebe! Wahrlich, auch diese
Hirten gehoerten noch zu den Schafen!
2:147
Kleine Geister und umfaengliche Seelen hatten diese Hirten: aber,
meine Brueder, was fuer kleine Laender waren bisher auch die
umfaenglichsten Seelen!
2:148
Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie giengen, und ihre
Thorheit lehrte, dass man mit Blut die Wahrheit beweise.
2:149
Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die
reinste Lehre noch zu Wahn und Hass der Herzen.
2:150
Und wenn Einer durch's Feuer geht fuer seine Lehre, - was beweist
diess! Mehr ist's wahrlich, dass aus eignem Brande die eigne Lehre
kommt!
2:151
Schwueles Herz und kalter Kopf: wo diess zusammentrifft, da entsteht
der Brausewind, der "Erloeser".
2:152
Groessere gab es wahrlich und Hoeher-Geborene, als Die, welche das
Volk Erloeser nennt, diese hinreissenden Brausewinde!
2:153
Und noch von Groesseren, als alle Erloeser waren, muesst ihr, meine
Brueder, erloest werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden!
2:154
Niemals noch gab es einen Uebermenschen. Nackt sah ich Beide, den
groessten und den kleinsten Menschen: -
2:155
Allzuaehnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Groessten
fand ich - allzumenschlich!
2:156
Also sprach Zarathustra.
2:157
Von den Tugendhaften
2:158
Mit Donnern und himmlischen Feuerwerken muss man zu schlaffen und
schlafenden Sinnen reden.
2:159
Aber der Schoenheit Stimme redet leise: sie schleicht sich nur in die
aufgewecktesten Seelen.
2:160
Leise erbebte und lachte mir heut mein Schild; das ist der Schoenheit
heiliges Lachen und Beben.
2:161
Ueber euch, ihr Tugendhaften, lachte heut meine Schoenheit. Und also
kam ihre Stimme zu mir: "sie wollen noch - bezahlt sein!"
2:162
Ihr wollt noch bezahlt sein, ihr Tugendhaften! Wollt Lohn fuer Tugend
und Himmel fuer Erden und Ewiges fuer euer Heute haben?
2:163
Und nun zuernt ihr mir, dass ich lehre, es giebt keinen Lohn- und
Zahlmeister? Und wahrlich, ich lehre nicht einmal, dass Tugend ihr
eigener Lohn ist.
2:164
Ach, das ist meine Trauer: in den Grund der Dinge hat man Lohn und
Strafe hineingelogen - und nun auch noch in den Grund eurer Seelen,
ihr Tugendhaften!
2:165
Aber dem Ruessel des Ebers gleich soll mein Wort den Grund eurer
Seelen aufreissen; Pflugschar will ich euch heissen.
2:166
Alle Heimlichkeiten eures Grundes sollen an's Licht; und wenn ihr
aufgewuehlt und zerbrochen in der Sonne liegt, wird auch eure Luege
von eurer Wahrheit ausgeschieden sein.
2:167
Denn diess ist eure Wahrheit: ihr seid _zu_reinlich_ fuer den Schmutz
der Worte: Rache, Strafe, Lohn, Vergeltung.
2:168
Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind; aber wann hoerte man,
dass eine Mutter bezahlt sein wollte fuer ihre Liebe?
2:169
Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend. Des Ringes Durst ist in
euch: sich selber wieder zu erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder
Ring.
2:170
Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes Werk eurer Tugend:
immer ist sein Licht noch unterwegs und wandert - und wann wird es
nicht mehr unterwegs sein?
2:171
Also ist das Licht eurer Tugend noch unterwegs, auch wenn das Werk
gethan ist. Mag es nun vergessen und todt sein: sein Strahl von Licht
lebt noch und wandert.
2:172
Dass eure Tugend euer Selbst sei und nicht ein Fremdes, eine Haut,
eine Bemaentelung: das ist die Wahrheit aus dem Grunde eurer Seele,
ihr Tugendhaften! -
2:173
Aber wohl giebt es Solche, denen Tugend der Krampf unter einer
Peitsche heisst: und ihr habt mir zuviel auf deren Geschrei gehoert!
2:174
Und Andre giebt es, die heissen Tugend das Faulwerden ihrer Laster;
und wenn ihr Hass und ihre Eifersucht einmal die Glieder strecken,
wird ihre "Gerechtigkeit" munter und reibt sich die verschlafenen
Augen.
2:175
Und Andre giebt es, die werden abwaerts gezogen: ihre Teufel ziehn
sie. Aber je mehr sie sinken, um so gluehender leuchtet ihr Auge und
die Begierde nach ihrem Gotte.
2:176
Ach, auch deren Geschrei drang zu euren Ohren, ihr Tugendhaften: was
ich _nicht_ bin, das, das ist mir Gott und Tugend!
2:177
Und Andre giebt es, die kommen schwer und knarrend daher, gleich
Waegen, die Steine abwaerts fahren: die reden viel von Wuerde und
Tugend, - ihren Hemmschuh heissen sie Tugend!
2:178
Und Andre giebt es, die sind gleich Alltags-Uhren, die aufgezogen
wurden; sie machen ihr Tiktak und wollen, dass man Tiktak - Tugend
heisse.
2:179
Wahrlich, an Diesen habe ich meine Lust: wo ich solche Uhren finde,
werde ich sie mit meinem Spotte aufziehn; und sie sollen mir dabei
noch schnurren!
2:180
Und Andre sind stolz ueber ihre Handvoll Gerechtigkeit und begehen
um ihrerwillen Frevel an allen Dingen: also dass die Welt in ihrer
Ungerechtigkeit ertraenkt wird.
2:181
Ach, wie uebel ihnen das Wort "Tugend" aus dem Munde laeuft! Und wenn
sie sagen: "ich bin gerecht," so klingt es immer gleich wie: "ich bin
geraecht!"
2:182
Mit ihrer Tugend wollen sie ihren Feinden die Augen auskratzen; und
sie erheben sich nur, um Andre zu erniedrigen.
2:183
Und wiederum giebt es Solche, die sitzen in ihrem Sumpfe und reden
also heraus aus dem Schilfrohr: "Tugend - das ist still im Sumpfe
sitzen.
2:184
Wir beissen Niemanden und gehen Dem aus dem Wege, der beissen will;
und in Allem haben wir die Meinung, die man uns giebt."
2:185
Und wiederum giebt es Solche, die lieben Gebaerden und denken: Tugend
ist eine Art Gebaerde.
2:186
Ihre Kniee beten immer an, und ihre Haende sind Lobpreisungen der
Tugend, aber ihr Herz weiss Nichts davon.
2:187
Und wiederum giebt es Solche, die halten es fuer Tugend, zu sagen:
"Tugend ist nothwendig"; aber sie glauben im Grunde nur daran, dass
Polizei nothwendig ist.
2:188
Und Mancher, der das Hohe an den Menschen nicht sehen kann, nennt es
Tugend, dass er ihr Niedriges allzunahe sieht: also heisst er seinen
boesen Blick Tugend.
2:189
Und Einige wollen erbaut und aufgerichtet sein und heissen es Tugend;
und Andre wollen umgeworfen sein - und heissen es auch Tugend.
2:190
Und derart glauben fast Alle daran, Antheil zu haben an der Tugend;
und zum Mindesten will ein jeder Kenner sein ueber "gut" und "boese".
2:191
Aber nicht dazu kam Zarathustra, allen diesen Luegnern und Narren zu
sagen: "was wisst _ihr_ von Tugend! Was _koenntet_ ihr von Tugend
wissen!" -
2:192
Sondern, dass ihr, meine Freunde, der alten Worte muede wuerdet,
welche ihr von den Narren und Luegnern gelernt habt:
2:193
Muede wuerdet der Worte "Lohn," "Vergeltung," "Strafe," "Rache in der
Gerechtigkeit" -
2:194
Muede wuerdet zu sagen: "dass eine Handlung gut ist, das macht, sie
ist selbstlos."
2:195
Ach, meine Freunde! Dass _euer_ Selbst in der Handlung sei, wie die
Mutter im Kinde ist: das sei mir _euer_ Wort von Tugend!
2:196
Wahrlich, ich nahm euch wohl hundert Worte und eurer Tugend liebste
Spielwerke; und nun zuernt ihr mir, wie Kinder zuernen.
2:197
Sie spielten am Meere, - da kam die Welle und riss ihnen ihr Spielwerk
in die Tiefe: nun weinen sie.
2:198
Aber die selbe Welle soll ihnen neue Spielwerke bringen und neue bunte
Muscheln vor sie hin ausschuetten!
2:199
So werden sie getroestet sein; und gleich ihnen sollt auch ihr, meine
Freunde, eure Troestungen haben - und neue bunte Muscheln! -
2:200
Also sprach Zarathustra.
2:201
Vom Gesindel
2:202
Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mit trinkt, da
sind alle Brunnen vergiftet.
2:203
Allem Reinlichen bin ich hold; aber ich mag die grinsenden Maeuler
nicht sehn und den Durst der Unreinen.
2:204
Sie warfen ihr Auge hinab in den Brunnen: nun glaenzt mir ihr widriges
Laecheln herauf aus dem Brunnen.
2:205
Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Luesternheit; und als
sie ihre schmutzigen Traeume Lust nannten, vergifteten sie auch noch
die Worte.
2:206
Unwillig wird die Flamme, wenn sie ihre feuchten Herzen an's Feuer
legen; der Geist selber brodelt und raucht, wo das Gesindel an's Feuer
tritt.
2:207
Suesslich und uebermuerbe wird in ihrer Hand die Frucht: windfaellig
und wipfelduerr macht ihr Blick den Fruchtbaum.
2:208
Und Mancher, der sich vom Leben abkehrte, kehrte sich nur vom Gesindel
ab: er wollte nicht Brunnen und Flamme und Frucht mit dem Gesindel
theilen.
2:209
Und Mancher, der in die Wueste gieng und mit Raubthieren Durst litt,
wollte nur nicht mit schmutzigen Kameeltreibern um die Cisterne
sitzen.
2:210
Und Mancher, der wie ein Vernichter daher kam und wie ein Hagelschlag
allen Fruchtfeldern, wollte nur seinen Fuss dem Gesindel in den Rachen
setzen und also seinen Schlund stopfen.
2:211
Und nicht das ist der Bissen, an dem ich am meisten wuergte, zu
wissen, dass das Leben selber Feindschaft noethig hat und Sterben und
Marterkreuze: -
2:212
Sondern ich fragte einst und erstickte fast an meiner Frage: wie? hat
das Leben auch das Gesindel _noethig_?
2:213
Sind vergiftete Brunnen noethig und stinkende Feuer und beschmutzte
Traeume und Maden im Lebensbrode?
2:214
Nicht mein Hass, sondern mein Ekel frass mir hungrig am Leben! Ach,
des Geistes wurde ich oft muede, als ich auch das Gesindel geistreich
fand!
2:215
Und den Herrschenden wandt'ich den Ruecken, als ich sah, was sie jetzt
Herrschen nennen: schachern und markten um Macht - mit dem Gesindel!
2:216
Unter Voelkern wohnte ich fremder Zunge, mit verschlossenen Ohren:
dass mir ihres Schacherns Zunge fremd bliebe und ihr Markten um Macht.
2:217
Und die Nase mir haltend, gieng ich unmuthig durch alles Gestern
und Heute: wahrlich, uebel riecht alles Gestern und Heute nach dem
schreibenden Gesindel!
2:218
Einem Krueppel gleich, der taub und blind und stumm wurde: also lebte
ich lange, dass ich nicht mit Macht- und Schreib- und Lust-Gesindel
lebte.
2:219
Muehsam stieg mein Geist Treppen, und vorsichtig; Almosen der Lust
waren sein Labsal; am Stabe schlich dem Blinden das Leben.
2:220
Was geschah mir doch? Wie erloeste ich mich vom Ekel? Wer verjuengte
mein Auge? Wie erflog ich die Hoehe, wo kein Gesindel mehr am Brunnen
sitzt?
2:221
Schuf mein Ekel selber mir Fluegel und quellenahnende Kraefte?
Wahrlich, in's Hoechste musste ich fliegen, dass ich den Born der Lust
wiederfaende!
2:222
Oh, ich fand ihn, meine Brueder! Hier im Hoechsten quillt mir der Born
der Lust! Und es giebt ein Leben, an dem kein Gesindel mit trinkt!
2:223
Fast zu heftig stroemst du mir, Quell der Lust! Und oft leerst du den
Becher wieder, dadurch dass du ihn fuellen willst!
2:224
Und noch muss ich lernen, bescheidener dir zu nahen: allzuheftig
stroemt dir noch mein Herz entgegen: -
2:225
Mein Herz, auf dem mein Sommer brennt, der kurze, heisse,
schwermuethige, ueberselige: wie verlangt mein Sommer-Herz nach deiner
Kuehle!
2:226
Vorbei die zoegernde Truebsal meines Fruehlings! Vorueber die Bosheit
meiner Schneeflocken im Juni! Sommer wurde ich ganz und Sommer-Mittag!
2:227
Ein Sommer im Hoechsten mit kalten Quellen und seliger Stille: oh
kommt, meine Freunde, dass die Stille noch seliger werde! Denn diess
ist _unsre_ Hoehe und unsre Heimat: zu hoch und steil wohnen wir hier
allen Unreinen und ihrem Durste. Werft nur eure reinen Augen in den
Born meiner Lust, ihr Freunde! Wie sollte er darob truebe werden!
Entgegenlachen soll er euch mit _seiner_ Reinheit.
2:228
Auf dem Baume Zukunft bauen wir unser Nest; Adler sollen uns Einsamen
Speise bringen in ihren Schnaebeln!
2:229
Wahrlich, keine Speise, an der Unsaubere mitessen duerften! Feuer
wuerden sie zu fressen waehnen und sich die Maeuler verbrennen!
2:230
Wahrlich, keine Heimstaetten halten wir hier bereit fuer Unsaubere!
Eishoehle wuerde ihren Leibern unser Glueck heissen und ihren
Geistern!
2:231
Und wie starke Winde wollen wir ueber ihnen leben, Nachbarn den
Adlern, Nachbarn dem Schnee, Nachbarn der Sonne: also leben starke
Winde.
2:232
Und einem Winde gleich will ich einst noch zwischen sie blasen und mit
meinem Geiste ihrem Geiste den Athem nehmen: so will es meine Zukunft.
2:233
Wahrlich, ein starker Wind ist Zarathustra allen Niederungen; und
solchen Rath raeth er seinen Feinden und Allem, was spuckt und speit:
huetet euch _gegen_ den Wind zu speien!
2:234
Also sprach Zarathustra.
2:235
Von den Taranteln
2:236
Siehe, das ist der Tarantel Hoehle! Willst du sie selber sehn? Hier
haengt ihr Netz: ruehre daran, dass es erzittert.
2:237
Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem
Ruecken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in
deiner Seele sitzt.
2:238
Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da waechst schwarzer
Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend!
2:239
Also rede ich zu euch im Gleichniss, die ihr die Seelen drehend macht,
ihr Prediger der _Gleichheit_! Taranteln seid ihr mir und versteckte
Rachsuechtige!
2:240
Aber ich will eure Verstecke schon an's Licht bringen: darum lache ich
euch in's Antlitz mein Gelaechter der Hoehe.
2:241
Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wuth euch aus eurer
Luegen-Hoehle locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem Wort
"Gerechtigkeit."
2:242
Denn dass der Mensch erloest werde von der Rache: das ist mir die
Bruecke zur hoechsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen
Unwettern.
2:243
Aber anders wollen es freilich die Taranteln. "Das gerade heisse uns
Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern unsrer
Rache" - also reden sie mit einander.
2:244
"Rache wollen wir ueben und Beschimpfung an Allen, die uns nicht
gleich sind" - so geloben sich die Tarantel-Herzen.
2:245
"Und `Wille zur Gleichheit` - das selber soll fuerderhin der Name
fuer Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser
Geschrei erheben!"
2:246
Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht
schreit also aus euch nach "Gleichheit": eure heimlichsten
Tyrannen-Gelueste vermummen sich also in Tugend-Worte!
2:247
Vergraemter Duenkel, verhaltener Neid, vielleicht eurer Vaeter Duenkel
und Neid: aus euch bricht's als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache.
2:248
Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden; und oft fand ich
den Sohn als des Vaters entbloesstes Geheimniss.
2:249
Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was sie
begeistert, - sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt werden,
ist's nicht der Geist, sondern der Neid, der sie fein und kalt macht.
2:250
Ihre Eifersucht fuehrt sie auch auf der Denker Pfade; und diess ist
das Merkmal ihrer Eifersucht - immer gehn sie zu weit: dass ihre
Muedigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen legen muss.
2:251
Aus jeder ihrer Klagen toent Rache, in jedem ihrer Lobsprueche ist ein
Wehethun; und Richter-sein scheint ihnen Seligkeit.
2:252
Also aber rathe ich euch, meine Freunde: misstraut Allen, in welchen
der Trieb, zu strafen, maechtig ist!
2:253
Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus ihren Gesichtern blickt
der Henker und der Spuerhund.
2:254
Misstraut allen Denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden!
Wahrlich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig.
2:255
Und wenn sie sich selber "die Guten und Gerechten" nennen, so vergesst
nicht, dass ihnen zum Pharisaeer Nichts fehlt als - Macht!
2:256
Meine Freunde, ich will nicht vermischt und verwechselt werden.
2:257
Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom Leben: und zugleich sind
sie Prediger der Gleichheit und Taranteln.
2:258
Dass sie dem Leben zu Willen reden, ob sie gleich in ihrer Hoehle
sitzen, diese Gift-Spinnen, und abgekehrt vom Leben: das macht, sie
wollen damit wehethun.
2:259
Solchen wollen sie damit wehethun, die jetzt die Macht haben: denn bei
diesen ist noch die Predigt vom Tode am besten zu Hause.
2:260
Waere es anders, so wuerden die Taranteln anders lehren: und gerade
sie waren ehemals die besten Welt-Verleumder und Ketzer-Brenner.
2:261
Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und
verwechselt sein. Denn so redet _mir_ die Gerechtigkeit: "die Menschen
sind nicht gleich."
2:262
Und sie sollen es auch nicht werden! Was waere denn meine Liebe zum
Uebermenschen, wenn ich anders spraeche?
2:263
Auf tausend Bruecken und Stegen sollen sie sich draengen zur Zukunft,
und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein:
so laesst mich meine grosse Liebe reden!
2:264
Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren
Feindschaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie noch
gegeneinander den hoechsten Kampf kaempfen!
2:265
Gut und Boese, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und alle Namen
der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass
das Leben sich immer wieder selber ueberwinden muss!
2:266
In die Hoehe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben
selber: in weite Fernen will es blicken und hinaus nach seligen
Schoenheiten, - _darum_ braucht es Hoehe!
2:267
Und weil es Hoehe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der
Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich
ueberwinden.
2:268
Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der Tarantel Hoehle ist,
heben sich eines alten Tempels Truemmer aufwaerts, - seht mir doch mit
erleuchteten Augen hin!
2:269
Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thuermte,
um das Geheimniss alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten!
2:270
Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schoenheit sei und Krieg
um Macht und Uebermacht: das lehrt er uns hier im deutlichsten
Gleichniss.
2:271
Wie sich goettlich hier Gewoelbe und Bogen brechen, im Ringkampfe:
wie mit Licht und Schatten sie wider einander streben, die
goettlich-Strebenden -
2:272
Also sicher und schoen lasst uns auch Feinde sein, meine Freunde!
Goettlich wollen wir _wider_ einander streben! -
2:273
Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine alte Feindin! Goettlich
sicher und schoen biss sie mich in den Finger!
2:274
"Strafe muss sein und Gerechtigkeit - so denkt sie: nicht umsonst soll
er hier der Feindschaft zu Ehren Lieder singen!"
2:275
Ja, sie hat sich geraecht! Und wehe! nun wird sie mit Rache auch noch
meine Seele drehend machen!
2:276
Dass ich mich aber _nicht_ drehe, meine Freunde, bindet mich fest
hier an diese Saeule! Lieber noch Saeulen-Heiliger will ich sein, als
Wirbel der Rachsucht!
2:277
Wahrlich, kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er ein
Taenzer ist, nimmermehr doch ein Tarantel-Taenzer! -
2:278
Also sprach Zarathustra.
2:279
Von den beruehmten Weisen
2:280
Dem Volke habt ihr gedient und des Volkes Aberglauben, ihr beruehmten
Weisen alle! - und _nicht_ der Wahrheit! Und gerade darum zollte man
euch Ehrfurcht.
2:281
Und darum auch ertrug man euren Unglauben, weil er ein Witz und Umweg
war zum Volke. So laesst der Herr seine Sclaven gewaehren und ergoetzt
sich noch an ihrem Uebermuthe.
2:282
Aber wer dem Volke verhasst ist wie ein Wolf den Hunden: das ist der
freie Geist, der Fessel-Feind, der Nicht-Anbeter, der in Waeldern
Hausende.
2:283
Ihn zu jagen aus seinem Schlupfe - das hiess immer dem Volke "Sinn
fuer das Rechte": gegen ihn hetzt es noch immer seine scharfzahnigsten
Hunde.
2:284
"Denn die Wahrheit ist da: ist das Volk doch da! Wehe, wehe den
Suchenden!" - also scholl es von jeher.
2:285
Eurem Volke wolltet ihr Recht schaffen in seiner Verehrung: das
hiesset ihr "Wille zur Wahrheit," ihr beruehmten Weisen!
2:286
Und euer Herz sprach immer zu sich: "vom Volke kam ich: von dort her
kam mir auch Gottes Stimme."
2:287
Hart-nackig und klug, dem Esel gleich, wart ihr immer als des Volkes
Fuersprecher.
2:288
Und mancher Maechtige, der gut fahren wollte mit dem Volke, spannte
vor seine Rosse noch - ein Eselein, einen beruehmten Weisen.
2:289
Und nun wollte ich, ihr beruehmten Weisen, ihr wuerfet endlich das
Fell des Loewen ganz von euch!
2:290
Das Fell des Raubthiers, das buntgefleckte, und die Zotten des
Forschenden, Suchenden, Erobernden!
2:291
Ach, dass ich an eure "Wahrhaftigkeit" glauben lerne, dazu muesstet
ihr mir erst euren verehrenden Willen zerbrechen.
2:292
Wahrhaftig - so heisse ich Den, der in goetterlose Wuesten geht und
sein verehrendes Herz zerbrochen hat.
2:293
Im gelben Sande und verbrannt von der Sonne schielt er wohl durstig
nach den quellenreichen Eilanden, wo Lebendiges unter dunkeln Baeumen
ruht.
2:294
Aber sein Durst ueberredet ihn nicht, diesen Behaglichen gleich zu
werden: denn wo Oasen sind, da sind auch Goetzenbilder.
2:295
Hungernd, gewaltthaetig, einsam, gottlos: so will sich selber der
Loewen-Wille.
2:296
Frei von dem Glueck der Knechte, erloest von Goettern und Anbetungen,
furchtlos und fuerchterlich, gross und einsam: so ist der Wille des
Wahrhaftigen.
2:297
In der Wueste wohnten von je die Wahrhaftigen, die freien Geister, als
der Wueste Herren; aber in den Staedten wohnen die gutgefuetterten,
beruehmten Weisen, - die Zugthiere.
2:298
Immer naemlich ziehen sie, als Esel - des _Volkes_ Karren!
2:299
Nicht dass ich ihnen darob zuerne: aber Dienende bleiben sie mir und
Angeschirrte, auch wenn sie von goldnem Geschirre glaenzen.
2:300
Und oft waren sie gute Diener und preiswuerdige. Denn so spricht die
Tugend: musst du Diener sein, so suche Den, welchem dein Dienst am
besten nuetzt!
2:301
"Der Geist und die Tugend deines Herrn sollen wachsen, dadurch dass du
sein Diener bist: so waechsest du selber mit seinem Geiste und seiner
Tugend!"
2:302
Und wahrlich, ihr beruehmten Weisen, ihr Diener des Volkes! Ihr selber
wuchset mit des Volkes Geist und Tugend - und das Volk durch euch! Zu
euren Ehren sage ich das!
2:303
Aber Volk bleibt ihr mir auch noch in euren Tugenden, Volk mit bloeden
Augen, - Volk, das nicht weiss, was _Geist_ ist!
2:304
Geist ist das Leben, das selber in's Leben schneidet: an der eignen
Qual mehrt es sich das eigne Wissen, - wusstet ihr das schon?
2:305
Und des Geistes Glueck ist diess: gesalbt zu sein und durch Thraenen
geweiht zum Opferthier, - wusstet ihr das schon?
2:306
Und die Blindheit des Blinden und sein Suchen und Tappen soll noch
von der Macht der Sonne zeugen, in die er schaute, - wusstet ihr das
schon?
2:307
Und mit Bergen soll der Erkennende _bauen_ lernen! Wenig ist es, dass
der Geist Berge versetzt, - wusstet ihr das schon?
2:308
Ihr kennt nur des Geistes Funken: aber ihr seht den Ambos nicht, der
er ist, und nicht die Grausamkeit seines Hammers!
2:309
Wahrlich, ihr kennt des Geistes Stolz nicht! Aber noch weniger wuerdet
ihr des Geistes Bescheidenheit ertragen, wenn sie einmal reden wollte!
2:310
Und niemals noch durftet ihr euren Geist in eine Grube von Schnee
werfen: ihr seid nicht heiss genug dazu! So kennt ihr auch die
Entzueckungen seiner Kaelte nicht.
2:311
In Allem aber thut ihr mir zu vertraulich mit dem Geiste; und aus der
Weisheit machtet ihr oft ein Armen- und Krankenhaus fuer schlechte
Dichter.
2:312
Ihr seid keine Adler: so erfuhrt ihr auch das Glueck im Schrekken
des Geistes nicht. Und wer kein Vogel ist, soll sich nicht ueber
Abgruenden lagern.
2:313
Ihr seid mir Laue: aber kalt stroemt jede tiefe Erkenntniss. Eiskalt
sind die innersten Brunnen des Geistes: ein Labsal heissen Haenden und
Handelnden.
2:314
Ehrbar steht ihr mir da und steif und mit geradem Ruecken, ihr
beruehmten Weisen! - euch treibt kein starker Wind und Wille.
2:315
Saht ihr nie ein Segel ueber das Meer gehn, geruendet und geblaeht und
zitternd vor dem Ungestuem des Windes?
2:316
Dem Segel gleich, zitternd vor dem Ungestuem des Geistes, geht meine
Weisheit ueber das Meer - meine wilde Weisheit!
2:317
Aber ihr Diener des Volkes, ihr beruehmten Weisen, - wie _koenntet_
ihr mit mir gehn! -
2:318
Also sprach Zarathustra.
2:319
Das Nachtlied
2:320
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch
meine Seele ist ein springender Brunnen.
2:321
Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch
meine Seele ist das Lied eines Liebenden.
2:322
Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine
Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der
Liebe.
2:323
Licht bin ich: ach, dass ich Nacht waere! Aber diess ist meine
Einsamkeit, dass ich von Licht umguertet bin.
2:324
Ach, dass ich dunkel waere und naechtig! Wie wollte ich an den
Bruesten des Lichts saugen!
2:325
Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen Funkelsterne und
Leuchtwuermer droben! - und selig sein ob eurer Licht-Geschenke.
2:326
Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich
zurueck, die aus mir brechen.
2:327
Ich kenne das Glueck des Nehmenden nicht; und oft traeumte mir davon,
dass Stehlen noch seliger sein muesse, als Nehmen.
2:328
Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals ausruht vom Schenken;
das ist mein Neid, dass ich wartende Augen sehe und die erhellten
Naechte der Sehnsucht.
2:329
Oh Unseligkeit aller Schenkenden! Oh Verfinsterung meiner Sonne! Oh
Begierde nach Begehren! Oh Heisshunger in der Saettigung!
2:330
Sie nehmen von mir: aber ruehre ich noch an ihre Seele? Eine Kluft ist
zwischen Geben und Nehmen; und die kleinste Kluft ist am letzten zu
ueberbruecken.
2:331
Ein Hunger waechst aus meiner Schoenheit: wehethun moechte ich Denen,
welchen ich leuchte, berauben moechte ich meine Beschenkten: - also
hungere ich nach Bosheit.
2:332
Die Hand zurueckziehend, wenn sich schon ihr die Hand entgegenstreckt;
dem Wasserfaelle gleich zoegernd, der noch im Sturze zoegert: - also
hungere ich nach Bosheit.
2:333
Solche Rache sinnt meine Fuelle aus; solche Tuecke quillt aus meiner
Einsamkeit.
2:334
Mein Glueck im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer
selber muede an ihrem Ueberflusse!
2:335
Wer immer schenkt, dessen Gefahr ist, dass er die Scham verliere;
wer immer austheilt, dessen Hand und Herz hat Schwielen vor lauter
Austheilen.
2:336
Mein Auge quillt nicht mehr ueber vor der Scham der Bittenden; meine
Hand wurde zu hart fuer das Zittern gefuellter Haende.
2:337
Wohin kam die Thraene meinem Auge und der Flaum meinem Herzen? Oh
Einsamkeit aller Schenkenden! Oh Schweigsamkeit aller Leuchtenden!
2:338
Viel Sonnen kreisen im oeden Raeume: zu Allem, was dunkel ist, reden
sie mit ihrem Lichte, - mir schweigen sie.
2:339
Oh diess ist die Feindschaft des Lichts gegen Leuchtendes,
erbarmungslos wandelt es seine Bahnen.
2:340
Unbillig gegen Leuchtendes im tiefsten Herzen: kalt gegen Sonnen, -
also wandelt jede Sonne.
2:341
Einem Sturme gleich fliegen die Sonnen ihre Bahnen, das ist ihr
Wandeln. Ihrem unerbittlichen Willen folgen sie, das ist ihre Kaelte.
2:342
Oh, ihr erst seid es, ihr Dunklen, ihr Naechtigen, die ihr Waerme
schafft aus Leuchtendem! Oh, ihr erst trinkt euch Milch und Labsal aus
des Lichtes Eutern!
2:343
Ach, Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich an Eisigem! Ach, Durst
ist in mir, der schmachtet nach eurem Durste!
2:344
Nacht ist es: ach dass ich Licht sein muss! Und Durst nach Naechtigem!
Und Einsamkeit!
2:345
Nacht ist es: nun bricht wie ein Born aus mir mein Verlangen, - nach
Rede verlangt mich.
2:346
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch
meine Seele ist ein springender Brunnen.
2:347
Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch
meine Seele ist das Lied eines Liebenden. -
2:348
Also sang Zarathustra.
2:349
Das Tanzlied
2:350
Eines Abends gieng Zarathustra mit seinen Juengern durch den Wald; und
als er nach einem Brunnen suchte, siehe, da kam er auf eine gruene
Wiese, die von Baeumen und Gebuesch still umstanden war: auf der
tanzten Maedchen mit einander. Sobald die Maedchen Zarathustra
erkannten, liessen sie vom Tanze ab; Zarathustra aber trat mit
freundlicher Gebaerde zu ihnen und sprach diese Worte:
2:351
"Lasst vom Tanze nicht ab, ihr lieblichen Maedchen! Kein
Spielverderber kam zu euch mit boesem Blick, kein Maedchen-Feind.
2:352
Gottes Fuersprecher bin ich vor dem Teufel: der aber ist der Geist der
Schwere. Wie sollte ich, ihr Leichten, goettlichen Taenzen feind sein?
Oder Maedchen-Fuessen mit schoenen Knoecheln?
2:353
Wohl bin ich ein Wald und eine Nacht dunkler Baeume: doch wer sich vor
meinem Dunkel nicht scheut, der findet auch Rosenhaenge unter meinen
Cypressen.
2:354
Und auch den kleinen Gott findet er wohl, der den Maedchen der liebste
ist: neben dem Brunnen liegt er, still, mit geschlossenen Augen.
2:355
Wahrlich, am hellen Tage schlief er mir ein, der Tagedieb! Haschte er
wohl zu viel nach Schmetterlingen?
2:356
Zuernt mir nicht, ihr schoenen Tanzenden, wenn ich den kleinen Gott
ein Wenig zuechtige! Schreien wird er wohl und weinen, - aber zum
Lachen ist er noch im Weinen!
2:357
Und mit Thraenen im Auge soll er euch um einen Tanz bitten; und ich
selber will ein Lied zu seinem Tanze singen:
2:358
Ein Tanz- und Spottlied auf den Geist der Schwere, meinen
allerhoechsten grossmaechtigsten Teufel, von dem sie sagen, dass er
`der Herr der Welt` sei." -
2:359
Und diess ist das Lied, welches Zarathustra sang, als Cupido und die
Maedchen zusammen tanzten.
2:360
In dein Auge schaute ich juengst, oh Leben! Und in's Unergruendliche
schien ich mir da zu sinken.
2:361
Aber du zogst mich mit goldner Angel heraus; spoettisch lachtest du,
als ich dich unergruendlich nannte.
2:362
"So geht die Rede aller Fische, sprachst du; was _sie_ nicht
ergruenden, ist unergruendlich.
2:363
Aber veraenderlich bin ich nur und wild und in Allem ein Weib, und
kein tugendhaftes:
2:364
Ob ich schon euch Maennern `die Tiefe` heisse oder `die Treue`, `die
Ewige`, `die Geheimnissvolle.` -
2:365
Doch ihr Maenner beschenkt uns stets mit den eignen Tugenden - ach,
ihr Tugendhaften!"
2:366
Also lachte sie, die Unglaubliche; aber ich glaube ihr niemals und
ihrem Lachen, wenn sie boes von sich selber spricht.
2:367
Und als ich unter vier Augen mit meiner wilden Weisheit redete, sagte
sie mir zornig: "Du willst, du begehrst, du liebst, darum allein
_lobst_ du das Leben!"
2:368
Fast haette ich da boes geantwortet und der Zornigen die Wahrheit
gesagt; und man kann nicht boeser antworten, als wenn man seiner
Weisheit "die Wahrheit sagt."
2:369
So naemlich steht es zwischen uns Dreien. Von Grund aus liebe ich nur
das Leben - und, wahrlich, am meisten dann, wenn ich es hasse!
2:370
Dass ich aber der Weisheit gut bin und oft zu gut: das macht, sie
erinnert mich gar sehr an das Leben!
2:371
Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr goldnes Angelruethchen: was
kann ich dafuer, dass die Beiden sich so aehnlich sehen?
2:372
Und als mich einmal das Leben fragte: Wer ist denn das, die Weisheit?
- da sagte ich eifrig: "Ach ja! die Weisheit!
2:373
Man duerstet um sie und wird nicht satt, man blickt durch Schleier,
man hascht durch Netze.
2:374
Ist sie schoen? Was weiss ich! Aber die aeltesten Karpfen werden noch
mit ihr gekoedert.
2:375
Veraenderlich ist sie und trotzig; oft sah ich sie sich die Lippe
beissen und den Kamm wider ihres Haares Strich fuehren.
2:376
Vielleicht ist sie boese und falsch, und in Allem ein Frauenzimmer;
aber wenn sie von sich selber schlecht spricht, da gerade verfuehrt
sie am meisten."
2:377
Als ich diess zu dem Leben sagte, da lachte es boshaft und machte die
Augen zu. "Von wem redest du doch? sagte sie, wohl von mir?
2:378
Und wenn du Recht haettest, - sagt man _das_ mir so in's Gesicht! Aber
nun sprich doch auch von deiner Weisheit!"
2:379
Ach, und nun machtest du wieder dein Auge auf, oh geliebtes Leben! Und
in's Unergruendliche schien ich mir wieder zu sinken. -
2:380
Also sang Zarathustra. Als aber der Tanz zu Ende und die Maedchen
fortgegangen waren, wurde er traurig.
2:381
"Die Sonne ist lange schon hinunter, sagte er endlich; die Wiese ist
feucht, von den Waeldern her kommt Kuehle.
2:382
Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nachdenklich. Was! Du lebst
noch, Zarathustra?
2:383
Warum? Wofuer? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht Thorheit, noch zu
leben? -
2:384
Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus mir fragt. Vergebt
mir meine Traurigkeit!
2:385
Abend ward es: vergebt mir, dass es Abend ward!"
2:386
Also sprach Zarathustra.
2:387
Das Grablied
2:388
"Dort ist die Graeberinsel, die schweigsame; dort sind auch die
Graeber meiner Jugend. Dahin will ich einen immergruenen Kranz des
Lebens tragen."
2:389
Also im Herzen beschliessend fuhr ich ueber das Meer. -
2:390
Oh ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen! Oh, ihr Blicke
der Liebe alle, ihr goettlichen Augenblicke! Wie starbt ihr mir so
schnell! Ich gedenke eurer heute wie meiner Todten.
2:391
Von euch her, meinen liebsten Todten, kommt mir ein suesser Geruch,
ein herz- und thraenenloesender. Wahrlich, er erschuettert und loest
das Herz dem einsam Schiffenden.
2:392
Immer noch bin ich der Reichste und Bestzubeneidende - ich der
Einsamste! Denn ich _hatte_ euch doch, und ihr habt mich noch: sagt,
wem fielen, wie mir, solche Rosenaepfel vom Baume?
2:393
Immer noch bin ich eurer Liebe Erbe und Erdreich, bluehend zu eurem
Gedaechtnisse von bunten wildwachsenen Tugenden, oh ihr Geliebtesten!
2:394
Ach, wir waren gemacht, einander nahe zu bleiben, ihr holden fremden
Wunder; und nicht schuechternen Voegeln gleich kamt ihr zu mir und
meiner Begierde - nein, als Trauende zu dem Trauenden!
2:395
Ja, zur Treue gemacht, gleich mir, und zu zaertlichen Ewigkeiten: muss
ich nun euch nach eurer Untreue heissen, ihr goettlichen Blicke und
Augenblicke: keinen andern Namen lernte ich noch.
2:396
Wahrlich, zu schnell starbt ihr mir, ihr Fluechtlinge. Doch floht ihr
mich nicht, noch floh ich euch: unschuldig sind wir einander in unsrer
Untreue.
2:397
_Mich_ zu toedten, erwuergte man euch, ihr Singvoegel meiner
Hoffnungen! Ja, nach euch, ihr Liebsten, schoss immer die Bosheit
Pfeile - mein Herz zu treffen!
2:398
Und sie traf! Wart ihr doch stets mein Herzlichstes, mein Besitz und
mein Besessen-sein: _darum_ musstet ihr jung sterben und allzu fruehe!
2:399
Nach dem Verwundbarsten, das ich besass, schoss man den Pfeil: das
waret ihr, denen die Haut einem Flaume gleich ist und mehr noch dem
Laecheln, das an einem Blick erstirbt!
2:400
Aber diess Wort will ich zu meinen Feinden reden: was ist alles
Menschen-Morden gegen Das, was ihr mir thatet!
2:401
Boeseres thatet ihr mir, als aller Menschen-Mord ist;
Unwiederbringliches nahmt ihr mir: - also rede ich zu euch, meine
Feinde!
2:402
Mordetet ihr doch meiner Jugend Gesichte und liebste Wunder! Meine
Gespielen nahmt ihr mir, die seligen Geister! Ihrem Gedaechtnisse lege
ich diesen Kranz und diesen Fluch nieder.
2:403
Diesen Fluch gegen euch, meine Feinde! Machtet ihr doch mein Ewiges
kurz, wie ein Ton zerbricht in kalter Nacht! Kaum als Aufblinken
goettlicher Augen kam es mir nur, - als Augenblick!
2:404
Also sprach zur guten Stunde einst meine Reinheit: "goettlich sollen
mir alle Wesen sein."
2:405
Da ueberfielt ihr mich mit schmutzigen Gespenstern; ach, wohin floh
nun jene gute Stunde!
2:406
"Alle Tage sollen mir heilig sein" - so redete einst die Weisheit
meiner Jugend: wahrlich, einer froehlichen Weisheit Rede!
2:407
Aber da stahlt ihr Feinde mir meine Naechte und verkauftet sie zu
schlafloser Qual: ach, wohin floh nun jene froehliche Weisheit?
2:408
Einst begehrte ich nach gluecklichen Vogelzeichen: da fuehrtet ihr
mir ein Eulen-Unthier ueber den Weg, ein widriges. Ach, wohin floh da
meine zaertliche Begierde?
2:409
Allem Ekel gelobte ich einst zu entsagen: da verwandeltet ihr meine
Nahen und Naechsten in Eiterbeulen. Ach, wohin floh da mein edelstes
Geloebniss?
2:410
Als Blinder gieng ich einst selige Wege: da warft ihr Unflath auf den
Weg des Blinden: und nun ekelte ihn des alten Blinden-Fusssteigs.
2:411
Und als ich mein Schwerstes that und meiner Ueberwindungen Sieg
feierte: da machtet ihr Die, welche mich liebten, schrein, ich thue
ihnen am wehesten.
2:412
Wahrlich, das war immer euer Thun: ihr vergaelltet mir meinen besten
Honig und den Fleiss meiner besten Bienen.
2:413
Meiner Mildthaetigkeit sandtet ihr immer die frechsten Bettler zu;
um mein Mitleiden draengtet ihr immer die unheilbar Schamlosen. So
verwundetet ihr meine Tugend in ihrem Glauben.
2:414
Und legte ich noch mein Heiligstes zum Opfer hin: flugs stellte eure
"Froemmigkeit" ihre fetteren Gaben dazu: also dass im Dampfe eures
Fettes noch mein Heiligstes erstickte.
2:415
Und einst wollte ich tanzen, wie nie ich noch tanzte: ueber alle
Himmel weg wollte ich tanzen. Da ueberredetet ihr meinen liebsten
Saenger.
2:416
Und nun stimmte er eine schaurige dumpfe Weise an; ach, er tutete mir,
wie ein duesteres Horn, zu Ohren!
2:417
Moerderischer Saenger, Werkzeug der Bosheit, Unschuldigster! Schon
stand ich bereit zum besten Tanze: da mordetest du mit deinen Toenen
meine Verzueckung!
2:418
Nur im Tanze weiss ich der hoechsten Dinge Gleichniss zu reden: - und
nun blieb mir mein hoechstes Gleichniss ungeredet in einen Gliedern!
2:419
Ungeredet und unerloest blieb mir die hoechste Hoffnung! Und es
starben mir alle Gesichte und Troestungen meiner Jugend!
2:420
Wie ertrug ich's nur? Wie verwand und ueberwand ich solche Wunden? Wie
erstand meine Seele wieder aus diesen Graebern?
2:421
Ja, ein Unverwundbares, Unbegrabbares ist an mir, ein
Felsensprengendes: das heisst _mein_Wille_. Schweigsam schreitet es
und unveraendert durch die Jahre.
2:422
Seinen Gang will er gehn auf meinen Fuessen, mein alter Wille;
herzenshart ist ihm der Sinn und unverwundbar.
2:423
Unverwundbar bin ich allein an meiner Ferse. Immer noch lebst du da
und bist dir gleich, Geduldigster! Immer noch brachst du dich durch
alle Graeber!
2:424
In dir lebt auch noch das Unerloeste meiner Jugend; und als Leben und
Jugend sitzest du hoffend hier auf gelben Grab-Truemmern.
2:425
Ja, noch bist du mir aller Graeber Zertruemmerer: Heil dir, mein
Wille! Und nur wo Graeber sind, giebt es Auferstehungen. -
2:426
Also sang Zarathustra. -
2:427
Von der Selbst-Ueberwindung
2:428
"Wille zur Wahrheit" heisst ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt und
bruenstig macht?
2:429
Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse _ich_ euren Willen!
2:430
Alles Seiende wollt ihr erst denkbar _machen_: denn ihr zweifelt mit
gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist.
2:431
Aber es soll sich euch fuegen und biegen! So will's euer Wille.
Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und
Widerbild.
2:432
Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur
Macht; und auch wenn ihr vom Guten und Boesen redet und von den
Werthschaetzungen. Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr knien
koennt: so ist es eure letzte Hoffnung und Trunkenheit.
2:433
Die Unweisen freilich, das Volk, - die sind gleich dem Flusse, auf
dem ein Nachen weiter schwimmt: und im Nachen sitzen feierlich und
vermummt die Werthschaetzungen.
2:434
Euren Willen und eure Werthe setztet ihr auf den Fluss des Werdens;
einen alten Willen zur Macht verraeth mir, was vom Volke als gut und
boese geglaubt wird.
2:435
Ihr wart es, ihr Weisesten, die solche Gaeste in diesen Nachen setzten
und ihnen Prunk und stolze Namen gaben, - ihr und euer herrschender
Wille!
2:436
Weiter traegt nun der Fluss euren Nachen: er _muss_ ihn tragen.
Wenig thut's, ob die gebrochene Welle schaeumt und zornig dem Kiele
widerspricht!
2:437
Nicht der Fluss ist eure Gefahr und das Ende eures Guten und Boesen,
ihr Weisesten: sondern jener Wille selber, der Wille zur Macht, - der
unerschoepfte zeugende Lebens-Wille.
2:438
Aber damit ihr mein Wort versteht vom Guten und Boesen: dazu will ich
euch noch mein Wort vom Leben sagen und von der Art alles Lebendigen.
2:439
Dem Lebendigen gieng ich nach, ich gieng die groessten und die
kleinsten Wege, dass ich seine Art erkenne.
2:440
Mit hundertfachem Spiegel fieng ich noch seinen Blick auf, wenn ihm
der Mund geschlossen war: dass sein Auge mir rede. Und sein Auge
redete mir.
2:441
Aber, wo ich nur Lebendiges fand, da hoerte ich auch die Rede vom
Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes.
2:442
Und diess ist das Zweite: Dem wird befohlen, der sich nicht selber
gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art.
2:443
Diess aber ist das Dritte, was ich hoerte: dass Befehlen schwerer
ist, als Gehorchen. Und nicht nur, dass der Befehlende die Last aller
Gehorchenden traegt, und dass leicht ihn diese Last zerdrueckt: -
2:444
Ein Versuch und Wagniss erschien mir in allem Befehlen; und stets,
wenn es befiehlt, wagt das Lebendige sich selber dran.
2:445
Ja noch, wenn es sich selber befiehlt: auch da noch muss es sein
Befehlen buessen. Seinem eignen Gesetze muss es Richter und Raecher
und Opfer werden.
2:446
Wie geschieht diess doch! so fragte ich mich. Was ueberredet das
Lebendige, dass es gehorcht und befiehlt und befehlend noch Gehorsam
uebt?
2:447
Hoert mir nun mein Wort, ihr Weisesten! Prueft es ernstlich, ob
ich dem Leben selber in's Herz kroch und bis in die Wurzeln seines
Herzens!
2:448
Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im
Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.
2:449
Dass dem Staerkeren diene das Schwaechere, dazu ueberredet es sein
Wille, der ueber noch Schwaecheres Herr sein will: dieser Lust allein
mag es nicht entrathen.
2:450
Und wie das Kleinere sich dem Groesseren hingiebt, dass es Lust und
Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Groesste noch hin
und setzt um der Macht willen - das Leben dran.
2:451
Das ist die Hingebung des Groessten, dass es Wagniss ist und Gefahr
und um den Tod ein Wuerfelspielen.
2:452
Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille,
Herr zu sein. Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwaechere in
die Burg und bis in's Herz dem Maechtigeren - und stiehlt da Macht.
2:453
Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. Siehe, sprach es,
ich bin das, was sich immer selber ueberwinden muss.
2:454
"Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum
Hoeheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess ist Eins und Ein
Geheimniss.
2:455
Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen absagte; und
wahrlich, wo es Untergang giebt und Blaetterfallen, siehe, da opfert
sich Leben - um Macht!
2:456
Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke
Widerspruch: ach, wer meinen Willen erraeth, erraeth wohl auch, auf
welchen _krummen_ Wegen er gehen muss!
2:457
Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, - bald muss ich Gegner
ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille.
2:458
Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fusstapfen meines
Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Fuessen
deines Willens zur Wahrheit!
2:459
Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom
`Willen zum Dasein`: diesen Willen - giebt es nicht!
2:460
Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist,
wie koennte das noch zum Dasein wollen!
2:461
Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben,
sondern - so lehre ich's dich - Wille zur Macht!
2:462
Vieles ist dem Lebenden hoeher geschaetzt, als Leben selber; doch aus
dem Schaetzen selber heraus redet - der Wille zur Macht!" -
2:463
Also lehrte mich einst das Leben: und daraus loese ich euch, ihr
Weisesten, noch das Raethsel eures Herzens.
2:464
Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Boeses, das unvergaenglich waere
- das giebt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder
ueberwinden.
2:465
Mit euren Werthen und Worten von Gut und Boese uebt ihr Gewalt, ihr
Werthschaetzenden: und diess ist eure verborgene Liebe und eurer Seele
Glaenzen, Zittern und Ueberwallen.
2:466
Aber eine staerkere Gewalt waechst aus euren Werthen und eine neue
Ueberwindung: an der zerbricht Ei und Eierschale.
2:467
Und wer ein Schoepfer sein muss im Guten und Boesen: wahrlich, der
muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen.
2:468
Also gehoert das hoechste Boese zur hoechsten Guete: diese aber ist
die schoepferische. -
2:469
Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist.
Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenere Wahrheiten werden
giftig.
2:470
Und mag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen -
kann! Manches Haus giebt es noch zu bauen!
2:471
Also sprach Zarathustra.
2:472
Von den Erhabenen
2:473
Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er
scherzhafte Ungeheuer birgt!
2:474
Unerschuetterlich ist meine Tiefe: aber sie glaenzt von schwimmenden
Raethseln und Gelaechtern.
2:475
Einen Erhabenen sah ich heute, einen Feierlichen, einen Buesser des
Geistes: oh wie lachte meine Seele ob seiner Haesslichkeit!
2:476
Mit erhobener Brust und Denen gleich, welche den Athem an sich ziehn:
also stand er da, der Erhabene, und schweigsam:
2:477
Behaengt mit haesslichen Wahrheiten, seiner Jagdbeute, und reich an
zerrissenen Kleidern; auch viele Dornen hiengen an ihm - aber noch sah
ich keine Rose.
2:478
Noch lernte er das Lachen nicht und die Schoenheit. Finster kam dieser
Jaeger zurueck aus dem Walde der Erkenntniss.
2:479
Vom Kampfe kehrte er heim mit wilden Thieren: aber aus seinem Ernste
blickt auch noch ein wildes Thier - ein unueberwundenes!
2:480
Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich mag
diese gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen
Zurueckgezognen.
2:481
Und ihr sagt mir, Freunde, dass nicht zu streiten sei ueber Geschmack
und Schmecken? Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken!
2:482
Geschmack: das ist Gewicht zugleich und Wagschale und Waegender; und
wehe allem Lebendigen, das ohne Streit um Gewicht und Wagschale und
Waegende leben wollte!
2:483
Wenn er seiner Erhabenheit muede wuerde, dieser Erhabene: dann
erst wuerde seine Schoenheit anheben, - und dann erst will ich ihn
schmecken und schmackhaft finden.
2:484
Und erst, wenn er sich von sich selber abwendet, wird er ueber seinen
eignen Schatten springen - und, wahrlich! hinein in _seine_ Sonne.
2:485
Allzulange sass er im Schatten, die Wangen bleichten dem Buesser des
Geistes; fast verhungerte er an seinen Erwartungen.
2:486
Verachtung ist noch in seinem Auge; und Ekel birgt sich an seinem
Munde. Zwar ruht er jetzt, aber seine Ruhe hat sich noch nicht in die
Sonne gelegt.
2:487
Dem Stiere gleich sollte er thun; und sein Glueck sollte nach Erde
riechen und nicht nach Verachtung der Erde.
2:488
Als weissen Stier moechte ich ihn sehn, wie er schnaubend und
bruellend der Pflugschar vorangeht: und sein Gebruell sollte noch
alles Irdische preisen!
2:489
Dunkel noch ist sein Antlitz; der Hand Schatten spielt auf ihm.
Verschattet ist noch der Sinn seines Auges.
2:490
Seine That selber ist noch der Schatten auf ihm: die Hand verdunkelt
den Handelnden. Noch hat er seine That nicht ueberwunden.
2:491
Wohl liebe ich an ihm den Nacken des Stiers: aber nun will ich auch
noch das Auge des Engels sehn.
2:492
Auch seinen Helden-Willen muss er noch verlernen: ein Gehobener soll
er mir sein und nicht nur ein Erhabener: - der Aether selber sollte
ihn heben, den Willenlosen!
2:493
Er bezwang Unthiere, er loeste Raethsel: aber erloesen sollte er auch
noch seine Unthiere und Raethsel, zu himmlischen Kindern sollte er sie
noch verwandeln.
2:494
Noch hat seine Erkenntniss nicht laecheln gelernt und ohne Eifersucht
sein; noch ist seine stroemende Leidenschaft nicht stille geworden in
der Schoenheit.
2:495
Wahrlich, nicht in der Sattheit soll sein Verlangen schweigen und
untertauchen, sondern in der Schoenheit! Die Anmuth gehoert zur
Grossmuth des Grossgesinnten.
2:496
Den Arm ueber das Haupt gelegt: so sollte der Held ausruhn, so sollte
er auch noch sein Ausruhen ueberwinden.
2:497
Aber gerade dem Helden ist das _Schoene_ aller Dinge Schwerstes.
Unerringbar ist das Schoene allem heftigen Willen.
2:498
Ein Wenig mehr, ein Wenig weniger: das gerade ist hier Viel, das ist
hier das Meiste.
2:499
Mit laessigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das ist das
Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen!
2:500
Wenn die Macht gnaedig wird und herabkommt in's Sichtbare: Schoenheit
heisse ich solches Herabkommen.
2:501
Und von Niemandem will ich so als von dir gerade Schoenheit, du
Gewaltiger: deine Guete sei deine letzte Selbst- Ueberwaeltigung.
2:502
Alles Boese traue ich dir zu: darum will ich von dir das Gute.
2:503
Wahrlich, ich lachte oft der Schwaechlinge, welche sich gut glauben,
weil sie lahme Tatzen haben!
2:504
Der Saeule Tugend sollst du nachstreben: schoener wird sie immer und
zarter, aber inwendig haerter und tragsamer, je mehr sie aufsteigt.
2:505
Ja, du Erhabener, einst sollst du noch schoen sein und deiner eignen
Schoenheit den Spiegel vorhalten.
2:506
Dann wird deine Seele vor goettlichen Begierden schaudern; und
Anbetung wird noch in deiner Eitelkeit sein!
2:507
Diess naemlich ist das Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der Held
verlassen hat, naht ihr, im Traume, - der Ueber-Held.
2:508
Also sprach Zarathustra.
2:509
Vom Lande der Bildung
2:510
Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein Grauen ueberfiel mich.
2:511
Und als ich um mich sah, siehe! da war die Zeit mein einziger
Zeitgenosse.
2:512
Da floh ich rueckwaerts, heimwaerts - und immer eilender: so kam ich
zu euch, ihr Gegenwaertigen, und in's Land der Bildung.
2:513
Zum ersten Male brachte ich ein Auge mit fuer euch, und gute Begierde:
wahrlich, mit Sehnsucht im Herzen kam ich.
2:514
Aber wie geschah mir? So angst mir auch war, - ich musste lachen! Nie
sah mein Auge etwas so Buntgesprenkeltes!
2:515
Ich lachte und lachte, waehrend der Fuss mir noch zitterte und das
Herz dazu: "hier ist ja die Heimat aller Farbentoepfe!" - sagte ich.
2:516
Mit fuenfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so sasset ihr da
zu meinem Staunen, ihr Gegenwaertigen!
2:517
Und mit fuenfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele
schmeichelten und nachredeten!
2:518
Wahrlich, ihr koenntet gar keine bessere Maske tragen, ihr
Gegenwaertigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer koennte euch -
_erkennen_!
2:519
Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese
Zeichen ueberpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut
versteckt vor allen Zeichendeutern!
2:520
Und wenn man auch Nierenpruefer ist: wer glaubt wohl noch, dass
ihr Nieren habt! Aus Farben scheint ihr gebacken und aus geleimten
Zetteln.
2:521
Alle Zeiten und Voelker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten
und Glauben reden bunt aus euren Gebaerden.
2:522
Wer von euch Schleier und Ueberwuerfe und Farben und Gebaerden
abzoege: gerade genug wuerde er uebrig behalten, um die Voegel damit
zu erschrecken.
2:523
Wahrlich, ich selber bin der erschreckte Vogel, der euch einmal nackt
sah und ohne Farbe; und ich flog davon, als das Gerippe mir Liebe
zuwinkte.
2:524
Lieber wollte ich doch noch Tageloehner sein in der Unterwelt und bei
den Schatten des Ehemals! - feister und voller als ihr sind ja noch
die Unterweltlichen!
2:525
Diess, ja diess ist Bitterniss meinen Gedaermen, dass ich euch weder
nackt, noch bekleidet aushalte, ihr Gegenwaertigen!
2:526
Alles Unheimliche der Zukunft, und was je verflogenen Voegeln
Schauder machte, ist wahrlich heimlicher noch und traulicher als eure
"Wirklichkeit".
2:527
Denn so sprecht ihr: "Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben und
Aberglauben": also bruestet ihr euch - ach, auch noch ohne Brueste!
2:528
Ja, wie solltet ihr glauben _koennen_, ihr Buntgesprenkelten! - die
ihr Gemaelde seid von Allem, was je geglaubt wurde!
2:529
Wandelnde Widerlegungen seid ihr des Glaubens selber, und aller
Gedanken Gliederbrechen. _Unglaubwuerdige_: also heisse _ich_ euch,
ihr Wirklichen!
2:530
Alle Zeiten schwaetzen wider einander in euren Geistern; und aller
Zeiten Traeume und Geschwaetz waren wirklicher noch als euer Wachsein
ist!
2:531
Unfruchtbare seid ihr: _darum_ fehlt es euch an Glauben. Aber
wer schaffen musste, der hatte auch immer seine Wahr-Traeume und
Stern-Zeichen - und glaubte an Glauben! -
2:532
Halboffne Thore seid ihr, an denen Todtengraeber warten. Und das ist
_eure_ Wirklichkeit: "Alles ist werth, dass es zu Grunde geht."
2:533
Ach, wie ihr mir dasteht, ihr Unfruchtbaren, wie mager in den Rippen!
Und Mancher von euch hatte wohl dessen selber ein Einsehen.
2:534
Und er sprach: "es hat wohl da ein Gott, als ich schlief, mir heimlich
Etwas entwendet? Wahrlich, genug, sich ein Weibchen daraus zu bilden!
2:535
Wundersam ist die Armuth meiner Rippen!" also sprach schon mancher
Gegenwaertige.
2:536
Ja, zum Lachen seid ihr mir, ihr Gegenwaertigen! Und sonderlich, wenn
ihr euch ueber euch selber wundert!
2:537
Und wehe mir, wenn ich nicht lachen koennte ueber eure Verwunderung,
und alles Widrige aus euren Naepfen hinunter trinken muesste!
2:538
So aber will ich's mit euch leichter nehmen, da ich _Schweres_ zu
tragen habe; und was thut's mir, wenn sich Kaefer und Fluegelwuermer
noch auf mein Buendel setzen!
2:539
Wahrlich, es soll mir darob nicht schwerer werden! Und nicht aus euch,
ihr Gegenwaertigen, soll mir die grosse Muedigkeit kommen. - Ach,
wohin soll ich nun noch steigen mit meiner Sehnsucht! Von allen Bergen
schaue ich aus nach Vater- und Mutterlaendern.
2:540
Aber Heimat fand ich nirgends: unstaet bin ich in allen Staedten und
ein Aufbruch an allen Thoren.
2:541
Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwaertigen, zu denen mich juengst
das Herz trieb; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterlaendern.
2:542
So liebe ich allein noch meiner _Kinder_Land_, das unentdeckte, im
fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen.
2:543
An meinen Kindern will ich es gut machen, dass ich meiner Vaeter Kind
bin: und an aller Zukunft - _diese_ Gegenwart!
2:544
Also sprach Zarathustra.
2:545
Von der unbefleckten Erkenntniss
2:546
Als gestern der Mond aufgieng, waehnte ich, dass er eine Sonne
gebaeren wolle: so breit und traechtig lag er am Horizonte.
2:547
Aber ein Luegner war er mir mit seiner Schwangerschaft; und eher noch
will ich an den Mann im Monde glauben als an das Weib.
2:548
Freilich, wenig Mann ist er auch, dieser schuechterne Nachtschwaermer.
Wahrlich, mit schlechtem Gewissen wandelt er ueber die Daecher.
2:549
Denn er ist luestern und eifersuechtig, der Moench im Monde, luestern
nach der Erde und nach allen Freuden der Liebenden.
2:550
Nein, ich mag ihn nicht, diesen Kater auf den Daechern! Widerlich sind
mir Alle, die um halbverschlossne Fenster schleichen!
2:551
Fromm und schweigsam wandelt er hin auf Sternen-Teppichen: - aber ich
mag alle leisetretenden Mannsfuesse nicht, an denen auch nicht ein
Sporen klirrt.
2:552
Jedes Redlichen Schritt redet; die Katze aber stiehlt sich ueber den
Boden weg. Siehe, katzenhaft kommt der Mond daher und unredlich. -
2:553
Dieses Gleichniss gebe ich euch empfindsamen Heuchlern, euch, den
"Rein-Erkennenden!" Euch heisse _ich_ - Luesterne!
2:554
Auch ihr liebt die Erde und das Irdische: ich errieth euch wohl! -
aber Scham ist in eurer Liebe und schlechtes Gewissen, - dem Monde
gleicht ihr!
2:555
Zur Verachtung des Irdischen hat man euren Geist ueberredet, aber
nicht eure Eingeweide: _die_ aber sind das Staerkste an euch!
2:556
Und nun schaemt sich euer Geist, dass er euren Eingeweiden zu willen
ist und geht vor seiner eignen Scham Schleich- und Luegenwege.
2:557
"Das waere mir das Hoechste - also redet euer verlogner Geist zu sich
- auf das Leben ohne Begierde zu schaun und nicht gleich dem Hunde mit
haengender Zunge:
2:558
Gluecklich zu sein im Schauen, mit erstorbenem Willen, ohne Griff und
Gier der Selbstsucht - kalt und aschgrau am ganzen Leibe, aber mit
trunkenen Mondesaugen!"
2:559
"Das waere mir das Liebste, - also verfuehrt sich selber der
Verfuehrte - die Erde zu lieben, wie der Mond sie liebt, und nur mit
dem Auge allein ihre Schoenheit zu betasten.
2:560
Und das heisse mir aller Dinge _unbefleckte_ Erkenntniss, dass ich von
den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da liegen darf wie
ein Spiegel mit hundert Augen." -
2:561
Oh, ihr empfindsamen Heuchler, ihr Luesternen! Euch fehlt die Unschuld
in der Begierde: und nun verleumdet ihr drum das Begehren!
2:562
Wahrlich, nicht als Schaffende, Zeugende, Werdelustige liebt ihr die
Erde!
2:563
Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer ueber sich
hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen.
2:564
Wo ist Schoenheit? Wo ich mit allem Willen _wollen_muss_; wo ich
lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe.
2:565
Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe:
das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen!
2:566
Aber nun will euer entmanntes Schielen "Beschaulichkeit" heissen! Und
was mit feigen Augen sich tasten laesst, soll "schoen" getauft werden!
oh, ihr Beschmutzer edler Namen!
2:567
Aber das soll euer Fluch sein, ihr Unbefleckten, ihr Rein-Erkennenden,
dass ihr nie gebaeren werdet: und wenn ihr auch breit und traechtig am
Horizonte liegt!
2:568
Wahrlich, ihr nehmt den Mund voll mit edlen Worten: und wir sollen
glauben, dass euch das Herz uebergehe, ihr Luegenbolde?
2:569
Aber in _eine_ Worte sind geringe, verachtete, krumme Worte: gerne
nehme ich auf, was bei eurer Mahlzeit unter den Tisch faellt.
2:570
Immer noch kann ich mit ihnen - Heuchlern die Wahrheit sagen! ja,
meine Graeten, Muscheln und Stachelblaetter sollen - Heuchlern die
Nasen kitzeln!
2:571
Schlechte Luft ist immer um euch und eure Mahlzeiten: eure luesternen
Gedanken, eure Luegen und Heimlichkeiten sind ja in der Luft!
2:572
Wagt es doch erst, euch selber zu glauben - euch und euren
Eingeweiden! Wer sich selber nicht glaubt, luegt immer.
2:573
Eines Gottes Larve haengtet ihr um vor euch selber, ihr "Reinen": in
eines Gottes Larve verkroch sich euer greulicher Ringelwurm.
2:574
Wahrlich, ihr taeuscht, ihr "Beschaulichen"! Auch Zarathustra war
einst der Narr eurer goettlichen Haeute; nicht errieth er das
Schlangengeringel, mit denen sie gestopft waren.
2:575
Eines Gottes Seele waehnte ich einst spielen zu sehn in euren Spielen,
ihr Rein-Erkennenden! Keine bessere Kunst waehnte ich einst als eure
Kuenste!
2:576
Schlangen-Unflath und schlimmen Geruch verhehlte mir die Ferne: und
dass einer Eidechse List luestern hier herumschlich.
2:577
Aber ich kam euch _nah_: da kam mir der Tag - und nun kommt er euch, -
zu Ende gieng des Mondes Liebschaft!
2:578
Seht doch hin! Ertappt und bleich steht er da - vor der Morgenroethe!
2:579
Denn schon kommt sie, die Gluehende, - _ihre_ Liebe zur Erde kommt!
Unschuld und Schoepfer-Begier ist alle Sonnen-Liebe!
2:580
Seht doch hin, wie sie ungeduldig ueber das Meer kommt! Fuehlt ihr den
Durst und den heissen Athem ihrer Liebe nicht?
2:581
Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich in die Hoehe trinken:
da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Bruesten.
2:582
Gekuesst und gesaugt _will_ es sein vom Durste der Sonne; Luft _will_
es werden und Hoehe und Fusspfad des Lichts und selber Licht!
2:583
Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere.
2:584
Und diess heisst _mir_ Erkenntniss: alles Tiefe soll hinauf - zu
meiner Hoehe!
2:585
Also sprach Zarathustra.
2:586
Von den Gelehrten
2:587
Als ich im Schlafe lag, da frass ein Schaf am Epheukranze meines
Hauptes, - frass und sprach dazu: "Zarathustra ist kein Gelehrter
mehr."
2:588
Sprach's und gieng stotzig davon und stolz. Ein Kind erzaehlte mir's.
2:589
Gerne liege ich hier, wo die Kinder spielen, an der zerbrochnen Mauer,
unter Disteln und rothen Mohnblumen.
2:590
Ein Gelehrter bin ich den Kindern noch und auch den Disteln und rothen
Mohnblumen. Unschuldig sind sie, selbst noch in ihrer Bosheit.
2:591
Aber den Schafen bin ich's nicht mehr: so will es mein Loos - gesegnet
sei es!
2:592
Denn diess ist die Wahrheit: ausgezogen bin ich aus dem Hause der
Gelehrten: und die Thuer habe ich noch hinter mir zugeworfen.
2:593
Zu lange sass meine Seele hungrig an ihrem Tische; nicht, gleich
ihnen, bin ich auf das Erkennen abgerichtet wie auf das Nuesseknacken.
2:594
Freiheit liebe ich und die Luft ueber frischer Erde; lieber noch
will ich auf Ochsenhaeuten schlafen, als auf ihren Wuerden und
Achtbarkeiten.
2:595
Ich bin zu heiss und verbrannt von eigenen Gedanken: oft will es mir
den Athem nehmen. Da muss ich in's Freie und weg aus allen verstaubten
Stuben.
2:596
Aber sie sitzen kuehl in kuehlem Schatten: sie wollen in Allem nur
Zuschauer sein und hueten sich dort zu sitzen, wo die Sonne auf die
Stufen brennt.
2:597
Gleich Solchen, die auf der Strasse stehn und die Leute angaffen,
welche voruebergehn: also warten sie auch und gaffen Gedanken an, die
Andre gedacht haben.
2:598
Greift man sie mit Haenden, so staeuben sie um sich gleich
Mehlsaecken, und unfreiwillig. aber wer erriethe wohl, dass ihr Staub
vom Korne stammt und von der gelben Wonne der Sommerfelder?
2:599
Geben sie sich weise, so froestelt mich ihrer kleinen Sprueche und
Wahrheiten: ein Geruch ist oft an ihrer Weisheit, als ob sie aus dem
Sumpfe stamme: und wahrlich, ich hoerte auch schon den Frosch aus ihr
quaken!
2:600
Geschickt sind sie, sie haben kluge Finger: was will _meine_ Einfalt
bei ihrer Vielfalt! Alles Faedeln und Knuepfen und Weben verstehn ihre
Finger: also wirken sie die Struempfe des Geistes!
2:601
Gute Uhrwerke sind sie: nur sorge man, sie richtig aufzuziehn! Dann
zeigen sie ohne Falsch die Stunde an und machen einen bescheidnen
Laerm dabei.
2:602
Gleich Muehlwerken arbeiten sie und Stampfen: man werfe ihnen nur
seine Fruchtkoerner zu! - sie wissen schon, Korn klein zu mahlen und
weissen Staub daraus zu machen.
2:603
Sie sehen einander gut auf die Finger und trauen sich nicht zum
Besten. Erfinderisch in kleinen Schlauheiten warten sie auf Solche,
deren Wissen auf lahmen Fuessen geht, - gleich Spinnen warten sie.
2:604
Ich sah sie immer mit Vorsicht Gift bereiten; und immer zogen sie
glaeserne Handschuhe dabei an ihre Finger.
2:605
Auch mit falschen Wuerfeln wissen sie zu spielen; und so eifrig fand
ich sie spielen, dass sie dabei schwitzten.
2:606
Wir sind einander fremd, und ihre Tugenden gehn mir noch mehr wider
den Geschmack, als ihre Falschheiten und falschen Wuerfel.
2:607
Und als ich bei ihnen wohnte, da wohnte ich ueber ihnen. Darueber
wurden sie mir gram.
2:608
Sie wollen Nichts davon hoeren, dass Einer ueber ihren Koepfen
wandelt; und so legten sie Holz und Erde und Unrath zwischen mich und
ihre Koepfe.
2:609
Also daempften sie den Schall meiner Schritte: und am schlechtesten
wurde ich bisher von den Gelehrtesten gehoert.
2:610
Aller Menschen Fehl und Schwaeche legten sie zwischen sich und mich: -
"Fehlboden" heissen sie das in ihren Haeusern.
2:611
Aber trotzdem wandele ich mit meinen Gedanken _ueber_ ihren Koepfen;
und selbst, wenn ich auf meinen eignen Fehlern wandeln wollte, wuerde
ich noch ueber ihnen sein und ihren Koepfen.
2:612
Denn die Menschen sind _nicht_ gleich: so spricht die Gerechtigkeit.
Und was ich will, duerften _sie_ nicht wollen!
2:613
Also sprach Zarathustra.
2:614
Von den Dichtern
2:615
"Seit ich den Leib besser kenne, - sagte Zarathustra zu einem seiner
Juenger - ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das
`Unvergaengliche` - das ist auch nur ein Gleichniss."
2:616
"So hoerte ich dich schon einmal sagen, antwortete der Juenger; und
damals fuegtest du hinzu: `aber die Dichter luegen zuviel.` Warum
sagtest du doch, dass die Dichter zuviel luegen?"
2:617
"Warum? sagte Zarathustra. Du fragst warum? Ich gehoere nicht zu
Denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf.
2:618
Ist denn mein Erleben von Gestern? Das ist lange her, dass ich die
Gruende meiner Meinungen erlebte.
2:619
Muesste ich nicht ein Fass sein von Gedaechtniss, wenn ich auch meine
Gruende bei mir haben wollte?
2:620
Schon zuviel ist mir's, meine Meinungen selber zu behalten; und
mancher Vogel fliegt davon.
2:621
Und mitunter finde ich auch ein zugezogenes Thier in meinem
Taubenschlage, das mir fremd ist, und das zittert, wenn ich meine Hand
darauf lege.
2:622
Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die Dichter zuviel luegen?
- Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.
2:623
Glaubst du nun, dass er hier die Wahrheit redete? Warum glaubst du
das?"
2:624
Der Juenger antwortete: "ich glaube an Zarathustra." Aber Zarathustra
schuettelte den Kopf und laechelte.
2:625
Der Glaube macht mich nicht selig, sagte er, zumal nicht der Glaube an
mich.
2:626
Aber gesetzt, dass jemand allen Ernstes sagte, die Dichter luegen
zuviel: so hat er Recht, - _wir_ luegen zuviel.
2:627
Wir wissen auch zu wenig und sind schlechte Lerner: so muessen wir
schon luegen.
2:628
Und wer von uns Dichtern haette nicht seinen Wein verfaelscht?
Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern, manches
Unbeschreibliche ward da gethan.
2:629
Und weil wir wenig wissen, so gefallen uns von Herzen die geistig
Armen, sonderlich wenn es junge Weibchen sind!
2:630
Und selbst nach den Dingen sind wir noch begehrlich, die sich die
alten Weibchen Abends erzaehlen. Das heissen wir selber an uns das
Ewig-Weibliche.
2:631
Und als ob es einen besondren geheimen Zugang zum Wissen gaebe, der
sich Denen _verschuette_, welche Etwas lernen: so glauben wir an das
Volk und seine "Weisheit".
2:632
Das aber glauben alle Dichter: dass wer im Grase oder an einsamen
Gehaengen liegend die Ohren spitze, Etwas von den Dingen erfahre, die
zwischen Himmel und Erde sind.
2:633
Und kommen ihnen zaertliche Regungen, so meinen die Dichter immer, die
Natur selber sei in sie verliebt:
2:634
Und sie schleiche zu ihrem Ohre, Heimliches hinein zu sagen und
verliebte Schmeichelreden: dessen bruesten und blaehen sie sich vor
allen Sterblichen!
2:635
Ach, es giebt so viel Dinge zwischen Himmel und Erden, von denen sich
nur die Dichter Etwas haben traeumen lassen!
2:636
Und zumal _ueber_ dem Himmel: denn alle Goetter sind
Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss!
2:637
Wahrlich, immer zieht es uns hinan - naemlich zum Reich der Wolken:
auf diese setzen wir unsre bunten Baelge und heissen sie dann Goetter
und Uebermenschen: -
2:638
Sind sie doch gerade leicht genug fuer diese Stuehle! - alle diese
Goetter und Uebermenschen.
2:639
Ach, wie bin ich all des Unzulaenglichen muede, das durchaus Ereigniss
sein soll! Ach, wie bin ich der Dichter muede!
2:640
Als Zarathustra so sprach, zuernte ihm sein Juenger, aber er schwieg.
Und auch Zarathustra schwieg; und sein Auge hatte sich nach innen
gekehrt, gleich als ob es in weite Fernen saehe. Endlich seufzte er
und holte Athem.
2:641
Ich bin von Heute und Ehedem, sagte er dann; aber Etwas ist in mir,
das ist von Morgen und uebermorgen und Einstmals.
2:642
Ich wurde der Dichter muede, der alten und der neuen: Oberflaechliche
sind sie mir Alle und seichte Meere.
2:643
Sie dachten nicht genug in die Tiefe: darum sank ihr Gefuehl nicht bis
zu den Gruenden.
2:644
Etwas Wollust und etwas Langeweile: das ist noch ihr bestes Nachdenken
gewesen.
2:645
Gespenster-Hauch und -Huschen gilt mir all ihr Harfen-Klingklang; was
wussten sie bisher von der Inbrunst der Toene! -
2:646
Sie sind mir auch nicht reinlich genug: sie trueben Alle ihr
Gewaesser, dass es tief scheine.
2:647
Und gerne geben sie sich damit als Versoehner: aber Mittler und
Mischer bleiben sie mir und Halb-und-Halbe und Unreinliche! -
2:648
Ach, ich warf wohl mein Netz in ihre Meere und wollte gute Fische
fangen; aber immer zog ich eines alten Gottes Kopf herauf.
2:649
So gab dem Hungrigen das Meer einen Stein. Und sie selber moegen wohl
aus dem Meere stammen.
2:650
Gewiss, man findet Perlen in ihnen: um so aehnlicher sind sie selber
harten Schalthieren. Und statt der Seele fand ich oft bei ihnen
gesalzenen Schleim.
2:651
Sie lernten vom Meere auch noch seine Eitelkeit: ist nicht das Meer
der Pfau der Pfauen?
2:652
Noch vor dem haesslichsten aller Bueffel rollt es seinen Schweif hin,
nimmer wird es seines Spitzenfaechers von Silber und Seide muede.
2:653
Trutzig blickt der Bueffel dazu, dem Sande nahe in seiner Seele,
naeher noch dem Dickicht, am naechsten aber dem Sumpfe.
2:654
Was ist ihm Schoenheit und Meer und Pfauen-Zierath! Dieses Gleichniss
sage ich den Dichtern.
2:655
Wahrlich, ihr Geist selber ist der Pfau der Pfauen und ein Meer von
Eitelkeit!
2:656
Zuschauer will der Geist des Dichters: sollten's auch Bueffel sein! -
2:657
Aber dieses Geistes wurde ich muede: und ich sehe kommen, dass er
seiner selber muede wird.
2:658
Verwandelt sah ich schon die Dichter und gegen sich selber den Blick
gerichtet.
2:659
Buesser des Geistes sah ich kommen: die wuchsen aus ihnen.
2:660
Also sprach Zarathustra.
2:661
Von grossen Ereignissen
2:662
Es giebt eine Insel im Meere - unweit den glueckseligen Inseln
Zarathustra's - auf welcher bestaendig ein Feuerberg raucht; von der
sagt das Volk, und sonderlich sagen es die alten Weibchen aus dem
Volke, dass sie wie ein Felsblock vor das Thor der Unterwelt gestellt
sei: durch den Feuerberg selber aber fuehre der schmale Weg abwaerts,
der zu diesem Thore der Unterwelt geleite.
2:663
Um jene Zeit nun, als Zarathustra auf den glueckseligen Inseln weilte,
geschah es, dass ein Schiff an der Insel Anker warf, auf welcher
der rauchende Berg steht; und seine Mannschaft gieng an's Land, um
Kaninchen zu schiessen. Gegen die Stunde des Mittags aber, da der
Capitaen und seine Leute wieder beisammen waren, sahen sie ploetzlich
durch die Luft einen Mann auf sich zukommen, und eine Stimme sagte
deutlich: "es ist Zeit! Es ist die hoechste Zeit!" Wie die Gestalt
ihnen aber am naechsten war - sie flog aber schnell gleich einem
Schatten vorbei, in der Richtung, wo der Feuerberg lag - da erkannten
sie mit groesster Bestuerzung, dass es Zarathustra sei; denn sie
hatten ihn Alle schon gesehn, ausgenommen der Capitaen selber, und sie
liebten ihn, wie das Volk liebt: also dass zu gleichen Theilen Liebe
und Scheu beisammen sind.
2:664
"Seht mir an! sagte der alte Steuermann, da faehrt Zarathustra zur
Hoelle!" -
2:665
Um die gleiche Zeit, als diese Schiffer an der Feuerinsel landeten,
lief das Geruecht umher, dass Zarathustra verschwunden sei; und als
man seine Freunde fragte, erzaehlten sie, er sei bei Nacht zu Schiff
gegangen, ohne zu sagen, wohin er reisen wolle.
2:666
Also entstand eine Unruhe; nach drei Tagen aber kam zu dieser Unruhe
die Geschichte der Schiffsleute hinzu - und nun sagte alles Volk, dass
der Teufel Zarathustra geholt habe. Seine juenger lachten zwar ob
dieses Geredes; und einer von ihnen sagte sogar: "eher glaube ich
noch, dass Zarathustra sich den Teufel geholt hat." Aber im Grunde der
Seele waren sie Alle voll Besorgniss und Sehnsucht: so war ihre Freude
gross, als am fuenften Tage Zarathustra unter ihnen erschien.
2:667
Und diess ist die Erzaehlung von Zarathustra's Gespraech mit dem
Feuerhunde.
2:668
Die Erde, sagte er, hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten.
Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: "Mensch."
2:669
Und eine andere dieser Krankheiten heisst "Feuerhund": ueber _den_
haben sich die Menschen Viel vorgelogen und vorluegen lassen.
2:670
Diess Geheimniss zu ergruenden gieng ich ueber das Meer: und ich habe
die Wahrheit nackt gesehn, wahrlich! barfuss bis zum Halse.
2:671
Was es mit dem Feuerhund auf sich hat, weiss ich nun; und insgleichen
mit all den Auswurf- und Umsturz-Teufeln, vor denen sich nicht nur
alte Weibchen fuerchten.
2:672
Heraus mit dir, Feuerhund, aus deiner Tiefe! rief ich, und bekenne,
wie tief diese Tiefe ist! Woher ist das, was du da heraufschnaubst?
2:673
Du trinkst reichlich am Meere: das verraeth deine versalzte
Beredsamkeit! Fuerwahr, fuer einen Hund der Tiefe nimmst du deine
Nahrung zu sehr von der Oberflaeche!
2:674
Hoechstens fuer den Bauchredner der Erde halt' ich dich: und immer,
wenn ich Umsturz- und Auswurf-Teufel reden hoerte, fand ich sie gleich
dir: gesalzen, luegnerisch und flach.
2:675
Ihr versteht zu bruellen und mit Asche zu verdunkeln! Ihr seid die
besten Grossmaeuler und lerntet sattsam die Kunst, Schlamm heiss zu
sieden.
2:676
Wo ihr seid, da muss stets Schlamm in der Naehe sein, und viel
Schwammichtes, Hoehlichtes, Eingezwaengtes: das will in die Freiheit.
2:677
"Freiheit" bruellt ihr Alle am liebsten: aber ich verlernte den
Glauben an "grosse Ereignisse," sobald viel Gebruell und Rauch um sie
herum ist.
2:678
Und glaube mir nur, Freund Hoellenlaerm! Die groessten Ereignisse -
das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden.
2:679
Nicht um die Erfinder von neuem Laerme: um die Erfinder von neuen
Werthen dreht sich die Welt; _unhoerbar_ dreht sie sich.
2:680
Und gesteh es nur! Wenig war immer nur geschehn, wenn dein Laerm und
Rauch sich verzog. Was liegt daran, dass eine Stadt zur Mumie wurde,
und eine Bildsaeule im Schlamme liegt!
2:681
Und diess Wort sage ich noch den Umstuerzern von Bildsaeulen. Das ist
wohl die groesste Thorheit, Salz in's Meer und Bildsaeulen in den
Schlamm zu werfen.
2:682
Im Schlamme eurer Verachtung lag die Bildsaeule: aber das ist gerade
ihr Gesetz, dass ihr aus der Verachtung wieder Leben und lebende
Schoenheit waechst!
2:683
Mit goettlicheren Zuegen steht sie nun auf und leidendverfuehrerisch;
und wahrlich! sie wird euch noch Dank sagen, dass ihr sie umstuerztet,
ihr Umstuerzer!
2:684
Diesen Rath aber rathe ich Koenigen und Kirchen und Allem, was alters-
und tugendschwach ist - lasst euch nur umstuerzen! Dass ihr wieder zum
Leben kommt, und zu euch - die Tugend! -
2:685
Also redete ich vor dem Feuerhunde: da unterbrach er mich muerrisch
und fragte: "Kirche? Was ist denn das?"
2:686
Kirche? antwortete ich, das ist eine Art von Staat, und zwar die
verlogenste. Doch schweig still, du Heuchelhund! Du kennst deine Art
wohl am besten schon!
2:687
Gleich dir selber ist der Staat ein Heuchelhund; gleich dir redet er
gern mit Rauch und Gebruelle, - dass er glauben mache, gleich dir, er
rede aus dem Bauch der Dinge.
2:688
Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat;
und man glaubt's ihm auch. -
2:689
Als ich das gesagt hatte, gebaerdete sich der Feuerhund wie unsinnig
vor Neid. "Wie? schrie er, das wichtigste Thier auf Erden? Und man
glaubt's ihm auch?" Und so viel Dampf und graessliche Stimmen kamen
ihm aus dem Schlunde, dass ich meinte, er werde vor Arger und Neid
ersticken.
2:690
Endlich wurde er stiller, und sein Keuchen liess nach; sobald er aber
stille war, sagte ich lachend:
2:691
"Du aergerst dich, Feuerhund: also habe ich ueber dich Recht!
2:692
Und dass ich auch noch Recht behalte, so hoere von einem andern
Feuerhunde: der spricht wirklich aus dem Herzen der Erde.
2:693
Gold haucht sein Athem und goldigen Regen: so will's das Herz ihm. Was
ist ihm Asche und Rauch und heisser Schleim noch!
2:694
Lachen flattert aus ihm wie ein buntes Gewoelke; abguenstig ist er
deinem Gurgeln und Speien und Grimmen der Ein- geweide!
2:695
Das Gold aber und das Lachen - das nimmt er aus dem Herzen der Erde:
denn dass du's nur weisst, - das Herz der Erde ist von Gold."
2:696
Als diess der Feuerhund vernahm, hielt er's nicht mehr aus, mir
zuzuhoeren. Beschaemt zog er seinen Schwanz ein, sagte auf eine
kleinlaute Weise Wau! Wau! und kroch hinab in seine Hoehle. -
2:697
Also erzaehlte Zarathustra. Seine Juenger aber hoerten ihm kaum zu: so
gross war ihre Begierde, ihm von den Schiffsleuten, den Kaninchen und
dem fliegenden Manne zu erzaehlen.
2:698
"Was soll ich davon denken! sagte Zarathustra. Bin ich denn ein
Gespenst?
2:699
Aber es wird mein Schatten gewesen sein. Ihr hoertet wohl schon
Einiges vom Wanderer und seinem Schatten?
2:700
Sicher aber ist das: ich muss ihn kuerzer halten, - er verdirbt mir
sonst noch den Ruf."
2:701
Und nochmals schuettelte Zarathustra den Kopf und wunderte sich. "Was
soll ich davon denken!" sagte er nochmals.
2:702
"Warum schrie denn das Gespenst: es ist Zeit! Es ist die hoechste
Zeit!
2:703
_Wozu_ ist es denn - hoechste Zeit?" -
2:704
Also sprach Zarathustra.
2:705
Der Wahrsager
2:706
"- und ich sahe eine grosse Traurigkeit ueber die Menschen kommen. Die
Besten wurden ihrer Werke muede.
2:707
Eine Lehre ergieng, ein Glauben lief neben ihr: `Alles ist leer, Alles
ist gleich, Alles war!`
2:708
Und von allen Huegeln klang es wieder: `Alles ist leer, Alles ist
gleich, Alles war!`
2:709
Wohl haben wir geerntet: aber warum wurden alle Fruechte uns faul und
braun? Was fiel vom boesen Monde bei der letzten Nacht hernieder?
2:710
Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, boeser Blick
sengte unsre Felder und Herzen gelb.
2:711
Trocken wurden wir Alle; und faellt Feuer auf uns, so staeuben wir der
Asche gleich: - ja das Feuer selber machten wir muede.
2:712
Alle Brunnen versiegten uns, auch das Meer wich zurueck. Aller Grund
will reissen, aber die Tiefe will nicht schlingen!
2:713
`Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken koennte`: so klingt
unsre Klage - hinweg ueber flache Suempfe.
2:714
Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu muede; nun wachen wir noch
und leben fort - in Grabkammern!" -
2:715
Also hoerte Zarathustra einen Wahrsager reden; und seine Weissagung
gieng ihm zu Herzen und verwandelte ihn. Traurig gieng er umher und
muede; und er wurde Denen gleich, von welchen der Wahrsager geredet
hatte.
2:716
Wahrlich, so sagte er zu seinen Juengern, es ist um ein Kleines, so
kommt diese lange Daemmerung. Ach, wie soll ich mein Licht hinueber
retten!
2:717
Dass es mir nicht ersticke in dieser Traurigkeit! Ferneren Welten soll
es ja Licht sein und noch fernsten Naechten!
2:718
Dergestalt im Herzen bekuemmert gieng Zarathustra umher; und drei Tage
lang nahm er nicht Trank und Speise zu sich, hatte keine Ruhe und
verlor die Rede. Endlich geschah es, dass er in einen tiefen Schlaf
verfiel. Seine juenger aber sassen um ihn in langen Nachtwachen und
warteten mit Sorge, ob er wach werde und wieder rede und genesen sei
von seiner Truebsal.
2:719
Diess aber ist die Rede, welche Zarathustra sprach, als er aufwachte;
seine Stimme aber kam zu seinen Juengern wie aus weiter Ferne.
2:720
Hoert mir doch den Traum, den ich traeumte, ihr Freunde, und helft mir
seinen Sinn rathen!
2:721
Ein Raethsel ist er mir noch, dieser Traum; sein Sinn ist verborgen
in ihm und eingefangen und fliegt noch nicht ueber ihn hin mit freien
Fluegeln.
2:722
Allem Leben hatte ich abgesagt, so traeumte mir. Zum Nacht- und
Grabwaechter war ich worden, dort auf der einsamen Berg-Burg des
Todes.
2:723
Droben huetete ich seine Saerge: voll standen die dumpfen Gewoelbe
von solchen Siegeszeichen. Aus glaesernen Saergen blickte mich
ueberwundenes Leben an.
2:724
Den Geruch verstaubter Ewigkeiten athmete ich: schwuel und verstaubt
lag meine Seele. Und wer haette dort auch seine Seele lueften koennen!
2:725
Helle der Mitternacht war immer um mich, Einsamkeit kauerte neben
ihr; und, zudritt, roechelnde Todesstille, die schlimmste meiner
Freundinnen.
2:726
Schluessel fuehrte ich, die rostigsten aller Schluessel; und ich
verstand es, damit das knarrendste aller Thore zu oeffnen.
2:727
Einem bitterboesen Gekraechze gleich lief der Ton durch die langen
Gaenge, wenn sich des Thores Fluegel hoben: unhold schrie dieser
Vogel, ungern wollte er geweckt sein.
2:728
Aber furchtbarer noch und herzzuschnuerender war es, wenn es wieder
schwieg und rings stille ward, und ich allein sass in diesem
tueckischen Schweigen.
2:729
So gieng mir und schlich die Zeit, wenn Zeit es noch gab: was weiss
ich davon! Aber endlich geschah das, was mich weckte.
2:730
Dreimal schlugen Schlaege an's Thor, gleich Donnern, es hallten und
heulten die Gewoelbe dreimal wieder: da gieng ich zum Thore.
2:731
Alpa! rief ich, wer traegt seine Asche zu Berge? Alpa! Alpa! Wer
traegt seine Asche zu Berge?
2:732
Und ich drueckte den Schluessel und hob am Thore und muehte mich. Aber
noch keinen Fingerbreit stand es offen:
2:733
Da riss ein brausender Wind seine Fluegel auseinander: pfeifend,
schrillend und schneidend warf er mir einen schwarzen Sarg zu:
2:734
Und im Brausen und Pfeifen und Schrillen zerbarst der Sarg und spie
tausendfaeltiges Gelaechter aus.
2:735
Und aus tausend Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und
kindergrossen Schmetterlingen lachte und hoehnte und brauste es wider
mich.
2:736
Graesslich erschrak ich darob: es warf mich nieder. Und ich schrie vor
Grausen, wie nie ich schrie.
2:737
Aber der eigne Schrei weckte mich auf: - und ich kam zu mir. -
2:738
Also erzaehlte Zarathustra seinen Traum und schwieg dann: denn er
wusste noch nicht die Deutung seines Traumes. Aber der juenger,
den er am meisten lieb hatte, erhob sich schnell, fasste die Hand
Zarathustra's und sprach:
2:739
"Dein Leben selber deutet uns diesen Traum, oh Zarathustra!
2:740
Bist du nicht selber der Wind mit schrillem Pfeifen, der den Burgen
des Todes die Thore aufreisst?
2:741
Bist du nicht selber der Sarg voll bunter Bosheiten und Engelsfratzen
des Lebens?
2:742
Wahrlich, gleich tausendfaeltigem Kindsgelaechter kommt Zarathustra in
alle Todtenkammern, lachend ueber diese Nacht- und Grabwaechter, und
wer sonst mit duestern Schluesseln rasselt.
2:743
Schrecken und umwerfen wirst du sie mit deinem Gelaechter; Ohnmacht
und Wachwerden wird deine Macht ueber sie beweisen.
2:744
Und auch, wenn die lange Daemmerung kommt und die Todesmuedigkeit,
wirst du an unserm Himmel, nicht untergehn, du Fuersprecher des
Lebens!
2:745
Neue Sterne liessest du uns sehen und neue Nachtherrlichkeiten;
wahrlich, das Lachen selber spanntest du wie ein buntes Gezelt ueber
uns.
2:746
Nun wird immer Kindes-Lachen aus Saergen quellen; nun wird immer
siegreich ein starker Wind kommen aller Todesmuedigkeit: dessen bist
du uns selber Buerge und Wahrsager!
2:747
Wahrlich, _sie_selber_traeumtest_du_, deine Feinde: das war dein
schwerster Traum!
2:748
Aber wie du von ihnen aufwachtest und zu dir kamst, also sollen sie
selber von sich aufwachen - und zu dir kommen!" -
2:749
So sprach der juenger; und alle Anderen draengten sich nun um
Zarathustra und ergriffen ihn bei den Haenden und wollten ihn
bereden, dass er vom Bette und von der Traurigkeit lasse und zu ihnen
zurueckkehre. Zarathustra aber sass aufgerichtet auf seinem Lager, und
mit fremdem Blicke. Gleichwie Einer, der aus langer Fremde heimkehrt,
sah er auf seine Juenger und pruefte ihre Gesichter; und noch erkannte
er sie nicht. Als sie aber ihn hoben und auf die Fuesse stellten,
siehe, da verwandelte sich mit Einem Male sein Auge; er begriff Alles,
was geschehen war, strich sich den Bart und sagte mit starker Stimme:
2:750
"Wohlan! Diess nun hat seine Zeit; sorgt mir aber dafuer, meine
juenger, dass wir eine gute Mahlzeit machen, und in Kuerze! Also
gedenke ich Busse zu thun fuer schlimme Traeume!
2:751
Der Wahrsager aber soll an meiner Seite essen und trinken: und
wahrlich, ich will ihm noch ein Meer zeigen, in dem er ertrinken
kann!"
2:752
Also sprach Zarathustra. Darauf aber blickte er dem juenger, welcher
den Traumdeuter abgegeben hatte, lange in's Gesicht und schuettelte
dabei den Kopf. -
2:753
Von der Erloesung
2:754
Als Zarathustra eines Tags ueber die grosse Bruecke gieng, umringten
ihn die Krueppel und Bettler, und ein Bucklichter redete also zu ihm:
2:755
"Siehe, Zarathustra! Auch das Volk lernt von dir und gewinnt Glauben
an deine Lehre: aber dass es ganz dir glauben soll, dazu bedarf es
noch Eines - du musst erst noch uns Krueppel ueberreden! Hier hast du
nun eine schoene Auswahl und wahrlich, eine Gelegenheit mit mehr als
Einem Schopfe! Blinde kannst du heilen und Lahme laufen machen; und
Dem, der zuviel hinter sich hat, koenntest du wohl auch ein Wenig
abnehmen: - das, meine ich, waere die rechte Art, die Krueppel an
Zarathustra glauben zu machen!"
2:756
Zarathustra aber erwiderte Dem, der da redete, also: "Wenn man dem
Bucklichten seinen Buckel nimmt, so nimmt man ihm seinen Geist - also
lehrt das Volk. Und wenn man dem Blinden seine Augen giebt, so sieht
er zuviel schlimme Dinge auf Erden: also dass er Den verflucht, der
ihn heilte. Der aber, welcher den Lahmen laufen macht, der thut ihm
den groessten Schaden an: denn kaum kann er laufen, so gehn seine
Laster mit ihm durch - also lehrt das Volk ueber Krueppel. Und warum
sollte Zarathustra nicht auch vom Volke lernen, wenn das Volk von
Zarathustra lernt?
2:757
Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter Menschen bin, dass ich
sehe: `Diesem fehlt ein Auge und jenem ein Ohr und einem Dritten das
Bein, und Andre giebt es, die verloren die Zunge oder die Nase oder
den Kopf.`
2:758
Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei so Abscheuliches, dass
ich nicht von Jeglichem reden und von Einigem nicht einmal schweigen
moechte: naemlich Menschen, denen es an Allem fehlt, ausser dass
sie Eins zuviel haben - Menschen, welche Nichts weiter sind als ein
grosses Auge, oder ein grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend
etwas Grosses, - umgekehrte Krueppel heisse ich Solche.
2:759
Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male ueber diese
Bruecke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und
wieder hin, und sagte endlich: `das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie
ein Mensch!` Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre
bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und aermlich und
schmaechtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf einem
kleinen duennen Stiele, - der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein
Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches
Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele
baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse Ohr sei nicht nur ein
Mensch, sondern ein grosser Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem
Volke niemals, wenn es von grossen Menschen redete - und behielt
meinen Glauben bei, dass es ein umgekehrter Krueppel sei, der an Allem
zu wenig und an Einem zu viel habe."
2:760
Als Zarathustra so zu dem Bucklichten geredet hatte und zu Denen,
welchen er Mundstueck und Fuersprecher war, wandte er sich mit tiefem
Unmuthe zu seinen Juengern und sagte:
2:761
"Wahrlich, meine Freunde, ich wandle unter den Menschen wie unter den
Bruchstuecken und Gliedmaassen von Menschen!
2:762
Diess ist meinem Auge das Fuerchterliche, dass ich den Menschen
zertruemmert finde und zerstreuet wie ueber ein Schlacht- und
Schlaechterfeld hin.
2:763
Und fluechtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals: es findet immer das
Gleiche: Bruchstuecke und Gliedmaassen und grause Zufaelle - aber
keine Menschen!
2:764
Das jetzt und das Ehemals auf Erden - ach! meine Freunde - das, ist
_mein_ Unertraeglichstes; und ich wuesste nicht zu leben, wenn ich
nicht noch ein Seher waere, dessen, was kommen muss.
2:765
Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und
eine Bruecke zur Zukunft - und ach, auch noch gleichsam ein Krueppel
an dieser Bruecke: das Alles ist Zarathustra.
2:766
Und auch ihr fragtet euch oft: `wer ist uns Zarathustra? Wie soll er
uns heissen?` Und gleich mir selber gabt ihr euch Fragen zur Antwort.
2:767
Ist er ein Versprechender? Oder ein Erfueller? Ein Erobernder? Oder
ein Erbender? Ein Herbst? Oder eine Pflugschar? Ein Arzt? Oder ein
Genesener?
2:768
Ist er ein Dichter? Oder ein Wahrhaftiger? Ein Befreier? Oder ein
Baendiger? Ein Guter? Oder ein Boeser?
2:769
Ich wandle unter Menschen als den Bruchstuecken der Zukunft: jener
Zukunft, die ich schaue.
2:770
Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und
zusammentragen was Bruchstueck ist und Raethsel und grauser Zufall.
2:771
Und wie ertruege ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch
Dichter und Raethselrather und der Erloeser des Zufalls waere!
2:772
Die Vergangnen zu erloesen und alles `Es war` umzuschauen in ein `So
wollte ich es!` - das hiesse mir erst Erloesung!
2:773
Wille - so heisst der Befreier und Freudebringer: also lehrte ich
euch, meine Freunde! Und nun lernt diess hinzu: der Wille selber ist
noch ein Gefangener.
2:774
Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch den Befreier noch in
Ketten schlaegt?
2:775
`Es war`: also heisst des Willens Zaehneknirschen und einsamste
Truebsal. Ohnmaechtig gegen Das, was gethan ist - ist er allem
Vergangenen ein boeser Zuschauer.
2:776
Nicht zurueck kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen
kann und der Zeit Begierde, - das ist des Willens einsamste Truebsal.
2:777
Wollen befreit: was ersinnt sich das Wollen selber, dass es los seiner
Truebsal werde und seines Kerkers spotte?
2:778
Ach, ein Narr wird jeder Gefangene! Naerrisch erloest sich auch der
gefangene Wille.
2:779
Dass die Zeit nicht zuruecklaeuft, das ist sein Ingrimm; `Das, was
war` - so heisst der Stein, den er nicht waelzen kann.
2:780
Und so waelzt er Steine aus Ingrimm und Unmuth und uebt Rache an dem,
was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fuehlt.
2:781
Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehethaeter: und an Allem, was
leiden kann, nimmt er Rache dafuer, dass er nicht zurueck kann.
2:782
Diess, ja diess allein ist _Rache_ selber: des Willens Widerwille
gegen die Zeit und ihr `Es war.`
2:783
Wahrlich, eine grosse Narrheit wohnt in unserm Willen; und zum Fluche
wurde es allem Menschlichen, dass diese Narrheit Geist lernte!
2:784
Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes
Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.
2:785
`Strafe` naemlich, so heisst sich die Rache selber: mit einem
Luegenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.
2:786
Und weil im Wollenden selber Leid ist, darob dass es nicht zurueck
wollen kann, - also sollte Wollen selber und alles Leben - Strafe
sein!
2:787
Und nun waelzte sich Wolke auf Wolke ueber den Geist: bis endlich der
Wahnsinn predigte: `Alles vergeht, darum ist Alles werth zu vergehn!`
2:788
`Und diess ist selber Gerechtigkeit, jenes Gesetz der Zeit, dass sie
ihre Kinder fressen muss`: also predigte der Wahnsinn.
2:789
`Sittlich sind die Dinge geordnet nach Recht und Strafe. Oh wo ist die
Erloesung vom Fluss der Dinge und der Strafe Dasein`? Also predigte
der Wahnsinn.
2:790
`Kann es Erloesung geben, wenn es ein ewiges Recht giebt? Ach,
unwaelzbar ist der Stein "Es war": ewig muessen auch alle Strafen
sein!` Also predigte der Wahnsinn.
2:791
`Keine That kann vernichtet werden: wie koennte sie durch die Strafe
ungethan werden! Diess, diess ist das Ewige an der Strafe "Dasein",
dass das Dasein auch ewig wieder That und Schuld sein muss!
2:792
Es sei denn, dass der Wille endlich sich selber erloeste und Wollen zu
Nicht-Wollen wuerde -`: doch ihr kennt, meine Brueder, diess Fabellied
des Wahnsinns!
2:793
Weg fuehrte ich euch von diesen Fabelliedern, als ich euch lehrte:
`der Wille ist ein Schaffender.`
2:794
Alles `Es war` ist ein Bruchstueck, ein Raethsel, ein grauser Zufall -
bis der schaffende Wille dazu sagt: `aber so wollte ich es!`
2:795
Bis der schaffende Wille dazu sagt: `Aber so will ich es! So werde
ich's wollen!`
2:796
Aber sprach er schon so? Und wann geschieht diess? Ist der Wille schon
abgeschirrt von seiner eignen Thorheit?
2:797
Wurde der Wille sich selber schon Erloeser und Freudebringer?
Verlernte er den Geist der Rache und alles Zaehneknirschen?
2:798
Und wer lehrte ihn Versoehnung mit der Zeit, und Hoeheres als alle
Versoehnung ist?
2:799
Hoeheres als alle Versoehnung muss der Wille wollen, welcher der Wille
zur Macht ist -: doch wie geschieht ihm das? Wer lehrte ihn auch noch
das Zurueckwollen?"
2:800
- Aber an dieser Stelle seiner Rede geschah es, dass Zarathustra
ploetzlich innehielt und ganz einem Solchen gleich sah, der auf das
Aeusserste erschrickt. Mit erschrecktem Auge blickte er auf seine
Juenger; sein Auge durchbohrte wie mit Pfeilen ihre Gedanken und
Hintergedanken. Aber nach einer kleinen Weile lachte er schon wieder
und sagte beguetigt:
2:801
"Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil Schweigen so schwer ist.
Sonderlich fuer einen Geschwaetzigen." -
2:802
Also sprach Zarathustra. Der Bucklichte aber hatte dem Gespraeche
zugehoert und sein Gesicht dabei bedeckt; als er aber Zarathustra
lachen hoerte, blickte er neugierig auf und sagte langsam:
2:803
"Aber warum redet Zarathustra anders zu uns als zu seinen Juengern?"
2:804
Zarathustra antwortete: "Was ist da zum Verwundern! Mit Bucklichten
darf man schon bucklicht reden!"
2:805
"Gut, sagte der Bucklichte; und mit Schuelern darf man schon aus der
Schule schwaetzen.
2:806
Aber warum redet Zarathustra anders zu seinen Schuelern - als zu sich
selber?" -
2:807
Von der Menschen-Klugheit
2:808
Nicht die Hoehe: der Abhang ist das Furchtbare!
2:809
Der Abhang, wo der Blick _hinunter_ stuerzt und die Hand _hinauf_
greift. Da schwindelt dem Herzen vor seinem doppelten Willen.
2:810
Ach, Freunde, errathet ihr wohl auch meines Herzens doppelten Willen?
2:811
Das, Das ist _mein_ Abhang und meine Gefahr, dass mein Blick in die
Hoehe stuerzt, und dass meine Hand sich halten und stuetzen moechte -
an der Tiefe!
2:812
An den Menschen klammert sich mein Wille, mit Ketten binde ich mich an
den Menschen, weil es mich hinauf reisst zum Obermenschen: denn dahin
will mein andrer Wille.
2:813
Und _dazu_ lebe ich blind unter den Menschen; gleich als ob ich sie
nicht kennte: dass meine Hand ihren Glauben an Festes nicht ganz
verliere.
2:814
Ich kenne euch Menschen nicht: diese Finsterniss und Troestung ist oft
um mich gebreitet.
2:815
Ich sitze am Thorwege fuer jeden Schelm und frage: wer will mich
betruegen?
2:816
Das ist meine erste Menschen-Klugheit, dass ich mich betruegen lasse,
um nicht auf der Hut zu sein vor Betruegern.
2:817
Ach, wenn ich auf der Hut waere vor dem Menschen: wie koennte meinem
Balle der Mensch ein Anker sein! Zu leicht risse es mich hinauf und
hinweg!
2:818
Diese Vorsehung ist ueber meinem Schicksal, dass ich ohne Vorsicht
sein muss.
2:819
Und wer unter Menschen nicht verschmachten will, muss lernen, aus
allen Glaesern zu trinken; und wer unter Menschen rein bleiben will,
muss verstehn, sich auch mit schmutzigem Wasser zu waschen.
2:820
Und also sprach ich oft mir zum Troste: "Wohlan! Wohlauf! Altes Herz!
Ein Unglueck missrieth dir: geniesse diess als dein - Glueck!"
2:821
Diess aber ist meine andre Menschen-Klugheit: ich schone die _Eitlen_
mehr als die Stolzen.
2:822
Ist nicht verletzte Eitelkeit die Mutter aller Trauerspiele? Wo aber
Stolz verletzt wird, da waechst wohl etwas Besseres noch, als Stolz
ist.
2:823
Damit das Leben gut anzuschaun sei, muss sein Spiel gut gespielt
werden: dazu aber bedarf es guter Schauspieler.
2:824
Gute Schauspieler fand ich alle Eitlen: sie spielen und wollen, dass
ihnen gern zugeschaut werde, - all ihr Geist ist bei diesem Willen.
2:825
Sie fuehren sich auf, sie erfinden sich; in ihrer Naehe liebe ich's,
dem Leben zuzuschaun, - es heilt von der Schwermuth.
2:826
Darum schone ich die Eitlen, weil sie mir Arzte sind meiner Schwermuth
und mich am Menschen fest halten als an einem Schauspiele.
2:827
Und dann: wer ermisst am Eitlen die ganze Tiefe seiner Bescheidenheit!
Ich bin ihm gut und mitleidig ob seiner Bescheidenheit.
2:828
Von euch will er seinen Glauben an sich lernen; er naehrt sich an
euren Blicken, er frisst das Lob aus euren Haenden.
2:829
Euren Luegen glaubt er noch, wenn ihr gut ueber ihn luegt: denn im
Tiefsten seufzt sein Herz: "was bin _ich_!"
2:830
Und wenn das die rechte Tugend ist, die nicht um sich selber weiss:
nun, der Eitle weiss nicht um seine Bescheidenheit! -
2:831
Das ist aber meine dritte Menschen-Klugheit, dass ich mir den Anblick
der Boesen nicht verleiden lasse durch eure Furchtsamkeit.
2:832
Ich bin selig, die Wunder zu sehn, welche heisse Sonne ausbruetet:
Tiger und Palmen und Klapperschlangen.
2:833
Auch unter Menschen giebt es schoene Brut heisser Sonne und viel
Wunderwuerdiges an den Boesen.
2:834
Zwar, wie eure Weisesten mir nicht gar so weise erschienen: so fand
ich auch der Menschen Bosheit unter ihrem Rufe.
2:835
Und oft fragte ich mit Kopfschuetteln: Warum noch klappern, ihr
Klapperschlangen?
2:836
Wahrlich, es giebt auch fuer das Boese noch eine Zukunft! Und der
heisseste Sueden ist noch nicht entdeckt fuer den Menschen.
2:837
Wie Manches heisst jetzt schon aergste Bosheit, was doch nur zwoelf
Schuhe breit und drei Monate lang ist! Einst aber werden groessere
Drachen zur Welt kommen.
2:838
Denn dass dem Uebermenschen sein Drache nicht fehle, der Ueber-Drache,
der seiner wuerdig ist: dazu muss viel heisse Sonne noch auf feuchten
Urwald gluehen!
2:839
Aus euren Wildkatzen muessen erst Tiger geworden sein und aus euren
Giftkroeten Krokodile: denn der gute Jaeger soll eine gute Jagd haben!
2:840
Und wahrlich, ihr Guten und Gerechten! An euch ist Viel zum Lachen und
zumal eure Furcht vor dem, was bisher "Teufel" hiess!
2:841
So fremd seid ihr dem Grossen mit eurer Seele, dass euch der
Uebermensch _furchtbar_ sein wuerde in seiner Guete!
2:842
Und ihr Weisen und Wissenden, ihr wuerdet vor dem Sonnenbrande der
Weisheit fluechten, in dem der Uebermensch mit Lust seine Nacktheit
badet!
2:843
Ihr hoechsten Menschen, denen mein Auge begegnete! das ist mein
Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr wuerdet
meinen Uebermenschen - Teufel heissen!
2:844
Ach, ich ward dieser Hoechsten und Besten muede: aus ihrer "Hoehe"
verlangte mich hinauf, hinaus, hinweg zu dem Uebermenschen!
2:845
Ein Grausen ueberfiel mich, als ich diese Besten nackend sah: da
wuchsen mir die Fluegel, fortzuschweben in ferne Zukuenfte.
2:846
In fernere Zukuenfte, in suedlichere Sueden, als je ein Bildner
traeumte: dorthin, wo Goetter sich aller Kleider schaemen!
2:847
Aber verkleidet will ich _euch_ sehn, ihr Naechsten und Mitmenschen,
und gut geputzt, und eitel, und wuerdig, als "die Guten und
Gerechten," -
2:848
Und verkleidet will ich selber unter euch sitzen, - dass ich euch und
mich _verkenne_: das ist naemlich meine letzte Menschen-Klugheit.
2:849
Also sprach Zarathustra.
2:850
Die stillste Stunde
2:851
"Was geschah mir, meine Freunde? Ihr seht mich verstoert,
fortgetrieben, unwillig-folgsam, bereit zu gehen - ach, von _euch_
fortzugehen!
2:852
Ja, noch Ein Mal muss Zarathustra in seine Einsamkeit: aber unlustig
geht diessmal der Baer zurueck in seine Hoehle!
2:853
Was geschah mir? Wer gebeut diess? - Ach, meine zornige Herrin will es
so, sie sprach zu mir: nannte ich je euch schon ihren Namen?
2:854
Gestern gen Abend sprach zu mir _meine_stillste_Stunde_: das ist der
Name meiner furchtbaren Herrin.
2:855
Und so geschah's, - denn Alles muss ich euch sagen, dass euer Herz
sich nicht verhaerte gegen den ploetzlich Scheidenden!
2:856
Kennt ihr den Schrecken des Einschlafenden? -
2:857
Bis in die Zehen hinein erschrickt er, darob, dass ihm der Boden
weicht und der Traum beginnt.
2:858
Dieses sage ich euch zum Gleichniss. Gestern, zur stillsten Stunde,
wich mir der Boden: der Traum begann.
2:859
Der Zeiger rueckte, die Uhr meines Lebens holte Athem - nie hoerte ich
solche Stille um mich: also dass mein Herz erschrak.
2:860
Dann sprach es ohne Stimme zu mir: `Du weisst es, Zarathustra?` -
2:861
Und ich schrie vor Schrecken bei diesem Fluestern, und das Blut wich
aus meinem Gesichte: aber ich schwieg.
2:862
Da sprach es abermals ohne Stimme zu mir: `Du weisst es, Zarathustra,
aber du redest es nicht!` -
2:863
Und ich antwortete endlich gleich einem Trotzigen: `Ja, ich weiss es,
aber ich will es nicht reden!`
2:864
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: `Du _willst_ nicht,
Zarathustra? Ist diess auch wahr? Verstecke dich nicht in deinen
Trotz!` -
2:865
Und ich weinte und zitterte wie ein Kind und sprach: `Ach, ich wollte
schon, aber wie kann ich es! Erlass mir diess nur! Es ist ueber meine
Kraft!`
2:866
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: `Was liegt an dir,
Zarathustra! Sprich dein Wort und zerbrich!` -
2:867
Und ich antwortete: `Ach, ist es _mein_ Wort? Wer bin ich? Ich warte
des Wuerdigeren; ich bin nicht werth, an ihm auch nur zu zerbrechen.`
2:868
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: `Was liegt an dir? Du bist mir
noch nicht demuethig genug. Die Demuth hat das haerteste Fell.` -
2:869
Und ich antwortete: `Was trug nicht schon das Fell meiner Demuth! Am
Fusse wohne ich meiner Hoehe: wie hoch meine Gipfel sind? Niemand
sagte es mir noch. Aber gut kenne ich meine Thaeler.`
2:870
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: `Oh Zarathustra, wer Berge zu
versetzen hat, der versetzt auch Thaeler und Niederungen.` -
2:871
Und ich antwortete: `Noch versetzte mein Wort keine Berge, und was ich
redete, erreichte die Menschen nicht. Ich gieng wohl zu den Menschen,
aber noch langte ich nicht bei ihnen an.`
2:872
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: `Was weisst du _davon_! Der
Thau faellt auf das Gras, wenn die Nacht am verschwiegensten ist.` -
2:873
Und ich antwortete: `sie verspotteten mich, als ich meinen eigenen Weg
fand und gieng; und in Wahrheit zitterten damals meine Fuesse.`
2:874
Und so sprachen sie zu mir: `du verlerntest den Weg, nun verlernst du
auch das Gehen!`
2:875
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: `Was liegt an ihrem Spotte! Du
bist Einer, der das Gehorchen verlernt hat: nun sollst du befehlen!
2:876
Weisst du nicht, _wer_ Allen am noethigsten thut? Der Grosses
befiehlt.
2:877
Grosses vollfuehren ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses
befehlen.
2:878
Das ist dein Unverzeihlichstes: du hast die Macht, und du willst nicht
herrschen.` -
2:879
Und ich antwortete: `Mir fehlt des Loewen Stimme zu allem Befehlen.`
2:880
Da sprach es wieder wie ein Fluestern zu mir: `Die stillsten Worte
sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfuessen
kommen, lenken die Welt.
2:881
Oh Zarathustra, du sollst gehen als ein Schatten dessen, was kommen
muss: so wirst du befehlen und befehlend vorangehen.` -
2:882
Und ich antwortete: `Ich schaeme mich.`
2:883
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: `Du musst noch Kind werden und
ohne Scham.
2:884
Der Stolz der Jugend ist noch auf dir, spaet bist du jung geworden:
aber wer zum Kinde werden will, muss auch noch seine Jugend
ueberwinden.` -
2:885
Und ich besann mich lange und zitterte. Endlich aber sagte ich, was
ich zuerst sagte: `Ich will nicht.`
2:886
Da geschah ein Lachen um mich. Wehe, wie diess Lachen mir die
Eingeweide zerriss und das Herz aufschlitzte!
2:887
Und es sprach zum letzten Male zu mir: `Oh Zarathustra, deine Fruechte
sind reif, aber du bist nicht reif fuer deine Fruechte!
2:888
So musst du wieder in die Einsamkeit: denn du sollst noch muerbe
werden.` -
2:889
Und wieder lachte es und floh: dann wurde es stille um mich wie mit
einer zwiefachen Stille. Ich aber lag am Boden, und der Schweiss floss
mir von den Gliedern.
2:890
- Nun hoertet ihr Alles, und warum ich in meine Einsamkeit zurueck
muss. Nichts verschwieg ich euch, meine Freunde.
2:891
Aber auch diess hoertet ihr von mir, _wer_ immer noch aller Menschen
Verschwiegenster ist - und es sein will!
2:892
Ach meine Freunde! Ich haette euch noch Etwas zu sagen, ich haette
euch noch Etwas zu geben! Warum gebe ich es nicht? Bin ich denn
geizig?" -
2:893
Als Zarathustra aber diese Worte gesprochen hatte, ueberfiel ihn die
Gewalt des Schmerzes und die Naehe des Abschieds von seinen Freunden,
also dass er laut weinte; und Niemand wusste ihn zu troesten. Des
Nachts aber gieng er allein fort und verliess seine Freunde.
2:894
T3 Dritter Theil
3:1
"Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe
hinab, weil ich erhoben bin.
3:2
Wer von euch kann zugleich lachen und erhoben sein?
3:3
Wer auf den hoechsten Bergen steigt, der lacht ueber alle
Trauer-Spiele und Trauer-Ernste."
3:4
Zarathustra, vom Lesen und Schreiben.
3:5
Der Wanderer
3:6
Um Mitternacht war es, da nahm Zarathustra seinen Weg ueber den
Ruecken der Insel, dass er mit dem fruehen Morgen an das andre Gestade
kaeme: denn dort wollte er zu Schiff steigen. Es gab naemlich allda
eine gute Rhede, an der auch fremde Schiffe gern vor Anker giengen;
die nahmen Manchen mit sich, der von den glueckseligen Inseln ueber
das Meer wollte. Als nun Zarathustra so den Berg hinanstieg, gedachte
er unterwegs des vielen einsamen Wanderns von Jugend an, und wie viele
Berge und Ruecken und Gipfel er schon gestiegen sei.
3:7
Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Herzen,
ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still
sitzen.
3:8
Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebniss komme, - ein
Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur
noch sich selber.
3:9
Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufaelle begegnen durften; und
was _koennte_ jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen
waere!
3:10
Es kehrt nur zurueck, es kommt mir endlich heim - mein eigen Selbst,
und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge
und Zufaelle.
3:11
Und noch Eins weiss ich: ich stehe jetzt vor meinem letzten Gipfel und
vor dem, was mir am laengsten aufgespart war. Ach, meinen haertesten
Weg muss ich hinan! Ach, ich begann meine einsamste Wanderung!
3:12
Wer aber meiner Art ist, der entgeht einer solchen Stunde nicht: der
Stunde, die zu ihm redet: "Jetzo erst gehst du deinen Weg der Groesse!
Gipfel und Abgrund - das ist jetzt in Eins beschlossen!
3:13
Du gehst deinen Weg der Groesse: nun ist deine letzte Zuflucht worden,
was bisher deine letzte Gefahr hiess!
3:14
Du gehst deinen Weg der Groesse: das muss nun dein bester Muth sein,
dass es hinter dir keinen Weg mehr giebt!
3:15
Du gehst deinen Weg der Groesse; hier soll dir Keiner nachschleichen!
Dein Fuss selber loeschte hinter dir den Weg aus, und ueber ihm steht
geschrieben: Unmoeglichkeit.
3:16
Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, noch
auf deinen eigenen Kopf zu steigen: wie wolltest du anders aufwaerts
steigen?
3:17
Auf deinen eigenen Kopf und hinweg ueber dein eigenes Herz! Jetzt muss
das Mildeste an dir noch zum Haertesten werden.
3:18
Wer sich stets viel geschont hat, der kraenkelt zuletzt an seiner
vielen Schonung. Gelobt sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht,
wo Butter und Honig - fliesst!
3:19
Von sich _absehn_ lernen ist noethig, um _Viel_ zu sehn: - diese
Haerte thut jedem Berge-Steigenden Noth.
3:20
Wer aber mit den Augen zudringlich ist als Erkennender, wie sollte der
von allen Dingen mehr als ihre vorderen Gruende sehn!
3:21
Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und
Hintergrund: so musst du schon ueber dich selber steigen, - hinan,
hinauf, bis du auch deine Sterne noch _unter_ dir hast!
3:22
Ja! Hinab auf mich selber sehn und noch auf meine Sterne: das erst
hiesse mir mein _Gipfel_, das blieb mir noch zurueck als mein
_letzter_ Gipfel! -"
3:23
Also sprach Zarathustra im Steigen zu sich, mit harten Spruechlein
sein Herz troestend: denn er war wund am Herzen wie noch niemals
zuvor. Und als er auf die Hoehe des Bergrueckens kam, siehe, da
lag das andere Meer vor ihm ausgebreitet: und er stand still und
schwieg lange. Die Nacht aber war kalt in dieser Hoehe und klar und
hellgestirnt.
3:24
Ich erkenne mein Loos, sagte er endlich mit Trauer. Wohlan! Ich bin
bereit. Eben begann meine letzte Einsamkeit.
3:25
Ach, diese schwarze traurige See unter mir! Ach, diese schwangere
naechtliche Verdrossenheit! Ach, Schicksal und See! Zu euch muss ich
nun _hinab_ steigen!
3:26
Vor meinem hoechsten Berge stehe ich und vor meiner laengsten
Wanderung: darum muss ich erst tiefer hinab als ich jemals stieg:
3:27
- tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg, bis hinein in
seine schwaerzeste Fluth! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich bin
bereit.
3:28
Woher kommen die hoechsten Berge? so fragte ich einst. Da lernte ich,
dass sie aus dem Meere kommen.
3:29
Diess Zeugniss ist in ihr Gestein geschrieben und in die Waende ihrer
Gipfel. Aus dem Tiefsten muss das Hoechste zu seiner Hoehe kommen. -
3:30
Also sprach Zarathustra auf der Spitze des Berges, wo es kalt war;
als er aber in die Naehe des Meeres kam und zuletzt allein unter den
Klippen stand, da war er unterwegs muede geworden und sehnsuechtiger
als noch zuvor.
3:31
Es schlaeft jetzt Alles noch, sprach er; auch das Meer schlaeft.
Schlaftrunken und fremd blickt sein Auge nach mir.
3:32
Aber es athmet warm, das fuehle ich. Und ich fuehle auch, dass es
traeumt. Es windet sieh traeumend auf harten Kissen.
3:33
Horch! Horch! Wie es stoehnt von boesen Erinnerungen! Oder boesen
Erwartungen?
3:34
Ach, ich bin traurig mit dir, du dunkles Ungeheuer, und mir selber
noch gram um deinetwillen.
3:35
Ach, dass meine Hand nicht Staerke genug hat! Gerne, wahrlich, moechte
ich dich von boesen Traeumen erloesen! -
3:36
Und indem Zarathustra so sprach, lachte er mit Schwermuth und
Bitterkeit ueber sich selber. "Wie! Zarathustra! sagte er, willst du
noch dem Meere Trost singen?
3:37
Ach, du liebreicher Narr Zarathustra, du Vertrauens-Ueberseliger! Aber
so warst du immer: immer kamst du vertraulich zu allem Furchtbaren.
3:38
Jedes Ungethuem wolltest du noch streicheln. Ein Hauch warmen Athems,
ein Wenig weiches Gezottel an der Tatze -: und gleich warst du bereit,
es zu lieben und zu locken.
3:39
Die _Liebe_ ist die Gefahr des Einsamsten, die Liebe zu Allem,
wenn es nur lebt! Zum Lachen ist wahrlich meine Narrheit und meine
Bescheidenheit in der Liebe!" -
3:40
Also sprach Zarathustra und lachte dabei zum andern Male: da aber
gedachte er seiner verlassenen Freunde -, und wie als ob er sich mit
seinen Gedanken an ihnen vergangen habe, zuernte er sich ob seiner
Gedanken. Und alsbald geschah es, dass der Lachende weinte: - vor Zorn
und Sehnsucht weinte Zarathustra bitterlich.
3:41
Vom Gesicht und Raethsel
3:42
hp 1.
3:43
Als es unter den Schiffsleuten ruchbar wurde, dass Zarathustra auf dem
Schiffe sei, - denn es war ein Mann zugleich mit ihm an Bord gegangen,
der von den glueckseligen Inseln kam - da entstand eine grosse
Neugierde und Erwartung. Aber Zarathustra schwieg zwei Tage und war
kalt und taub vor Traurigkeit, also, dass er weder auf Blicke noch
auf Fragen antwortete. Am Abende aber des zweiten Tages that er
seine Ohren wieder auf, ob er gleich noch schwieg: denn es gab viel
Seltsames und Gefaehrliches auf diesem Schiffe anzuhoeren, welches
weither kam und noch weiterhin wollte. Zarathustra aber war ein Freund
aller Solchen, die weite Reisen thun und nicht ohne Gefahr leben
moegen. Und siehe! zuletzt wurde ihm im Zuhoeren die eigne Zunge
geloest, und das Eis seines Herzens brach: - da begann er also zu
reden:
3:44
Euch, den kuehnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen
Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, -
3:45
euch, den Raethsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit
Floeten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird:
3:46
- denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und, wo
ihr _errathen_ koennt, da hasst ihr es, zu _erschliessen_ -
3:47
euch allein erzaehle ich das Raethsel, das ich _sah_, - das Gesicht
des Einsamsten. -
3:48
Duester gierig ich juengst durch leichenfarbne Daemmerung, - duester
und hart, mit gepressten Lippen. Nicht nur Eine Sonne war mir
untergegangen.
3:49
Ein Pfad, der trotzig durch Geroell stieg, ein boshafter, einsamer,
dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein Bergpfad knirschte
unter dem Trotz meines Fusses.
3:50
Stumm ueber hoehnischem Geklirr von Kieseln schreitend, den Stein
zertretend, der ihn gleiten liess: also zwang mein Fuss sich
aufwaerts.
3:51
Aufwaerts: - dem Geiste zum Trotz, der ihn abwaerts zog, abgrundwaerts
zog, dem Geiste der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde.
3:52
Aufwaerts: - obwohl er auf mir sass, halb Zwerg, halb Maulwurf; lahm;
laehmend; Blei durch mein Ohr, Bleitropfen-Gedanken in mein Hirn
traeufelnd.
3:53
"Oh Zarathustra, raunte er hoehnisch Silb' um Silbe, du Stein der
Weisheit! Du warfst dich hoch, aber jeder geworfene Stein muss -
fallen!
3:54
Oh Zarathustra, du Stein der Weisheit, du Schleuderstein, du
Stern-Zertruemmerer! Dich selber warfst du so hoch, - aber jeder
geworfene Stein - muss fallen!
3:55
Verurtheilt zu dir selber und zur eignen Steinigung: oh Zarathustra,
weit warfst du ja den Stein, - aber auf _dich_ wird er zurueckfallen!"
3:56
Drauf schwieg der Zwerg; und das waehrte lange. Sein Schweigen aber
drueckte mich; und solchermaassen zu Zwein ist man wahrlich einsamer
als zu Einem!
3:57
Ich stieg, ich stieg, ich traeumte, ich dachte, - aber Alles drueckte
mich. Einem Kranken glich ich, den seine schlimme Marter muede macht,
und den wieder ein schlimmerer Traum aus dem Einschlafen weckt. -
3:58
Aber es giebt Etwas in mir, das ich Muth heisse: das schlug bisher mir
jeden Unmuth todt. Dieser Muth hiess mich endlich stille stehn und
sprechen: "Zwerg! Du! Oder ich!" -
3:59
Muth naemlich ist der beste Todtschlaeger, - Muth, welcher _angreift_:
denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel.
3:60
Der Mensch aber ist das muthigste Thier: damit ueberwand er jedes
Thier. Mit klingendem Spiele ueberwand er noch jeden Schmerz;
Menschen-Schmerz aber ist der tiefste Schmerz.
3:61
Der Muth schlaegt auch den Schwindel todt an Abgruenden: und wo
stuende der Mensch nicht an Abgruenden! Ist Sehen nicht selber -
Abgruende sehen?
3:62
Muth ist der beste Todtschlaeger: der Muth schlaegt auch das Mitleiden
todt. Mitleiden aber ist der tiefste Abgrund: so tief der Mensch in
das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden.
3:63
Muth aber ist der beste Todtschlaeger, Muth, der angreift: der
schlaegt noch den Tod todt, denn er spricht: "War _das_ das Leben?
Wohlan! Noch Ein Mal!"
3:64
In solchem Spruche aber ist viel klingendes Spiel. Wer Ohren hat, der
hoere. -
3:65
hp 2.
3:66
"Halt! Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der Staerkere von
uns Beiden -: du kennst meinen abgruendlichen Gedanken nicht! _Den_ -
koenntest du nicht tragen!" -
3:67
Da geschah, was mich leichter machte: denn der Zwerg sprang mir von
der Schulter, der Neugierige! Und er hockte sich auf einen Stein vor
mich hin. Es war aber gerade da ein Thorweg, wo wir hielten.
3:68
"Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter: der hat zwei
Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch Niemand zu
Ende.
3:69
Diese lange Gasse zurueck: die waehrt eine Ewigkeit. Und jene lange
Gasse hinaus - das ist eine andre Ewigkeit.
3:70
Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den
Kopf: - und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen.
Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: `Augenblick`.
3:71
Aber wer Einen von ihnen weiter gienge - und immer weiter und immer
ferner: glaubst du, Zwerg, dass diese Wege sich ewig widersprechen?" -
3:72
"Alles Gerade luegt, murmelte veraechtlich der Zwerg. Alle Wahrheit
ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis."
3:73
"Du Geist der Schwere! sprach ich zuernend, mache dir es nicht zu
leicht! Oder ich lasse dich hocken, wo du hockst, Lahmfuss, - und ich
trug dich _hoch_!
3:74
Siehe, sprach ich weiter, diesen Augenblick! Von diesem Thorwege
Augenblick laeuft eine lange ewige Gasse _rueckwaerts_ hinter uns
liegt eine Ewigkeit.
3:75
Muss nicht, was laufen _kann_ von allen Dingen, schon einmal diese
Gasse gelaufen sein? Muss nicht, was geschehn _kann_ von allen Dingen,
schon einmal geschehn, gethan, voruebergelaufen sein?
3:76
Und wenn Alles schon dagewesen ist: was haeltst du Zwerg von diesem
Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon - dagewesen sein?
3:77
Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser
Augenblick _alle_ kommenden Dinge nach sich zieht? _Also_ - - sich
selber noch?
3:78
Denn, was laufen _kann_ von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse
_hinaus_ - _muss_ es einmal noch laufen! -
3:79
Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser
Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen fluesternd,
von ewigen Dingen fluesternd - muessen wir nicht Alle schon dagewesen
sein?
3:80
- und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor
uns, in dieser langen schaurigen Gasse - muessen wir nicht ewig
wiederkommen? -"
3:81
Also redete ich, und immer leiser: denn ich fuerchtete mich vor meinen
eignen Gedanken und Hintergedanken. Da, ploetzlich, hoerte ich einen
Hund nahe _heulen_.
3:82
Hoerte ich jemals einen Hund so heulen? Mein Gedanke lief zurueck. Ja!
Als ich Kind war, in fernster Kindheit:
3:83
- da hoerte ich einen Hund so heulen. Und sah ihn auch, gestraeubt,
den Kopf nach Oben, zitternd, in stillster Mitternacht, wo auch Hunde
an Gespenster glauben:
3:84
- also dass es mich erbarmte. Eben naemlich gieng der volle Mond,
todtschweigsam, ueber das Haus, eben stand er still, eine runde Gluth,
- still auf flachem Dache, gleich als auf fremdem Eigenthume: -
3:85
darob entsetzte sich damals der Hund: denn Hunde glauben an Diebe und
Gespenster. Und als ich wieder so heulen hoerte, da erbarmte es mich
abermals.
3:86
Wohin war jetzt Zwerg? und Thorweg? Und Spinne? Und alles Fluestern?
Traeumte ich denn? Wachte ich auf? Zwischen wilden Klippen stand ich
mit Einem Male, allein, oede, im oedesten Mondscheine.
3:87
Aber da lag ein Mensch! Und da! Der Hund, springend, gestraeubt,
winselnd, - jetzt sah er mich kommen - da heulte er wieder, da
_schrie_ er: - hoerte ich je einen Hund so Huelfe schrein?
3:88
Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen
Hirten sah ich, sich windend, wuergend, zuckend, verzerrten Antlitzes,
dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng.
3:89
Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er
hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund - da
biss sie sich fest.
3:90
Meine Hand riss die Schlange und riss: - umsonst! sie riss die
Schlange nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: "Beiss zu!
Beiss zu!
3:91
Den Kopf ab! Beiss zu!" - so schrie es aus mir, mein Grauen, mein
Hass, mein Ekel, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes schrie
mit Einem Schrei aus mir. -
3:92
Ihr Kuehnen um mich! Ihr Sucher, Versucher, und wer von euch
mit listigen Segeln sich in unerforschte Meere einschiffte! Ihr
Raethsel-Frohen!
3:93
So rathet mir doch das Raethsel, das ich damals schaute, so deutet mir
doch das Gesicht des Einsamsten!
3:94
Denn ein Gesicht war's und ein Vorhersehn: - _was_ sah ich damals im
Gleichnisse? Und _wer_ ist, der einst noch kommen muss?
3:95
_Wer_ ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? _Wer_
ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwaerzeste in den Schlund
kriechen wird?
3:96
- Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gutem
Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange -: und sprang empor. -
3:97
Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, - ein Verwandelter, ein
Umleuchteter, welcher _lachte_! Niemals noch auf Erden lachte je ein
Mensch, wie _er_ lachte!
3:98
Oh meine Brueder, ich hoerte ein Lachen, das keines Menschen Lachen
war, - - und nun frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer
stille wird.
3:99
Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: oh wie ertrage ich
noch zu leben! Und wie ertruege ich's, jetzt zu sterben! -
3:100
Also sprach Zarathustra.
3:101
Von der Seligkeit wider Willen
3:102
Mit solchen Raethseln und Bitternissen im Herzen fuhr Zarathustra
ueber das Meer. Als er aber vier Tagereisen fern war von den
glueckseligen Inseln und von seinen Freunden, da hatte er allen seinen
Schmerz ueberwunden -: siegreich und mit festen Fuessen stand er
wieder auf seinem Schicksal. Und damals redete Zarathustra also zu
seinem frohlockenden Gewissen:
3:103
"Allein bin ich wieder und will es sein, allein mit reinem Himmel und
freiem Meere; und wieder ist Nachmittag um mich.
3:104
Des Nachmittags fand ich zum ersten Male einst meine Freunde, des
Nachmittags auch zum anderen Male: - zur Stunde, da alles Licht
stiller wird.
3:105
Denn was von Glueck noch unterwegs ist zwischen Himmel und Erde, das
sucht sich nun zur Herberge noch eine lichte Seele: _vor_Glueck_ ist
alles Licht jetzt stiller worden.
3:106
Oh Nachmittag meines Lebens! Einst stieg auch _mein_ Glueck zu
Thale, dass es sich eine Herberge suche: da fand es diese offnen
gastfreundlichen Seelen.
3:107
Oh Nachmittag meines Lebens! Was gab ich nicht hin, dass ich
Eins haette: diese lebendige Pflanzung meiner Gedanken und diess
Morgenlicht meiner hoechsten Hoffnung!
3:108
Gefaehrten suchte einst der Schaffende und Kinder _seiner_ Hoffnung:
und siehe, es fand sich, dass er sie nicht finden koenne, es sei denn,
er schaffe sie selber erst.
3:109
Also bin ich mitten in meinem Werke, zu meinen Kindern gehend und von
ihnen kehrend: um seiner Kinder willen muss Zarathustra sich selbst
vollenden.
3:110
Denn von Grund aus liebt man nur sein Kind und Werk; und wo grosse
Liebe zu sich selber ist, da ist sie der Schwangerschaft Wahrzeichen:
so fand ich's.
3:111
Noch gruenen mir meine Kinder in ihrem ersten Fruehlinge, nahe bei
einander stehend und gemeinsam von Winden geschuettelt, die Baeume
meines Gartens und besten Erdreichs.
3:112
Und wahrlich! Wo solche Baeume bei einander stehn, da _sind_
glueckselige Inseln!
3:113
Aber einstmals will ich sie ausheben und einen jeden fuer sich allein
stellen: dass er Einsamkeit lerne und Trotz und Vorsicht.
3:114
Knorrig und gekruemmt und mit biegsamer Haerte soll er mir dann am
Meere dastehn, ein lebendiger Leuchtthurm unbesiegbaren Lebens.
3:115
Dort, wo die Stuerme hinab in's Meer stuerzen, und des Gebirgs Ruessel
Wasser trinkt, da soll ein jeder einmal seine Tag- und Nachtwachen
haben, zu _seiner_ Pruefung und Erkenntniss.
3:116
Erkannt und geprueft soll er werden, darauf, ob er meiner Art und
Abkunft ist, - ob er eines langen Willens Herr sei, schweigsam, auch
wenn er redet, und nachgebend also, dass er im Geben _nimmt_: -
3:117
- dass er einst mein Gefaehrte werde und ein Mitschaffender und
Mitfeiernder Zarathustra's -: ein Solcher, der mir meinen Willen auf
meine Tafeln schreibt: zu aller Dinge vollerer Vollendung.
3:118
Und um seinetwillen und seines Gleichen muss ich selber _mich_
vollenden: darum weiche ich jetzt meinem Gluecke aus und biete mich
allem Ungluecke an - zu _meiner_ letzten Pruefung und Erkenntniss.
3:119
Und wahrlich, Zeit war's, dass ich gierig; und des Wanderers Schatten
und die laengste Weile und die stillste Stunde - alle redeten mir zu:
`es ist hoechste Zeit!`
3:120
Der Wind blies mir durch's Schluesselloch und sagte `Komm!` Die Thuer
sprang mir listig auf und sagte `Geh!`
3:121
Aber ich lag angekettet an die Liebe zu meinen Kindern: das Begehren
legte mir diese Schlinge, das Begehren nach Liebe, dass ich meiner
Kinder Beute wuerde und mich an sie verloere.
3:122
Begehren - das heisst mir schon: mich verloren haben. Ich habe euch,
meine Kinder! In diesem Haben soll Alles Sicherheit und Nichts
Begehren sein.
3:123
Aber bruetend lag die Sonne meiner Liebe auf mir, im eignen Safte
kochte Zarathustra, - da flogen Schatten und Zweifel ueber mich weg.
3:124
Nach Frost und Winter geluestete mich schon: `oh dass Frost und Winter
mich wieder knacken und knirschen machten!` seufzte ich: - da stiegen
eisige Nebel aus mir auf.
3:125
Meine Vergangenheit brach ihm Graeber, manch lebendig begrabner
Schmerz wachte auf -: ausgeschlafen hatte er sich nur, versteckt in
Leichen-Gewaender.
3:126
Also rief mir Alles in Zeichen zu: `es ist Zeit!` - Aber ich - hoerte
nicht: bis endlich mein Abgrund sich ruehrte und mein Gedanke mich
biss.
3:127
Ach, abgruendlicher Gedanke, der du _mein_ Gedanke bist! Wann finde
ich die Staerke, dich graben zu hoeren und nicht mehr zu zittern?
3:128
Bis zur Kehle hinauf klopft mir das Herz, wenn ich dich graben hoere!
Dein Schweigen noch will mich wuergen, du abgruendlich Schweigender!
3:129
Noch wagte ich niemals, dich _herauf_ zu rufen: genug schon, dass
ich dich mit mir - trug! Noch war ich nicht stark genug zum letzten
Loewen-Uebermuthe und -Muthwillen.
3:130
Genug des Furchtbaren war mir immer schon deine Schwere: aber einst
soll ich noch die Staerke finden und die Loewen-Stimme, die dich
herauf ruft!
3:131
Wenn ich mich dessen erst ueberwunden habe, dann will ich mich auch
des Groesseren noch ueberwinden; und ein _Sieg_ soll meiner Vollendung
Siegel sein! -
3:132
Inzwischen treibe ich noch auf ungewissen Meeren; der Zufall
schmeichelt mir, der glattzuengige; vorwaerts und rueckwaerts schaue
ich -, noch schaue ich kein Ende.
3:133
Noch kam mir die Stunde meines letzten Kampfes nicht, - oder kommt sie
wohl mir eben? Wahrlich, mit tueckischer Schoenheit schaut mich rings
Meer und Leben an!
3:134
Oh Nachmittag meines Lebens! Oh Glueck vor Abend! Oh Hafen auf hoher
See! Oh Friede im Ungewissen! Wie misstraue ich euch Allen!
3:135
Wahrlich, misstrauisch bin ich gegen eure tueckische Schoenheit! Dem
Liebenden gleiche ich, der allzusammtenem Laecheln misstraut.
3:136
Wie er die Geliebteste vor sich her stoesst, zaertlich noch in seiner
Haerte, der Eifersuechtige -, also stosse ich diese selige Stunde vor
mir her.
3:137
Hinweg mit dir, du selige Stunde! Mit dir kam mir eine Seligkeit wider
Willen! Willig zu meinem tiefsten Schmerze stehe ich hier: - zur
Unzeit kamst du!
3:138
Hinweg mit dir, du selige Stunde! Lieber nimm Herberge dort - bei
meinen Kindern! Eile! und segne sie vor Abend noch mit _meinem_
Gluecke!
3:139
Da naht schon der Abend: die Sonne sinkt. Dahin - mein Glueck! -"
3:140
Also sprach Zarathustra. Und er wartete auf sein Unglueck die ganze
Nacht: aber er wartete umsonst. Die Nacht blieb hell und still, und
das Glueck selber kam ihm immer naeher und naeher. Gegen Morgen
aber lachte Zarathustra zu seinem Herzen und sagte spoettisch: "das
Glueck laeuft mir nach. Das kommt davon, dass ich nicht den Weibern
nachlaufe. Das Glueck aber ist ein Weib."
3:141
Vor Sonnen-Aufgang
3:142
Oh Himmel ueber mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich
schauend schaudere ich vor goettlichen Begierden.
3:143
In deine Hoehe mich zu werfen - das ist _meine_ Tiefe! In deine
Reinheit mich zu bergen - das ist _meine_ Unschuld!
3:144
Den Gott verhuellt seine Schoenheit: so verbirgst du deine Sterne. Du
redest nicht: _so_ kuendest du mir deine Weisheit.
3:145
Stumm ueber brausendem Meere bist du heut mir aufgegangen, deine Liebe
und deine Scham redet Offenbarung zu meiner brausenden Seele.
3:146
Dass du schoen zu mir kamst, verhuellt in deine Schoenheit, dass du
stumm zu mir sprichst, offenbar in deiner Weisheit:
3:147
Oh wie erriethe ich nicht alles Schamhafte deiner Seele! _Vor_ der
Sonne kamst du zu mir, dem Einsamsten.
3:148
Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram und Grauen und Grund
gemeinsam; noch die Sonne ist uns gemeinsam.
3:149
Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles wissen -: wir
schweigen uns an, wir laecheln uns unser Wissen zu.
3:150
Bist du nicht das Licht zu meinem Feuer? Hast du nicht die
Schwester-Seele zu meiner Einsicht?
3:151
Zusammen lernten wir Alles; zusammen lernten wir ueber uns zu uns
selber aufsteigen und wolkenlos laecheln: -
3:152
- wolkenlos hinab laecheln aus lichten Augen und aus meilenweiter
Ferne, wenn unter uns Zwang und Zweck und Schuld wie Regen dampfen.
3:153
Und wanderte ich allein: _wes_ hungerte meine Seele in Naechten und
Irr-Pfaden? Und stieg ich Berge, _wen_ suchte ich je, wenn nicht dich,
auf Bergen?
3:154
Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war's nur und ein
Behelf des Unbeholfenen: - _fliegen_ allein will mein ganzer Wille, in
_dich_ hinein fliegen!
3:155
Und wen hasste ich mehr, als ziehende Wolken und Alles, was dich
befleckt? Und meinen eignen Hass hasste ich noch, weil er dich
befleckte!
3:156
Den ziehenden Wolken bin ich gram, diesen schleichenden Raub-Katzen:
sie nehmen dir und mir, was uns gemein ist, - das ungeheure
unbegrenzte Ja- und Amen-sagen.
3:157
Diesen Mittlern und Mischern sind wir gram, den ziehenden Wolken:
diesen Halb- und Halben, welche weder segnen lernten, noch von Grund
aus fluchen.
3:158
Lieber will ich noch unter verschlossnem Himmel in der Tonne sitzen,
lieber ohne Himmel im Abgrund sitzen, als dich, Licht-Himmel, mit
Zieh-Wolken befleckt sehn!
3:159
Und oft geluestete mich, sie mit zackichten Blitz-Golddraehten
festzuheften, dass ich, gleich dem Donner, auf ihrem Kessel-Bauche die
Pauke schluege: -
3:160
- ein zorniger Paukenschlaeger, weil sie mir dein Ja! und Amen!
rauben, du Himmel ueber mir, du Reiner! Lichter! Du Licht-Abgrund! -
weil sie dir _mein_ Ja! und Amen! rauben.
3:161
Denn lieber noch will ich Laerm und Donner und Wetter-Flueche, als
diese bedaechtige zweifelnde Katzen-Ruhe; und auch unter Menschen
hasse ich am besten alle Leisetreter und Halb- und Halben und
zweifelnde, zoegernde Zieh-Wolken.
3:162
Und "wer nicht segnen kann, der soll fluchen _lernen_!" - diese helle
Lehre fiel mir aus hellem Himmel, dieser Stern steht auch noch in
schwarzen Naechten an meinem Himmel.
3:163
Ich aber bin ein Segnender und ein Ja-sager, wenn du nur um mich bist,
du Reiner! Lichter! Du Licht-Abgrund! - in alle Abgruende trage ich da
noch mein segnendes Ja-sagen.
3:164
Zum Segnenden bin ich worden und zum Ja-sagenden: und dazu rang ich
lange und war ein Ringer, dass ich einst die Haende frei bekaeme zum
Segnen.
3:165
Das aber ist mein Segnen: ueber jedwedem Ding als sein eigener Himmel
stehn, als sein rundes Dach, seine azurne Glocke und ewige Sicherheit:
und selig ist, wer also segnet!
3:166
Denn alle Dinge sind getauft am Borne der Ewigkeit und jenseits von
Gut und Boese; Gut und Boese selber aber sind nur Zwischenschatten und
feuchte Truebsale und Zieh-Wolken.
3:167
Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Laestern, wenn ich lehre: "ueber
allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel
Ohngefaehr, der Himmel Uebermuth."
3:168
"Von Ohngefaehr" - das ist der aelteste Adel der Welt, den gab ich
allen Dingen zurueck, ich erloeste sie von der Knechtschaft unter dem
Zwecke.
3:169
Diese Freiheit und Himmels-Heiterkeit stellte ich gleich azurner
Glocke ueber alle Dinge, als ich lehrte, dass ueber ihnen und durch
sie kein "ewiger Wille" - will.
3:170
Diesen Uebermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle
jenes Willens, als ich lehrte: "bei Allem ist Eins unmoeglich -
Vernuenftigkeit!"
3:171
Ein _Wenig_ Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern
zu Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der
Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt!
3:172
Ein Wenig Weisheit ist schon moeglich; aber diese selige Sicherheit
fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Fuessen des
Zufalls - _tanzen_.
3:173
Oh Himmel ueber mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit,
dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt: -
3:174
- dass du mir ein Tanzboden bist fuer goettliche Zufaelle, dass du mir
ein Goettertisch bist fuer goettliche Wuerfel und Wuerfelspieler! -
3:175
Doch du erroethest? Sprach ich Unaussprechbares? Laesterte ich, indem
ich dich segnen wollte?
3:176
Oder ist es die Scham zu Zweien, welche dich erroethen machte? -
Heissest du mich gehn und schweigen, weil nun - der _Tag_ kommt?
3:177
Die Welt ist tief -: und tiefer als je der Tag gedacht hat. Nicht
Alles darf vor dem Tage Worte haben. Aber der Tag kommt: so scheiden
wir nun!
3:178
Oh Himmel ueber mir, du Schamhafter! Gluehender! Oh du mein Glueck vor
Sonnen-Aufgang! Der Tag kommt: so scheiden wir nun! -
3:179
Also sprach Zarathustra.
3:180
Von der verkleinernden Tugend
3:181
hp 1.
3:182
Als Zarathustra wieder auf dem festen Lande war, gieng er nicht
stracks auf sein Gebirge und seine Hoehle los, sondern that viele Wege
und Fragen und erkundete diess und das, also, dass er von sich selber
im Scherze sagte: "siehe einen Fluss, der in vielen Windungen zurueck
zur Quelle fliesst!" Denn er wollte in Erfahrung bringen, was sich
inzwischen _mit_dem_Menschen_ zugetragen habe: ob er groesser oder
kleiner geworden sei. Und ein Mal sah er eine Reihe neuer Haeuser; da
wunderte er sich und sagte:
3:183
"Was bedeuten diese Haeuser? Wahrlich, keine grosse Seele stellte sie
hin, sich zum Gleichnisse!
3:184
Nahm wohl ein bloedes Kind sie aus seiner Spielschachtel? Dass doch
ein anderes Kind sie wieder in seine Schachtel thaete!
3:185
Und diese Stuben und Kammern: koennen _Maenner_ da aus- und eingehen?
Gemacht duenken sie mich fuer Seiden-Puppen; oder fuer Naschkatzen,
die auch wohl an sich naschen lassen."
3:186
Und Zarathustra blieb stehn und dachte nach. Endlich sagte er
betruebt: "Es ist _Alles_ kleiner geworden!
3:187
Ueberall sehe ich niedrigere Thore: wer _meiner_ Art ist, geht da wohl
noch hindurch, aber - er muss sich buecken!
3:188
Oh wann komme ich wieder in meine Heimat, wo ich mich nicht mehr
buecken muss - nicht mehr buecken muss vor den Kleinen!" - Und
Zarathustra seufzte und blickte in die Ferne. -
3:189
Desselbigen Tages aber redete er seine Rede ueber die verkleinernde
Tugend.
3:190
hp 2.
3:191
Ich gehe durch diess Volk und halte meine Augen offen: sie vergeben
mir es nicht, dass ich auf ihre Tugenden nicht neidisch bin.
3:192
Sie beissen nach mir, weil ich zu ihnen sage: fuer kleine Leute sind
kleine Tugenden noethig - und weil es mir hart eingeht, dass kleine
Leute _noethig_ sind!
3:193
Noch gleiche ich dem Hahn hier auf fremdem Gehoefte, nach dem auch die
Hennen beissen; doch darob bin ich diesen Hennen nicht ungut.
3:194
Ich bin hoeflich gegen sie wie gegen alles kleine Aergerniss; gegen
das Kleine stachlicht zu sein duenkt mich eine Weisheit fuer Igel.
3:195
Sie reden Alle von mir, wenn sie Abends um's Feuer sitzen, - sie reden
von mir, aber Niemand denkt - an mich!
3:196
Diess ist die neue Stille, die ich lernte: ihr Laerm um mich breitet
einen Mantel ueber meine Gedanken.
3:197
Sie laermen unter einander: "was will uns diese duestere Wolke? sehen
wir zu, dass sie uns nicht eine Seuche bringe!"
3:198
Und juengst riss ein Weib sein Kind an sich, das zu mir wollte: "nehmt
die Kinder weg! schrie es; solche Augen versengen Kinder-Seelen."
3:199
Sie husten, wenn ich rede: sie meinen, Husten sei ein Einwand gegen
starke Winde, - sie errathen Nichts vom Brausen meines Glueckes!
3:200
"Wir haben noch keine Zeit fuer Zarathustra" - so wenden sie ein; aber
was liegt an einer Zeit, die fuer Zarathustra "keine Zeit hat"?
3:201
Und wenn sie gar mich ruehmen: wie koennte ich wohl auf _ihrem_ Ruhme
einschlafen? Ein Stachel-Guertel ist mir ihr Lob: es kratzt mich noch,
wenn ich es von mir thue.
3:202
Und auch das lernte ich unter ihnen: der Lobende stellt sich, als
gaebe er zurueck, in Wahrheit aber will er mehr beschenkt sein!
3:203
Fragt meinen Fuss, ob ihm ihre Lob- und Lock-Weise gefaellt! Wahrlich,
nach solchem Takt und Tiktak mag er weder tanzen, noch stille stehn.
3:204
Zur kleinen Tugend moechten sie mich locken und loben; zum Tiktak des
kleinen Gluecks moechten sie meinen Fuss ueberreden.
3:205
Ich gehe durch diess Volk und halte die Augen offen: sie sind
_kleiner_ geworden und werden immer kleiner: - das aber macht ihre
Lehre von Glueck und Tugend.
3:206
Sie sind naemlich auch in der Tugend bescheiden - denn sie wollen
Behagen. Mit Behagen aber vertraegt sich nur die bescheidene Tugend.
3:207
Wohl lernen auch sie auf ihre Art Schreiten und Vorwaerts-Schreiten:
das heisse ich ihr _Humpeln_ -. Damit werden sie jedem zum Anstosse,
der Eile hat.
3:208
Und Mancher von ihnen geht vorwaerts und blickt dabei zurueck, mit
versteiftem Nacken: dem renne ich gern wider den Leib.
3:209
Fuss und Augen sollen nicht luegen, noch sich einander Luegen strafen.
Aber es ist viel Luegnerei bei den kleinen Leuten.
3:210
Einige von ihnen wollen, aber die Meisten werden nur gewollt. Einige
von ihnen sind aecht, aber die Meisten sind schlechte Schauspieler.
3:211
Es giebt Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler wider
Willen -, die Aechten sind immer selten, sonderlich die aechten
Schauspieler.
3:212
Des Mannes ist hier wenig: darum vermaennlichen sich ihre Weiber. Denn
nur wer Mannes genug ist, wird im Weibe _das_Weib_ - erloesen.
3:213
Und diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: dass auch
Die, welche befehlen, die Tugenden Derer heucheln, welche dienen.
3:214
"Ich diene, du dienst, wir dienen" - so betet hier auch die Heuchelei
der Herrschenden, - und wehe, wenn der erste Herr _nur_ der erste
Diener ist!
3:215
Ach, auch in ihre Heucheleien verflog sich wohl meines Auges Neugier;
und gut errieth ich all ihr Fliegen-Glueck und ihr Summen um besonnte
Fensterscheiben.
3:216
Soviel Guete, soviel Schwaeche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit und
Mitleiden, soviel Schwaeche.
3:217
Rund, rechtlich und guetig sind sie mit einander, wie Sandkoernchen
rund, rechtlich und guetig mit Sandkoernchen sind.
3:218
Bescheiden ein kleines Glueck umarmen - das heissen sie "Ergebung"!
und dabei schielen sie bescheiden schon nach einem neuen kleinen
Gluecke aus.
3:219
Sie wollen im Grunde einfaeltiglich Eins am meisten: dass ihnen
Niemand wehe thue. So kommen sie jedermann zuvor und thun ihm wohl.
3:220
Diess aber ist _Feigheit_: ob es schon "Tugend" heisst. -
3:221
Und wenn sie einmal rauh reden, diese kleinen Leute: _ich_ hoere darin
nur ihre Heiserkeit, - jeder Windzug naemlich macht sie heiser.
3:222
Klug sind sie, ihre Tugenden haben kluge Finger. Aber ihnen fehlen die
Faeuste, ihre Finger wissen nicht, sich hinter Faeuste zu verkriechen.
3:223
Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten
sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem
Hausthiere.
3:224
"Wir setzten unsern Stuhl in die _Mitte_ - das sagt mir ihr Schmunzeln
- und ebenso weit weg von sterbenden Fechtern wie von vergnuegten
Saeuen."
3:225
Diess aber ist - _Mittelmaessigkeit_: ob es schon Maessigkeit
heisst. -
3:226
hp 3.
3:227
Ich gehe durch diess Volk und lasse manches Wort fallen: aber sie
wissen weder zu nehmen noch zu behalten.
3:228
Sie wundern sich, dass ich nicht kam, auf Lueste und Laster zu
laestern; und wahrlich, ich kam auch nicht, dass ich vor Taschendieben
warnte!
3:229
Sie wundern sich, dass ich nicht bereit bin, ihre Klugheit noch zu
witzigen und zu spitzigen: als ob sie noch nicht genug der Klueglinge
haetten, deren Stimme mir gleich Schieferstiften kritzelt!
3:230
Und wenn ich rufe: "Flucht allen feigen Teufeln in euch, die gerne
winseln und Haende falten und anbeten moechten": so rufen sie:
"Zarathustra ist gottlos".
3:231
Und sonderlich rufen es ihre Lehrer der Ergebung -; aber gerade ihnen
liebe ich's, in das Ohr zu schrein: Ja! Ich _bin_ Zarathustra, der
Gottlose!
3:232
Diese Lehrer der Ergebung! Ueberall hin, wo es klein und krank und
grindig ist, kriechen sie, gleich Laeusen; und nur mein Ekel hindert
mich, sie zu knacken.
3:233
Wohlan! Diess ist meine Predigt fuer _ihre_ Ohren: ich bin
Zarathustra, der Gottlose, der da spricht "wer ist gottloser denn ich,
dass ich mich seiner Unterweisung freue?"
3:234
Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich Meines-Gleichen? Und
alle Die sind Meines-Gleichen, die sich selber ihren Willen geben und
alle Ergebung von sich abthun.
3:235
Ich bin Zarathustra, der Gottlose: ich koche mir noch jeden Zufall in
_meinem_ Topfe. Und erst, wenn er da gar gekocht ist, heisse ich ihn
willkommen, als _meine_ Speise.
3:236
Und wahrlich, mancher Zufall kam herrisch zu mir: aber herrischer noch
sprach zu ihm mein _Wille_, - da lag er schon bittend auf den Knieen -
3:237
- bittend, dass er Herberge finde und Herz bei mir, und
schmeichlerisch zuredend: "sieh doch; oh Zarathustra, wie nur Freund
zu Freunde kommt!" -
3:238
Doch was rede ich, wo Niemand _meine_ Ohren hat! Und so will ich es
hinaus in alle Winde rufen:
3:239
Ihr werdet immer kleiner, ihr kleinen Leute! Ihr broeckelt ab, ihr
Behaglichen! Ihr geht mir noch zu Grunde -
3:240
- an euren vielen kleinen Tugenden, an eurem vielen kleinen
Unterlassen, an eurer vielen kleinen Ergebung!
3:241
Zu viel schonend, zu viel nachgebend: so ist euer Erdreich! Aber dass
ein Baum _gross_ werde, dazu will er um harte Felsen harte Wurzeln
schlagen!
3:242
Auch was ihr unterlasse, webt am Gewebe aller Menschen-Zukunft; auch
euer Nichts ist ein Spinnennetz und eine Spinne, die von der Zukunft
Blute lebt.
3:243
Und wenn ihr nehmt, so ist es wie stehlen, ihr kleinen Tugendhaften;
aber noch unter Schelmen spricht die _Ehre_: "man soll nur stehlen, wo
man nicht rauben kann."
3:244
"Es giebt sich" - das ist auch eine Lehre der Ergebung. Aber ich sage
euch, ihr Behaglichen: _es_nimmt_sich_ und wird immer mehr noch von
euch nehmen!
3:245
Ach, dass ihr alles _halbe_ Wollen von euch abthaetet und entschlossen
wuerdet zur Traegheit wie zur That!
3:246
Ach, dass ihr mein Wort verstuendet: "thut immerhin, was ihr wollt, -
aber seid erst Solche, die _wollen_koennen_!"
3:247
"Liebt immerhin euren Naechsten gleich euch, - aber seid mir erst
solche, die _sich_selber_lieben_ -
3:248
- mit der grossen Liebe lieben, mit der grossen Verachtung lieben!"
Also spricht Zarathustra, der Gottlose. -
3:249
Doch was rede ich, wo Niemand _meine_ Ohren hat! Es ist hier noch eine
Stunde zu frueh fuer mich.
3:250
Mein eigner Vorlaeufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner
Hahnen-Ruf durch dunkle Gassen.
3:251
Aber _ihre_ Stunde kommt! Und es kommt auch die meine! Stuendlich
werden sie kleiner, aermer, unfruchtbarer, - armes Kraut! armes
Erdreich!
3:252
Und _bald_ sollen sie mir dastehn wie duerres Gras und Steppe, und
wahrlich! ihrer selber muede - und mehr, als nach Wasser, nach _Feuer_
lechzend!
3:253
Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimniss vor Mittag! - Laufende
Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkuender mit
Flammen-Zungen: -
3:254
- verkuenden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er
ist nahe, der grosse Mittag!
3:255
Also sprach Zarathustra.
3:256
Auf dem Oelberge
3:257
Der Winter, ein schlimmer Gast, sitzt bei mir zu Hause; blau sind
meine Haende von seiner Freundschaft Haendedruck.
3:258
Ich ehre ihn, diesen schlimmen Gast, aber lasse gerne ihn allein
sitzen. Gerne laufe ich ihm davon; und, laeuft man _gut_, so entlaeuft
man ihm!
3:259
Mit warmen Fuessen und warmen Gedanken laufe ich dorthin, wo der Wind
stille steht, - zum Sonnen-Winkel meines Oelbergs.
3:260
Da lache ich meines gestrengen Gastes und bin ihm noch gut, dass er zu
Hause mir die Fliegen wegfaengt und vielen kleinen Laerm stille macht.
3:261
Er leidet es naemlich nicht, wenn eine Muecke singen will, oder gar
zwei; noch die Gasse macht er einsam, dass der Mondschein drin Nachts
sich fuerchtet.
3:262
Ein harter Gast ist er, - aber ich ehre ihn, und nicht bete ich,
gleich den Zaertlingen, zum dickbaeuchichten Feuer-Goetzen.
3:263
Lieber noch ein Wenig zaehneklappern als Goetzen anbeten! - so will's
meine Art. Und sonderlich bin ich allen bruenstigen dampfenden
dumpfigen Feuer-Goetzen gram.
3:264
Wen ich liebe, den liebe ich Winters besser als Sommers; besser spotte
ich jetzt meiner Feinde und herzhafter, seit der Winter mir im Hause
sitzt.
3:265
Herzhaft wahrlich, selbst dann noch, wenn ich zu Bett _krieche_ -: da
lacht und muthwillt noch mein verkrochenes Glueck; es lacht noch mein
Luegen-Traum.
3:266
Ich - ein Kriecher? Niemals kroch ich im Leben vor Maechtigen; und
log ich je, so log ich aus Liebe. Desshalb bin ich froh auch im
Winter-Bette.
3:267
Ein geringes Bett waermt mich mehr als ein reiches, denn ich bin
eifersuechtig auf meine Armuth. Und im Winter ist sie mir am
treuesten.
3:268
Mit einer Bosheit beginne ich jeden Tag, ich spotte des Winters mit
einem kalten Bade: darob brummt mein gestrenger Hausfreund.
3:269
Auch kitzle ich ihn gerne mit einem Wachskerzlein: dass er mir endlich
den Himmel herauslasse aus aschgrauer Daemmerung.
3:270
Sonderlich boshaft bin ich naemlich des Morgens: zur fruehen Stunde,
da der Eimer am Brunnen klirrt und die Rosse warm durch graue Gassen
wiehern: -
3:271
Ungeduldig warte ich da, dass mir endlich der lichte Himmel aufgehe,
der schneebaertige Winter-Himmel, der Greis und Weisskopf, -
3:272
- der Winter-Himmel, der schweigsame, der oft noch seine Sonne
verschweigt!
3:273
Lernte ich wohl von ihm das lange lichte Schweigen? Oder lernte er's
von mir? Oder hat ein jeder von uns es selbst erfunden?
3:274
Aller guten Dinge Ursprung ist tausendfaeltig, - alle guten
muthwilligen Dinge springen vor Lust in's Dasein: wie sollten sie das
immer nur - Ein Mal thun!
3:275
Ein gutes muthwilliges Ding ist auch das lange Schweigen und gleich
dem Winter-Himmel blicken aus lichtem rundaeugichten Antlitze: -
3:276
- gleich ihm seine Sonne verschweigen und seinen unbeugsamen
Sonnen-Willen: wahrlich, diese Kunst und diesen Winter-Muthwillen
lernte ich _gut_!
3:277
Meine liebste Bosheit und Kunst ist es, dass mein Schweigen lernte,
sich nicht durch Schweigen zu verrathen.
3:278
Mit Worten und Wuerfeln klappernd ueberliste ich mir die feierlichen
Warter: allen diesen gestrengen Aufpassern soll mein Wille und Zweck
entschluepfen.
3:279
Dass mir Niemand in meinen Grund und letzten Willen hinab sehe, - dazu
erfand ich mir das lange lichte Schweigen.
3:280
So manchen Klugen fand ich: der verschleierte sein Antlitz und truebte
sein Wasser, dass Niemand ihm hindurch und hinunter sehe.
3:281
Aber zu ihm gerade kamen die kluegeren Misstrauer und Nussknacker: ihm
gerade fischte man seinen verborgensten Fisch heraus!
3:282
Sondern die Hellen, die Wackern, die Durchsichtigen - das sind mir
die kluegsten Schweiger: denen so _tief_ ihr Grund ist, dass auch das
hellste Wasser ihn nicht - verraeth. -
3:283
Du schneebaertiger schweigender Winter-Himmel, du rundaeugichter
Weisskopf ueber mir! Oh du himmlisches Gleichniss meiner Seele und
ihres Muthwillens!
3:284
Und _muss_ ich mich nicht verbergen, gleich Einem, der Gold
verschluckt hat, - dass man mir nicht die Seele aufschlitze?
3:285
_Muss_ ich nicht Stelzen tragen, dass sie meine langen Beine
_uebersehen_, - alle diese Neidbolde und Leidholde, die um mich sind?
3:286
Diese raeucherigen, stubenwarmen, verbrauchten, vergruenten,
vergraemelten Seelen - wie _koennte_ ihr Neid mein Glueck ertragen!
3:287
So zeige ich ihnen nur das Eis und den Winter auf meinen Gipfeln - und
_nicht_, dass mein Berg noch alle Sonnenguertel um sich schlingt!
3:288
Sie hoeren nur meine Winter-Stuerme pfeifen: und _nicht_, dass ich
auch ueber warme Meere fahre, gleich sehnsuechtigen, schweren, heissen
Suedwinden.
3:289
Sie erbarmen sich noch meiner Unfaelle und Zufaelle: - aber _mein_
Wort heisst: "lasst den Zufall zu mir kommen: unschuldig ist er, wie
ein Kindlein!"
3:290
Wie _koennten_ sie mein Glueck ertragen, wenn ich nicht Unfaelle und
Winter-Noethe und Eisbaeren-Muetzen und Schneehimmel-Huellen um mein
Glueck legte!
3:291
- wenn ich mich nicht selbst ihres _Mitleids_ erbarmte - des Mitleids
dieser Neidbolde und Leidholde!
3:292
- wenn ich nicht selber vor ihnen seufzte und frostklapperte und mich
geduldsam in ihr Mitleid wickeln _liesse_!
3:293
Diess ist der weise Muthwille und Wohlwille meiner Seele, dass sie
ihren Winter und ihre Froststuerme _nicht_verbirgt_; sie verbirgt auch
ihre Frostbeulen nicht.
3:294
Des Einen Einsamkeit ist die Flucht des Kranken; des Andern Einsamkeit
die Flucht _vor_ den Kranken.
3:295
Moegen sie mich klappern und seufzen _hoeren_ vor Winterkaelte,
alle diese armen scheelen Schelme um mich! Mit solchem Geseufz und
Geklapper fluechte ich noch vor ihren geheizten Stuben.
3:296
Moegen sie mich bemitleiden und bemitseufzen ob meiner Frostbeulen:
"am Eis der Erkenntniss _erfriert_ er uns noch!" - so klagen sie.
3:297
Inzwischen laufe ich mit warmen Fuessen kreuz und quer auf meinem
Oelberge: im Sonnen-Winkel meines Oelberges singe und spotte ich alles
Mitleids. -
3:298
Also sang Zarathustra.
3:299
Vom Voruebergehen
3:300
Also, durch viel Volk und vielerlei Staedte langsam
hindurchschreitend, gierig Zarathustra auf Umwegen zurueck zu seinem
Gebirge und seiner Hoehle. Und siehe, dabei kam er unversehens auch an
das Stadtthor der _grossen_Stadt_: hier aber sprang ein schaeumender
Narr mit ausgebreiteten Haenden auf ihn zu und trat ihm in den
Weg. Diess aber war der selbige Narr, welchen das Volk "den Affen
Zarathustra's" hiess: denn er hatte ihm Etwas vom Satz und Fall der
Rede abgemerkt und borgte wohl auch gerne vom Schatze seiner Weisheit.
Der Narr aber redete also zu Zarathustra:
3:301
"Oh Zarathustra, hier ist die grosse Stadt: hier hast du Nichts zu
suchen und Alles zu verlieren.
3:302
Warum wolltest du durch diesen Schlamm waten? Habe doch Mitleiden mit
deinem Fusse! Speie lieber auf das Stadtthor und - kehre um!
3:303
Hier ist die Hoelle fuer Einsiedler-Gedanken: hier werden grosse
Gedanken lebendig gesotten und klein gekocht.
3:304
Hier verwesen alle grossen Gefuehle: hier duerfen nur klapperduerre
Gefuehlchen klappern!
3:305
Riechst du nicht schon die Schlachthaeuser und Garkuechen des Geistes?
Dampft nicht diese Stadt vom Dunst geschlachteten Geistes?
3:306
Siehst du nicht die Seelen haengen wie schlaffe schmutzige Lumpen? -
Und sie machen noch Zeitungen aus diesen Lumpen!
3:307
Hoerst du nicht, wie der Geist hier zum Wortspiel wurde? Widriges
Wort-Spuelicht bricht er heraus! - Und sie machen noch Zeitungen aus
diesem Wort-Spuelicht.
3:308
Sie hetzen einander und wissen nicht, wohin? Sie erhitzen einander und
wissen nicht, warum? Sie klimpern mit ihrem Bleche, sie klingeln mit
ihrem Golde.
3:309
Sie sind kalt und suchen sich Waerme bei gebrannten Wassern; sie sind
erhitzt und suchen Kuehle bei gefrorenen Geistern; sie sind Alle siech
und suechtig an oeffentlichen Meinungen.
3:310
Alle Lueste und Laster sind hier zu Hause; aber es giebt hier auch
Tugendhafte, es giebt viel anstellige angestellte Tugend: -
3:311
Viel anstellige Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und
Warte-Fleische, gesegnet mit kleinen Bruststernen und ausgestopften
steisslosen Toechtern.
3:312
Es giebt hier auch viel Froemmigkeit und viel glaeubige
Speichel-Leckerei, Schmeichel-Baeckerei vor dem Gott der Heerschaaren.
3:313
`Von Oben` her traeufelt ja der Stern und der gnaedige Speichel; nach
Oben hin sehnt sich jeder sternenlose Busen.
3:314
Der Mond hat seinen Hof, und der Hof hat seine Mondkaelber: zu Allem
aber, was vom Hofe kommt, betet das Bettel-Volk und alle anstellige
Bettel-Tugend.
3:315
`Ich diene, du dienst, wir dienen` - so betet alle anstellige Tugend
hinauf zum Fuersten: dass der verdiente Stern sich endlich an den
schmalen Busen hefte!
3:316
Aber der Mond dreht sich noch um alles Irdische: so dreht sich auch
der Fuerst noch um das Aller-Irdischste -: das aber ist das Gold der
Kraemer.
3:317
Der Gott der Heerschaaren ist kein Gott der Goldbarren; der Fuerst
denkt, aber der Kraemer - lenkt!
3:318
Bei Allem, was licht und stark und gut in dir ist, oh Zarathustra!
Speie auf diese Stadt der Kraemer und kehre um!
3:319
Hier fliesst alles Blut faulicht und lauicht und schaumicht durch alle
Adern: speie auf die grosse Stadt, welche der grosse Abraum ist, wo
aller Abschaum zusammenschaeumt!
3:320
Speie auf die Stadt der eingedrueckten Seelen und schmalen Brueste,
der spitzen Augen, der klebrigen Finger -
3:321
- auf die Stadt der Aufdringlinge, der Unverschaemten, der Schreib-
und Schreihaelse, der ueberheizten Ehrgeizigen: -
3:322
- wo alles Anbruechige, Anruechige, Luesterne, Duesterne, Uebermuerbe,
Geschwuerige, Verschwoererische zusammenschwaert: -
3:323
- speie auf die grosse Stadt und kehre um!" - -
3:324
Hier aber unterbrach Zarathustra den schaeumenden Narren und hielt ihm
den Mund zu.
3:325
"Hoere endlich auf! rief Zarathustra, mich ekelt lange schon deiner
Rede und deiner Art!
3:326
Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und
zur Kroete werden musstest?
3:327
Fliesst dir nicht selber nun ein faulichtes schaumichtes Sumpf-Blut
durch die Adern, dass du also quaken und laestern lerntest?
3:328
Warum giengst du nicht in den Wald? Oder pfluegtest die Erde? Ist das
Meer nicht voll von gruenen Eilanden?
3:329
Ich verachte dein Verachten; und wenn du mich warntest, - warum
warntest du dich nicht selber?
3:330
Aus der Liebe allein soll mir mein Verachten und mein warnender Vogel
auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe! -
3:331
Man heisst dich meinen Affen, du schaeumender Narr: aber ich heisse
dich mein Grunze-Schwein, - durch Grunzen verdirbst du mir noch mein
Lob der Narrheit.
3:332
Was war es denn, was dich zuerst grunzen machte? Dass Niemand dir
genug _geschmeichelt_ hat: - darum setztest du dich hin zu diesem
Unrathe, dass du Grund haettest viel zu grunzen, -
3:333
- dass du Grund haettest zu vieler _Rache_! Rache naemlich, du eitler
Narr, ist all dein Schaeumen, ich errieth dich wohl!
3:334
Aber dein Narren-Wort thut _mir_ Schaden, selbst, wo du Recht hast!
Und wenn Zarathustra's Wort sogar hundert Mal Recht _haette_: du
wuerdest mit meinem Wort immer - Unrecht _thun_!"
3:335
Also sprach Zarathustra; und er blickte die grosse Stadt an, seufzte
und schwieg lange. Endlich redete er also:
3:336
Mich ekelt auch dieser grossen Stadt und nicht nur dieses Narren. Hier
und dort ist Nichts zu bessern, Nichts zu boesern.
3:337
Wehe dieser grossen Stadt! - Und ich wollte, ich saehe schon die
Feuersaeule, in der sie verbrannt wird!
3:338
Denn solche Feuersaeulen muessen dem grossen Mittage vorangehn. Doch
diess hat seine Zeit und sein eigenes Schicksal. -
3:339
Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, zum Abschiede: wo man nicht
mehr lieben kann, da soll man - _voruebergehn_! -
3:340
Also sprach Zarathustra und gieng an dem Narren und der grossen Stadt
vorueber.
3:341
Von den Abtruennigen
3:342
hp 1.
3:343
Ach, liegt Alles schon welk und grau, was noch juengst auf dieser
Wiese gruen und bunt stand? Und wie vielen Honig der Hoffnung trug ich
von hier in meine Bienenkoerbe!
3:344
Diese jungen Herzen sind alle schon alt geworden, - und nicht alt
einmal! nur muede, gemein, bequem: - sie heissen es "Wir sind wieder
fromm geworden."
3:345
Noch juengst sah ich sie in der Fruehe auf tapferen Fuessen
hinauslaufen: aber ihre Fuesse der Erkenntniss wurden muede, und nun
verleumden sie auch noch ihre Morgen-Tapferkeit!
3:346
Wahrlich, Mancher von ihnen hob einst die Beine wie ein Taenzer, ihm
winkte das Lachen in meiner Weisheit: - da besann er sich. Eben sah
ich ihn krumm - zum Kreuze kriechen.
3:347
Um Licht und Freiheit flatterten sie einst gleich Muecken und jungen
Dichtern. Ein Wenig aelter, ein Wenig kaelter: und schon sind sie
Dunkler und Munkler und Ofenhocker.
3:348
Verzagte ihnen wohl das Herz darob, dass mich die Einsamkeit
verschlang gleich einem Wallfische? Lauschte ihr Ohr wohl
sehnsuechtig-lange _umsonst_ nach mir und meinen Trompeten- und
Herolds-Rufen?
3:349
- Ach! Immer sind ihrer nur Wenige, deren Herz einen langen Muth und
Uebermuth hat; und solchen bleibt auch der Geist geduldsam. Der Rest
aber ist _feige_.
3:350
Der Rest: das sind immer die Allermeisten, der Alltag, der Ueberfluss,
die Viel-zu-Vielen - diese alle sind feige! -
3:351
Wer meiner Art ist, dem werden auch die Erlebnisse meiner Art ueber
den Weg laufen: also, dass seine ersten Gesellen Leichname und
Possenreisser sein muessen.
3:352
Seine zweiten Gesellen aber - die werden sich seine _Glaeubigen_
heissen: ein lebendiger Schwarm, viel Liebe, viel Thorheit, viel
unbaertige Verehrung.
3:353
An diese Glaeubigen soll Der nicht sein Herz binden, wer meiner Art
unter Menschen ist; an diese Lenze und bunte Wiesen soll Der nicht
glauben, wer die fluechtig-feige Menschenart kennt!
3:354
_Koennten_ sie anders, so wuerden sie auch anders _wollen_. Halb- und
Halbe verderben alles Ganze. Dass Blaetter welk werden, - was ist da
zu klagen!
3:355
Lass sie fahren und fallen, oh Zarathustra, und klage nicht! Lieber
noch blase mit raschelnden Winden unter sie, -
3:356
- blase unter diese Blaetter, oh Zarathustra: dass alles _Welke_
schneller noch von dir davonlaufen! -
3:357
hp 2.
3:358
"Wir sind wieder fromm geworden" - so bekennen diese Abtruennigen; und
Manche von ihnen sind noch zu feige, also zu bekennen.
3:359
Denen sehe ich in's Auge, - denen sage ich es in's Gesicht und in die
Roethe ihrer Wangen: ihr seid Solche, welche wieder _beten_!
3:360
Es ist aber eine Schmach, zu beten! Nicht fuer Alle, aber fuer dich
und mich und wer auch im Kopfe sein Gewissen hat. Fuer _dich_ ist es
eine Schmach, zu beten!
3:361
Du weisst es wohl: dein feiger Teufel in dir, der gerne Haende-falten
und Haende-in-den-Schooss-legen und es bequemer haben moechte: -
dieser feige Teufel redet dir zu "es _giebt_ einen Gott!"
3:362
_Damit_ aber gehoerst du zur lichtscheuen Art, denen Licht nimmer Ruhe
laesst; nun musst du taeglich deinen Kopf tiefer in Nacht und Dunst
stecken!
3:363
Und wahrlich, du waehltest die Stunde gut: denn eben wieder fliegen
die Nachtvoegel aus. Die Stunde kam allem lichtscheuen Volke, die
Abend- und Feierstunde, wo es nicht - "feiert."
3:364
Ich hoere und rieche es: es kam ihre Stunde fuer Jagd und Umzug, nicht
zwar fuer eine wilde Jagd, sondern fuer eine zahme lahme schnueffelnde
Leisetreter- und Leisebeter-Jagd, -
3:365
- fuer eine Jagd auf seelenvolle Duckmaeuser: alle Herzens-
Mausefallen sind jetzt wieder aufgestellt! Und wo ich einen Vorhang
aufhebe, da kommt ein Nachtfalterchen herausgestuerzt.
3:366
Hockte es da wohl zusammen mit einem andern Nachtfalterchen? Denn
ueberall rieche ich kleine verkrochne Gemeinden; und wo es Kaemmerlein
giebt, da giebt es neue Bet-Brueder drin und den Dunst von
Bet-Bruedern.
3:367
Sie sitzen lange Abende bei einander und sprechen: lasset uns wieder
werden wie die Kindlein und "lieber Gott" sagen! - an Mund und Magen
verdorben durch die frommen Zuckerbaecker.
3:368
Oder sie sehen lange Abende einer listigen lauernden Kreuzspinne zu,
welche den Spinnen selber Klugheit predigt und also lehrt: "unter
Kreuzen ist gut spinnen!"
3:369
Oder sie sitzen Tags ueber mit Angelruthen an Suempfen und glauben
sich _tief_ damit; aber wer dort fischt, wo es keine Fische giebt, den
heisse ich noch nicht einmal oberflaechlich!
3:370
Oder sie lernen fromm-froh die Harfe schlagen bei einem
Lieder-Dichter, der sich gern jungen Weibchen in's Herz harfnen
moechte: - denn er wurde der alten Weibchen muede und ihres
Lobpreisens.
3:371
Oder sie lernen gruseln bei einem gelehrten Halb-Tollen, der in
dunklen Zimmern wartet, dass ihm die Geister kommen - und der Geist
ganz davonlaeuft!
3:372
Oder sie horchen einem alten umgetriebnen Schnurr- und Knurrpfeifer
zu, der trueben Winden die Truebsal der Toene ablernte; nun pfeift er
nach dem Winde und predigt in trueben Toenen Truebsal.
3:373
Und Einige von ihnen sind sogar Nachtwaechter geworden: die verstehen
jetzt in Hoerner zu blasen und Nachts umherzugehn und alte Sachen
aufzuwecken, die lange schon eingeschlafen sind.
3:374
Fuenf Worte von alten Sachen hoerte ich gestern Nachts an der
Garten-Mauer: die kamen von solchen alten betruebten trocknen
Nachtwaechtern.
3:375
"Fuer einen Vater sorgt er nicht genug um seine Kinder:
Menschen-Vaeter thun diess besser!" -
3:376
"Er ist zu alt! Er sorgt schon gar nicht mehr um seine Kinder" - also
antwortete der andere Nachtwaechter.
3:377
"_Hat_ er denn Kinder? Niemand kann's beweisen, wenn er's selber nicht
beweist! Ich wollte laengst, er bewiese es einmal gruendlich."
3:378
"Beweisen? Als ob _Der_ je Etwas bewiesen haette! Beweisen faellt ihm
schwer; er haelt grosse Stuecke darauf, dass man ihm glaubt."
3:379
"Ja! Ja! Der Glaube macht ihn selig, der Glaube an ihn. Das ist so die
Art alter Leute! So geht's uns auch!" -
3:380
- Also sprachen zu einander die zwei alten Nachtwaechter und
Lichtscheuchen, und tuteten darauf betruebt in ihre Hoerner: so
geschah's gestern Nachts an der Garten-Mauer.
3:381
Mir aber wand sich das Herz vor Lachen und wollte brechen und wusste
nicht, wohin? und sank in's Zwerchfell.
3:382
Wahrlich, das wird noch mein Tod sein, dass ich vor Lachen ersticke,
wenn ich Esel betrunken sehe und Nachtwaechter also an Gott zweifeln
hoere.
3:383
Ist es denn nicht _lange_ vorbei auch fuer alle solche Zweifel? Wer
darf noch solche alte eingeschlafne lichtscheue Sachen aufwecken!
3:384
Mit den alten Goettern gieng es ja lange schon zu Ende: - und
wahrlich, ein gutes froehliches Goetter-Ende hatten sie!
3:385
Sie "daemmerten" sich nicht zu Tode, - das luegt man wohl! Vielmehr:
sie haben sich selber einmal zu Tode - _gelacht_!
3:386
Das geschah, als das gottloseste Wort von einem Gotte selber ausgieng,
- das Wort: "Es ist Ein Gott! Du sollst keinen andern Gott haben neben
mir!" -
3:387
- ein alter Grimm-Bart von Gott, ein eifersuechtiger vergass sich
also:
3:388
Und alle Goetter lachten damals und wackelten auf ihren Stuehlen und
riefen: "Ist das nicht eben Goettlichkeit, dass es Goetter, aber
keinen Gott giebt?"
3:389
Wer Ohren hat, der hoere. -
3:390
Also redete Zarathustra in der Stadt, die er liebte und welche
zubenannt ist die bunte Kuh. Von hier naemlich hatte er nur noch zwei
Tage zu gehen, dass er wieder in seine Hoehle kaeme und zu seinen
Thieren; seine Seele aber frohlockte bestaendig ob der Naehe seiner
Heimkehr. -
3:391
Die Heimkehr
3:392
Oh Einsamkeit! Du meine _Heimat_ Einsamkeit! Zu lange lebte ich wild
in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thraenen zu dir heimkehrte!
3:393
Nun drohe mir nur mit dem Finger, wie Muetter drohn, nein laechle mir
zu, wie Muetter laecheln, nun sprich nur: "Und wer war das, der wie
ein Sturmwind einst von mir davonstuermte? -
3:394
- der scheidend rief: zu lange sass ich bei der Einsamkeit, da
verlernte ich das Schweigen! _Das_ - lerntest du nun wohl?
3:395
Oh Zarathustra, Alles weiss ich: und dass du unter den Vielen
_verlassener_ warst, du Einer, als je bei mir!
3:396
Ein Anderes ist Verlassenheit, ein Anderes Einsamkeit: _Das_ -
lerntest du nun! Und dass du unter Menschen immer wild und fremd sein
wirst:
3:397
-Wild und fremd auch noch, wenn sie dich lieben: denn zuerst von Allem
wollen sie _geschont_ sein!
3:398
Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause; hier kannst du Alles
hinausreden und alle Gruende ausschuetten, Nichts schaemt sich hier
versteckter, verstockter Gefuehle.
3:399
Hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln
dir: denn sie wollen auf deinem Ruecken reiten. Auf jedem Gleichniss
reitest du hier zu jeder Wahrheit.
3:400
Aufrecht und aufrichtig darfst du hier zu allen Dingen reden: und
wahrlich, wie Lob klingt es ihren Ohren, dass Einer mit allen Dingen -
gerade redet!
3:401
Ein Anderes aber ist Verlassensein. Denn, weisst du noch, oh
Zarathustra? Als damals dein Vogel ueber dir schrie, als du im Walde
standest, unschluessig, wohin? unkundig, einem Leichnam nahe: -
3:402
- als du sprachst: moegen mich meine Thiere fuehren! Gefaehrlicher
fand ich's unter Menschen, als unter Thieren: - _Das_ war
Verlassenheit!
3:403
Und weisst du noch, oh Zarathustra? Als du auf deiner Insel sassest,
unter leeren Eimern ein Brunnen Weins, gebend und ausgebend, unter
Durstigen schenkend und ausschenkend:
3:404
- bis du endlich durstig allein unter Trunkenen sassest und naechtlich
klagtest `ist Nehmen nicht seliger als Geben? Und Stehlen noch seliger
als Nehmen?` - _Das_ war Verlassenheit!
3:405
Und weisst du noch, oh Zarathustra? Als deine stillste Stunde kam und
dich von dir selber forttrieb, als sie mit boesem Fluestern sprach:
`Sprich und zerbrich!` -
3:406
- als sie dir all dein Warten und Schweigen leid machte und deinen
demuethigen Muth entmuthigte: _Das_ war Verlassenheit!" -
3:407
Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Wie selig und zaertlich
redet deine Stimme zu mir!
3:408
Wir fragen einander nicht, wir klagen einander nicht, wir gehen offen
mit einander durch offne Thueren.
3:409
Denn offen ist es bei dir und hell; und auch die Stunden laufen hier
auf leichteren Fuessen. Im Dunklen naemlich traegt man schwerer an der
Zeit, als im Lichte.
3:410
Hier springen mir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf: alles Sein
will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.
3:411
Da unten aber - da ist alles Reden umsonst! Da ist Vergessen und
Voruebergehn die beste Weisheit: _Das_ - lernte ich nun!
3:412
Wer Alles bei den Menschen begreifen wollte, der muesste Alles
angreifen. Aber dazu habe ich zu reinliche Haende.
3:413
Ich mag schon ihren Athem nicht einathmen; ach, dass ich so lange
unter ihrem Laerm und ueblem Athem lebte!
3:414
Oh selige Stille um mich! Oh reine Gerueche um mich! Oh wie aus tiefer
Brust diese Stille reinen Athem holt! Oh wie sie horcht, diese selige
Stille!
3:415
Aber da unten - da redet Alles, da wird Alles ueberhoert. Man mag
seine Weisheit mit Glocken einlaeuten: die Kraemer auf dem Markte
werden sie mit Pfennigen ueberklingeln!
3:416
Alles bei ihnen redet, Niemand weiss mehr zu verstehn. Alles faellt
in's Wasser, Nichts faellt mehr in tiefe Brunnen.
3:417
Alles bei ihnen redet, Nichts geraeth mehr und kommt zu Ende. Alles
gackert, aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und Eier
brueten?
3:418
Alles bei ihnen redet, Alles wird zerredet. Und was gestern noch
zu hart war fuer die Zeit selber und ihren Zahn: heute haengt es
zerschabt und zernagt aus den Maeulern der Heutigen.
3:419
Alles bei ihnen redet, Alles wird verrathen. Und was einst Geheimniss
hiess und Heimlichkeit tiefer Seelen, heute gehoert es den
Gassen-Trompetern und andern Schmetterlingen.
3:420
Oh Menschenwesen, du wunderliches! Du Laerm auf dunklen Gassen! Nun
liegst du wieder hinter mir: - meine groesste Gefahr liegt hinter mir!
3:421
Im Schonen und Mitleiden lag immer meine groesste Gefahr; und alles
Menschenwesen will geschont und gelitten sein.
3:422
Mit verhaltenen Wahrheiten, mit Narrenhand und vernarrtem Herzen und
reich an kleinen Luegen des Mitleidens: - also lebte ich immer unter
Menschen.
3:423
Verkleidet sass ich unter ihnen, bereit, _mich_ zu verkennen, dass ich
_sie_ ertruege, und gern mir zuredend "du Narr, du kennst die Menschen
nicht!"
3:424
Man verlernt die Menschen, wenn man unter Menschen lebt: zu viel
Vordergrund ist an allen Menschen, - was sollen da weitsichtige,
weit-suechtige Augen!
3:425
Und wenn sie mich verkannten: ich Narr schonte sie darob mehr, als
mich: gewohnt zur Haerte gegen mich und oft noch an mir selber mich
raechend fuer diese Schonung.
3:426
Zerstochen von giftigen Fliegen und ausgehoehlt, dem Steine gleich,
von vielen Tropfen Bosheit, so sass ich unter ihnen und redete mir
noch zu: "unschuldig ist alles Kleine an seiner Kleinheit!"
3:427
Sonderlich Die, welche sich "die Guten" heissen, fand ich als die
giftigsten Fliegen: sie stechen in aller Unschuld, sie luegen in aller
Unschuld; wie _vermoechten_ sie, gegen mich - gerecht zu sein!
3:428
Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid luegen. Mitleid macht
dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten naemlich ist
unergruendlich.
3:429
Mich selber verbergen und meinen Reichthum - _das_ lernte ich da
unten: denn jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war der Lug meines
Mitleidens, dass ich bei jedem wusste,
3:430
- dass ich jedem es ansah und anroch, was ihm Geistes _genug_ und was
ihm schon Geistes _zuviel_ war!
3:431
Ihre steifen Weisen: ich hiess sie weise, nicht steif, - so lernte ich
Worte verschlucken. Ihre Todtengraeber: ich hiess sie Forscher und
Pruefer, - so lernte ich Worte vertauschen.
3:432
Die Todtengraeber graben sich Krankheiten an. Unter altem Schutte ruhn
schlimme Duenste. Man soll den Morast nicht aufruehren. Man soll auf
Bergen leben.
3:433
Mit seligen Nuestern athme ich wieder Berges-Freiheit! Erloest ist
endlich meine Nase vom Geruch alles Menschenwesens!
3:434
Von scharfen Lueften gekitzelt, wie von schaeumenden Weinen, _niest_
meine Seele, - niest und jubelt sich zu: Gesundheit!
3:435
Also sprach Zarathustra.
3:436
Von den drei Boesen
3:437
hp 1.
3:438
Im Traum, im letzten Morgentraume stand ich heut auf einem Vorgebirge,
- jenseits der Welt, hielt eine Wage und _wog_ die Welt.
3:439
Oh dass zu frueh mir die Morgenroethe kam: die gluehte mich
wach, die Eifersuechtige! Eifersuechtig ist sie immer auf meine
Morgentraum-Gluthen.
3:440
Messbar fuer Den, der Zeit hat, waegbar fuer einen guten Waeger,
erfliegbar fuer starke Fittige, errathbar fuer goettliche
Nuesseknacker: also fand mein Traum die Welt: -
3:441
Mein Traum, ein kuehner Segler, halb Schiff, halb Windsbraut, gleich
Schmetterlingen schweigsam, ungeduldig gleich Edelfalken: wie hatte er
doch zum Welt-Waegen heute Geduld und Weile!
3:442
Sprach ihm heimlich wohl meine Weisheit zu, meine lachende wache
Tags-Weisheit, welche ueber alle "unendliche Welten" spottet? Denn sie
spricht: "wo Kraft ist, wird auch die _Zahl_ Meisterin: die hat mehr
Kraft."
3:443
Wie sicher schaute mein Traum auf diese endliche Welt, nicht
neugierig, nicht altgierig, nicht fuerchtend, nicht bittend: -
3:444
- als ob ein voller Apfel sich meiner Hand boete, ein reifer
Goldapfel, mit kuehl-sanfter sammtener Haut: - so bot sich mir die
Welt: -
3:445
- als ob ein Baum mir winke, ein breitaestiger, starkwilliger,
gekruemmt zur Lehne und noch zum Fussbrett fuer den Wegmueden: so
stand die Welt auf meinem Vorgebirge: -
3:446
- als ob zierliche Haende mir einen Schrein entgegentruegen, - einen
Schrein offen fuer das Entzuecken schamhafter verehrender Augen: also
bot sich mir heute die Welt entgegen: -
3:447
- nicht Raethsel genug, um Menschen-Liebe davon zu scheuchen, nicht
Loesung genug, um Menschen-Weisheit einzuschlaefern: - ein menschlich
gutes Ding war mir heut die Welt, der man so Boeses nachredet!
3:448
Wie danke ich es meinem Morgentraum, dass ich also in der Fruehe heut
die Welt wog! Als ein menschlich gutes Ding kam er zu mir, dieser
Traum und Herzenstroester!
3:449
Und dass ich's ihm gleich thue am Tage und sein Bestes ihm nach- und
ablerne: will ich jetzt die drei boesesten Dinge auf die Wage thun und
menschlich gut abwaegen. -
3:450
Wer da segnen lehrte, der lehrte auch fluchen: welches sind in der
Welt die drei bestverfluchten Dinge? Diese will ich auf die Wage thun.
3:451
Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht: diese Drei wurden bisher am besten
verflucht und am schlimmsten beleu- und beluegenmundet, - diese Drei
will ich menschlich gut abwaegen.
3:452
Wohlauf! Hier ist mein Vorgebirg und da das Meer: _das_ waelzt sich zu
mir heran, zottelig, schmeichlerisch, das getreue alte hundertkoepfige
Hunds-Ungethuem, das ich liebe.
3:453
Wohlauf! Hier will ich die Wage halten ueber gewaelztem Meere:
und auch einen Zeugen waehle ich, dass er zusehe, - dich, du
Einsiedler-Baum, dich starkduftigen, breitgewoelbten, den ich liebe! -
3:454
Auf welcher Bruecke geht zum Dereinst das Jetzt? Nach welchem Zwange
zwingt das Hohe sich zum Niederen? Und was heisst auch das Hoechste
noch - hinaufwachsen? -
3:455
Nun steht die Wage gleich und still: drei schwere Fragen warf ich
hinein, drei schwere Antworten traegt die andre Wagschale.
3:456
hp 2.
3:457
Wollust: allen busshemdigen Leib-Veraechtern ihr Stachel und Pfahl,
und als "Welt" verflucht bei allen Hinterweltlern: denn sie hoehnt und
narrt alle Wirr- und Irr-Lehrer.
3:458
Wollust: dem Gesindel das langsame Feuer, auf dem es verbrannt wird;
allem wurmichten Holze, allen stinkenden Lumpen der bereite Brunst-
und Brodel-Ofen.
3:459
Wollust: fuer die freien Herzen unschuldig und frei, das Garten-Glueck
der Erde, aller Zukunft Dankes-Ueberschwang an das Jetzt.
3:460
Wollust: nur dem Welken ein suesslich Gift, fuer die Loewen-Willigen
aber die grosse Herzstaerkung, und der ehrfuerchtig geschonte Wein der
Weine.
3:461
Wollust: das grosse Gleichniss-Glueck fuer hoeheres Glueck und
hoechste Hoffnung. Vielem naemlich ist Ehe verheissen und mehr als
Ehe, -
3:462
- Vielem, das fremder sich ist, als Mann und Weib: - und wer begriff
es ganz, _wie_fremd_ sich Mann und Weib sind!
3:463
Wollust: - doch ich will Zaeune um meine Gedanken haben und auch noch
um meine Worte: dass mir nicht in meine Gaerten die Schweine und
Schwaermer brechen! -
3:464
Herrschsucht: die Glueh-Geissel der haertesten Herzensharten; die
grause Marter, die sich dem Grausamsten selber aufspart; die duestre
Flamme lebendiger Scheiterhaufen.
3:465
Herrschsucht: die boshafte Bremse, die den eitelsten Voelkern
aufgesetzt wird; die Verhoehnerin aller ungewissen Tugend; die auf
jedem Rosse und jedem Stolze reitet.
3:466
Herrschsucht: das Erdbeben, das alles Morsche und Hoehlichte bricht
und aufbricht; die rollende grollende strafende Zerbrecherin
uebertuenchter Graeber; das blitzende Fragezeichen neben vorzeitigen
Antworten.
3:467
Herrschsucht: vor deren Blick der Mensch kriecht und duckt und froehnt
und niedriger wird als Schlange und Schwein: - bis endlich die grosse
Verachtung aus ihm aufschreie -,
3:468
Herrschsucht: die furchtbare Lehrerin der grossen Verachtung, welche
Staedten und Reichen in's Antlitz predigt "hinweg mit dir!" - bis es
aus ihnen selber aufschreie "hinweg mit _mir_!"
3:469
Herrschsucht: die aber lockend auch zu Reinen und Einsamen und hinauf
zu selbstgenugsamen Hoehen steigt, gluehend gleich einer Liebe, welche
purpurne Seligkeiten lockend an Erdenhimmel malt.
3:470
Herrschsucht: doch wer hiesse es _Sucht_, wenn das Hohe hinab nach
Macht geluestet! Wahrlich, nichts Sieches und Suechtiges ist an
solchem Geluesten und Niedersteigen!
3:471
Dass die einsame Hoehe sich nicht ewig vereinsame und selbst
begnuege; dass der Berg zu Thale komme und die Winde der Hoehe zu den
Niederungen: -
3:472
Oh wer faende den rechten Tauf- und Tugendnamen fuer solche Sehnsucht!
"Schenkende Tugend" - so nannte das Unnennbare einst Zarathustra.
3:473
Und damals geschah es auch, - und wahrlich, es geschah zum ersten
Male! - dass sein Wort die _Selbstsucht_ selig pries, die heile,
gesunde Selbstsucht, die aus maechtiger Seele quillt: -
3:474
- aus maechtiger Seele, zu welcher der hohe Leib gehoert, der schoene,
sieghafte, erquickliche, um den herum jedwedes Ding Spiegel wird:
3:475
- der geschmeidige ueberredende Leib, der Taenzer, dessen Gleichniss
und Auszug die selbst-lustige Seele ist. Solcher Leiber und Seelen
Selbst-Lust heisst sich selber: "Tugend."
3:476
Mit ihren Worten von Gut und Schlecht schirmt sich solche Selbst-Lust
wie mit heiligen Hainen; mit den Namen ihres Gluecks bannt sie von
sich alles Veraechtliche.
3:477
Von sich weg bannt sie alles Feige; sie spricht: Schlecht - das
ist feige! Veraechtlich duenkt ihr der immer Sorgende, Seufzende,
Klaegliche und wer auch die kleinsten Vortheile aufliest.
3:478
Sie verachtet auch alle wehselige Weisheit: denn, wahrlich, es giebt
auch Weisheit, die im Dunklen blueht, eine Nachtschatten-Weisheit: als
welche immer seufzt: "Alles ist eitel!"
3:479
Das scheue Misstrauen gilt ihr gering, und Jeder, wer Schwuere statt
Blicke und Haende will: auch alle allzu misstrauische Weisheit, - denn
solche ist feiger Seelen Art.
3:480
Geringer noch gilt ihr der Schnell-Gefaellige, der Huendische, der
gleich auf dem Ruecken liegt, der Demuethige; und auch Weisheit giebt
es, die demuethig und huendisch und fromm und schnellgefaellig ist.
3:481
Verhasst ist ihr gar und ein Ekel, wer nie sich wehren will,
wer giftigen Speichel und boese Blicke hinunterschluckt, der
All-zu-Geduldige, Alles-Dulder, Allgenuegsame: das naemlich ist die
knechtische Art.
3:482
Ob Einer vor Goettern und goettlichen Fusstritten knechtisch ist, ob
vor Menschen und bloeden Menschen-Meinungen: _alle_ Knechts-Art speit
sie an, diese selige Selbstsucht!
3:483
Schlecht: so beisst sie Alles, was geknickt und knickerisch-knechtisch
ist, unfreie Zwinker-Augen, gedruckte Herzen, und jene falsche
nachgebende Art, welche mit breiten feigen Lippen kuesst.
3:484
Und After-Weisheit: so heisst sie Alles, was Knechte und Greise
und Muede witzeln; und sonderlich die ganze schlimme aberwitzige,
ueberwitzige Priester-Narrheit!
3:485
Die After-Weisen aber, alle die Priester, Weltmueden und wessen Seele
von Weibs- und Knechtsart ist, - oh wie hat ihr Spiel von jeher der
Selbstsucht uebel mitgespielt!
3:486
Und Das gerade sollte Tugend sein und Tugend heissen, _dass_ man
der Selbstsucht uebel mitspiele! Und "selbstlos" - so wuenschten
sich selber mit gutem Grunde alle diese weltmueden Feiglinge und
Kreuzspinnen!
3:487
Aber denen Allen kommt nun der Tag, die Wandlung, das Richtschwert,
_der_grosse_Mittag_: da soll Vieles offenbar werden!
3:488
Und wer das Ich heil und heilig spricht und die Selbstsucht selig,
wahrlich, der spricht auch, was er weiss, ein Weissager: "Siehe, er
kommt, er ist nahe, der grosse Mittag!"
3:489
Also sprach Zarathustra.
3:490
Vom Geist der Schwere
3:491
hp 1.
3:492
Mein Mundwerk - ist des Volks: zu grob und herzlich rede ich fuer die
Seidenhasen. Und noch fremder klingt mein Wort allen Tinten-Fischen
und Feder-Fuechsen.
3:493
Meine Hand - ist eine Narrenhand: wehe allen Tischen und Waenden, und
was noch Platz hat fuer Narren-Zierath, Narren-Schmierath!
3:494
Mein Fuss - ist ein Pferdefuss; damit trapple und trabe ich ueber
Stock und Stein, kreuz- und querfeld-ein und bin des Teufels vor Lust
bei allem schnellen Laufen.
3:495
Mein Magen - ist wohl eines Adlers Magen? Denn er liebt am liebsten
Lammfleisch. Gewisslich aber ist er eines Vogels Magen.
3:496
Von unschuldigen Dingen genaehrt und von Wenigem, bereit und
ungeduldig zu fliegen, davonzufliegen - das ist nun meine Art: wie
sollte nicht Etwas daran von Vogel-Art sein!
3:497
Und zumal, dass ich dem Geist der Schwere feind bin, das ist
Vogel-Art: und wahrlich, todfeind, erzfeind, urfeind! Oh wohin flog
und verflog sich nicht schon meine Feindschaft!
3:498
Davon koennte ich schon ein Lied singen - - und _will_ es singen:
ob ich gleich allein in leerem Hause bin und es meinen eignen Ohren
singen muss.
3:499
Andre Saenger giebt es freilich, denen macht das volle Haus erst ihre
Kehle weide, ihre Hand gespraechig, ihr Auge ausdruecklich, ihr Herz
wach: - Denen gleiche ich nicht. -
3:500
hp 2.
3:501
Wer die Menschen einst fliegen lehrt, der hat alle Grenzsteine
verrueckt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fliegen, die
Erde wird er neu taufen - als "die Leichte."
3:502
Der Vogel Strauss laeuft schneller als das schnellste Pferd, aber auch
er steckt noch den Kopf schwer in schwere Erde: also der Mensch, der
noch nicht fliegen kann.
3:503
Schwer heisst ihm Erde und Leben; und so _will_ es der Geist der
Schwere! Wer aber leicht werden will und ein Vogel, der muss sich
selber lieben: - also lehre _ich_.
3:504
Nicht freilich mit der Liebe der Siechen und Suechtigen: denn bei
denen stinkt auch die Eigenliebe!
3:505
Man muss sich selber lieben lernen - also lehre ich - mit einer heilen
und gesunden Liebe: dass man es bei sich selber aushalte und nicht
umherschweife.
3:506
Solches Umherschweifen tauft sich "Naechstenliebe": mit diesem Worte
ist bisher am besten gelogen und geheuchelt worden, und sonderlich von
Solchen, die aller Welt schwer fielen.
3:507
Und wahrlich, das ist kein Gebot fuer Heute und Morgen, sich lieben
_lernen_. Vielmehr ist von allen Kuensten diese die feinste,
listigste, letzte und geduldsamste.
3:508
Fuer seinen Eigener ist naemlich alles Eigene gut versteckt; und von
allen Schatzgruben wird die eigne am spaetesten ausgegraben, - also
schafft es der Geist der Schwere.
3:509
Fast in der Wiege giebt man uns schon schwere Worte und Werthe mit:
"gut" und "boese" - so heisst sich diese Mitgift. Um derentwillen
vergiebt man uns, dass wir leben.
3:510
Und dazu laesst man die Kindlein zu sich kommen, dass man ihnen bei
Zeiten wehre, sich selber zu lieben: also schafft es der Geist der
Schwere.
3:511
Und wir - wir schleppen treulich, was man uns mitgiebt, auf harten
Schultern und ueber rauhe Berge! Und schwitzen wir, so sagt man uns:
"Ja, das Leben ist schwer zu tragen!"
3:512
Aber der Mensch nur ist sich schwer zu tragen! Das macht, er schleppt
zu vieles Fremde auf seinen Schultern. Dem Kameele gleich kniet er
nieder und laesst sich gut aufladen.
3:513
Sonderlich der starke, tragsame Mensch, dem Ehrfurcht innewohnt: zu
viele _fremde_ schwere Worte und Werthe laedt er auf sich, - nun
duenkt das Leben ihm eine Wueste!
3:514
Und wahrlich! Auch manches _Eigene_ ist schwer zu tragen! Und viel
Inwendiges am Menschen ist der Auster gleich, naemlich ekel und
schluepfrig und schwer erfasslich -,
3:515
- also dass eine edle Schale mit edler Zierath fuerbitten muss. Aber
auch diese Kunst muss man lernen: Schale _haben_ und schoenen Schein
und kluge Blindheit!
3:516
Abermals truegt ueber Manches am Menschen, dass manche Schale gering
und traurig und zu sehr Schale ist. Viel verborgene Guete und Kraft
wird nie errathen; die koestlichsten Leckerbissen finden keine
Schmecker!
3:517
Die Frauen wissen das, die koestlichsten: ein Wenig fetter, ein Wenig
magerer - oh wie viel Schicksal liegt in so Wenigem!
3:518
Der Mensch ist schwer zu entdecken und sich selber noch am schwersten;
oft luegt der Geist ueber die Seele. Also schafft es der Geist der
Schwere.
3:519
Der aber hat sich selber entdeckt, welcher spricht: Das ist _mein_
Gutes und Boeses: damit hat er den Maulwurf und Zwerg stumm gemacht,
welcher spricht "Allen gut, Allen boes."
3:520
Wahrlich, ich mag auch Solche nicht, denen jegliches Ding gut und
diese Welt gar die beste heisst. Solche nenne ich die Allgenuegsamen.
3:521
Allgenuegsamkeit, die Alles zu schmecken weiss: das ist nicht der
beste Geschmack! Ich ehre die widerspaenstigen waehlerischen Zungen
und Maegen, welche "Ich" und "Ja" und "Nein" sagen lernten.
3:522
Alles aber kauen und verdauen - das ist eine rechte Schweine-Art!
Immer I-a sagen - das lernte allein der Esel, und wer seines Geistes
ist! -
3:523
Das tiefe Gelb und das heisse Roth: so will es _mein_ Geschmack, - der
mischt Blut zu allen Farben. Wer aber sein Haus weiss tuencht, der
verraeth mir eine weissgetuenchte Seele.
3:524
In Mumien verliebt die Einen, die Andern in Gespenster; und Beide
gleich feind allem Fleisch und Blute - oh wie gehen Beide mir wider
den Geschmack! Denn ich liebe Blut.
3:525
Und dort will ich nicht wohnen und weilen, wo Jedermann spuckt und
speit: das ist nun _mein_ Geschmack, - lieber noch lebte ich unter
Dieben und Meineidigen. Niemand traegt Gold im Munde.
3:526
Widriger aber sind mir noch alle Speichellecker; und das widrigste
Thier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das wollte
nicht lieben und doch von Liebe leben.
3:527
Unselig heisse ich Alle, die nur Eine Wahl haben: boese Thiere zu
werden oder boese Thierbaendiger: bei Solchen wuerde ich mir keine
Huetten bauen.
3:528
Unselig heisse ich auch Die, welche immer _warten_ muessen, - die
gehen mir wider den Geschmack: alle die Zoellner und Kraemer und
Koenige und andren Laender- und Ladenhueter.
3:529
Wahrlich, ich lernte das Warten auch und von Grund aus,
3:530
- aber nur das Warten auf _mich_. Und ueber Allem lernte ich stehn und
gehn und laufen und springen und klettern und tanzen.
3:531
Das ist aber meine Lehre: wer einst fliegen lernen will, der muss
erst stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen: - man
erfliegt das Fliegen nicht!
3:532
Mit Strickleitern lernte ich manches Fenster erklettern, mit hurtigen
Beinen klomm ich auf hohe Masten: auf hohen Masten der Erkenntniss
sitzen duenkte mich keine geringe Seligkeit, -
3:533
- gleich kleinen Flammen flackern auf hohen Masten: ein kleines Licht
zwar, aber doch ein grosser Trost fuer verschlagene Schiffer und
Schiffbruechige! -
3:534
Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit; nicht auf
Einer Leiter stieg ich zur Hoehe, wo mein Auge in meine Ferne
schweift.
3:535
Und ungern nur fragte ich stets nach Wegen, - das gieng mir immer
wider den Geschmack! Lieber fragte und versuchte ich die Wege selber.
3:536
Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen: - und wahrlich, auch
antworten muss man _lernen_ auf solches Fragen! Das aber - ist mein
Geschmack:
3:537
- kein guter, kein schlechter, aber _mein_ Geschmack, dessen ich weder
Scham noch Hehl mehr habe.
3:538
"Das - ist nun _mein_ Weg, - wo ist der eure?" so antwortete ich
Denen, welche mich "nach dem Wege" fragten. _Den_ Weg naemlich - den
giebt es nicht!
3:539
Also sprach Zarathustra.
3:540
Von alten und neuen Tafeln
3:541
hp 1.
3:542
Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch
neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde?
3:543
- die Stunde meines Niederganges, Unterganges: denn noch Ein Mal will
ich zu den Menschen gehn.
3:544
Dess warte ich nun: denn erst muessen mir die Zeichen kommen,
dass es _meine_ Stunde sei, - naemlich der lachende Loewe mit dem
Taubenschwarme.
3:545
Inzwischen rede ich als Einer, der Zeit hat, zu mir selber. Niemand
erzaehlt mir Neues: so erzaehle ich mir mich selber. -
3:546
hp 2.
3:547
Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie sitzen auf einem alten
Duenkel: Alle duenkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen
gut und boese sei.
3:548
Eine alte muede Sache duenkte ihnen alles Reden von Tugend; und wer
gut schlafen wollte, der sprach vor Schlafengehen noch von "Gut" und
"Boese".
3:549
Diese Schlaeferei stoerte ich auf, als ich lehrte: was gut und boese
ist, _das_weiss_noch_Niemand_: - es sei denn der Schaffende!
3:550
- Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde
ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst _schafft_ es, _dass_
Etwas gut und boese ist.
3:551
Und ich hiess sie ihre alten Lehr-Stuehle umwerfen, und wo nur jener
alte Duenkel gesessen hatte; ich hiess sie lachen ueber ihre grossen
Tugend-Meister und Heiligen und Dichter und Welt-Erloeser.
3:552
Ueber ihre duesteren Weisen hiess ich sie lachen, und wer je als
schwarze Vogelscheuche warnend auf dem Baume des Lebens gesessen
hatte.
3:553
An ihre grosse Graeberstrasse setzte ich mich und selber zu Aas
und Geiern - und ich lachte ueber all ihr Einst und seine muerbe
verfallende Herrlichkeit.
3:554
Wahrlich, gleich Busspredigern und Narrn schrie ich Zorn und Zeter
ueber all ihr Grosses und Kleines -, dass ihr Bestes so gar klein ist!
Dass ihr Boesestes so gar klein ist! - also lachte ich.
3:555
Meine weise Sehnsucht schrie und lachte also aus mir, die auf
Bergen geboren ist, eine wilde Weisheit wahrlich! - meine grosse
fluegelbrausende Sehnsucht.
3:556
Und oft riss sie mich fort und hinauf und hinweg und mitten im
Lachen: da flog ich wohl schaudernd, ein Pfeil, durch sonnentrunkenes
Entzuecken:
3:557
- hinaus in ferne Zukuenfte, die kein Traum noch sah, in heissere
Sueden, als je sich Bildner traeumten: dorthin, wo Goetter tanzend
sich aller Kleider schaemen: -
3:558
- dass ich naemlich in Gleichnissen rede und gleich Dichtern hinke und
stammle: und wahrlich, ich schaeme mich, dass ich noch Dichter sein
muss! -
3:559
Wo alles Werden mich Goetter-Tanz und Goetter-Muthwillen duenkte, und
die Welt los- und ausgelassen und zu sich selber zurueckfliehend: -
3:560
- als ein ewiges Sich-fliehn und -Wiedersuchen vieler Goetter, als das
selige Sich-Widersprechen, Sich-Wieder-hoeren, Sich-Wieder-Zugehoeren
vieler Goetter: -
3:561
Wo alle Zeit mich ein seliger Hohn auf Augenblicke duenkte, wo die
Nothwendigkeit die Freiheit selber war, die selig mit dem Stachel der
Freiheit spielte: -
3:562
Wo ich auch meinen alten Teufel und Erzfeind wiederfand, den Geist der
Schwere und Alles, was er schuf: Zwang, Satzung, Noth und Folge und
Zweck und Wille und Gut und Boese: -
3:563
Denn muss nicht dasein, _ueber_ das getanzt, hinweggetanzt werde?
Muessen nicht um der Leichten, Leichtesten willen - Maulwuerfe und
schwere Zwerge dasein? - -
3:564
hp 3.
3:565
Dort war's auch, wo ich das Wort "Uebermensch" vom Wege auflas, und
dass der Mensch Etwas sei, das ueberwunden werden muesse,
3:566
- dass der Mensch eine Bruecke sei und kein Zweck: sich selig preisend
ob seines Mittags und Abends, als Weg zu neuen Morgenroethen:
3:567
- das Zarathustra-Wort vom grossen Mittage, und was sonst ich ueber
den Menschen aufhaengte, gleich purpurnen zweiten Abendroethen.
3:568
Wahrlich, auch neue Sterne liess ich sie sehn sammt neuen Naechten;
und ueber Wolken und Tag und Nacht spannte ich noch das Lachen aus wie
ein buntes Gezelt.
3:569
Ich lehrte sie all _mein_ Dichten und Trachten: in Eins zu dichten und
zusammen zu tragen, was Bruchstueck ist am Menschen und Raethsel und
grauser Zufall, -
3:570
- als Dichter, Raethselrather und Erloeser des Zufalls lehrte ich
sie an der Zukunft schaffen, und Alles, das _war_ -, schaffend zu
erloesen.
3:571
Das Vergangne am Menschen zu erloesen und alles "Es war" umzuschauen,
bis der Wille spricht: "Aber so wollte ich es! So werde ich's wollen
-"
3:572
- Diess hiess ich ihnen Erloesung, Diess allein lehrte ich sie
Erloesung heissen. - -
3:573
Nun warte ich _meiner_ Erloesung -, dass ich zum letzten Male zu ihnen
gehe.
3:574
Denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen: _unter_ ihnen will ich
untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben!
3:575
Der Sonne lernte ich Das ab, wenn sie hinabgeht, die Ueberreiche: Gold
schuettet sie da in's Meer aus unerschoepflichem Reichthume, -
3:576
- also, dass der aermste Fischer noch mit _goldenem_ Ruder rudert!
Diess naemlich sah ich einst und wurde der Thraenen nicht satt im
Zuschauen. - -
3:577
Der Sonne gleich will auch Zarathustra untergehn: nun sitzt er hier
und wartet, alte zerbrochne Tafeln um sich und auch neue Tafeln, -
halbbeschriebene.
3:578
hp 4.
3:579
Siehe, hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brueder, die sie
mit mir zu Thale und in fleischerne Herzen tragen? -
3:580
Also heischt es meine grosse Liebe zu den Fernsten: schone deinen
Naechsten nicht! Der Mensch ist Etwas, das ueberwunden werden muss.
3:581
Es giebt vielerlei Weg und Weise der Ueberwindung.- da siehe
_du_ zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: "der Mensch kann auch
_uebersprungen_ werden."
3:582
Ueberwinde dich selber noch in deinem Naechsten: und ein Recht, das du
dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen!
3:583
Was du thust, das kann dir Keiner wieder thun. Siehe, es giebt keine
Vergeltung.
3:584
Wer sich nicht befehlen kann, der soll gehorchen. Und Mancher _kann_
sich befehlen, aber da fehlt noch Viel, dass er sich auch gehorche!
3:585
hp 5.
3:586
Also will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts _umsonst_ haben,
am wenigsten das Leben.
3:587
Wer vom Poebel ist, der will umsonst leben; wir Anderen aber, denen
das Leben sich gab, - wir sinnen immer darueber, _was_ wir am besten
_dagegen_ geben!
3:588
Und wahrlich, diess ist eine vornehme Rede, welche spricht: "was _uns_
das Leben verspricht, das wollen _wir_ - dem Leben halten!"
3:589
Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt. Und
- man soll nicht geniessen _wollen_!
3:590
Genuss und Unschuld naemlich sind die schamhaftesten Dinge: Beide
wollen nicht gesucht sein. Man soll sie _haben_ -, aber man soll eher
noch nach Schuld und Schmerzen _suchen_! -
3:591
hp 6.
3:592
Oh meine Brueder, wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert. Nun
aber sind wir Erstlinge.
3:593
Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir brennen und braten Alle
zu Ehren alter Goetzenbilder.
3:594
Unser Bestes ist noch jung: das reizt alte Gaumen. Unser Fleisch ist
zart, unser Fell ist nur ein Lamm-Fell: - wie sollten wir nicht alte
Goetzenpriester reizen!
3:595
_In_uns_selber_ wohnt er noch, der alte Goetzenpriester, der unser
Bestes sich zum Schmause braet. Ach, meine Brueder, wie sollten
Erstlinge nicht Opfer sein!
3:596
Aber so will es unsre Art; und ich liebe Die, welche sich nicht
bewahren wollen. Die Untergehenden liebe ich mit meiner ganzen Liebe:
denn sie gehn hinueber. -
3:597
hp 7.
3:598
Wahr sein - das _koennen_ Wenige! Und wer es kann, der will es noch
nicht! Am wenigsten aber koennen es die Guten.
3:599
Oh diese Guten! - Gute Menschen reden nie die Wahrheit; fuer den Geist
ist solchermaassen gut sein eine Krankheit.
3:600
Sie geben nach, diese Guten, sie ergeben sich, ihr Herz spricht nach,
ihr Grund gehorcht; wer aber gehorcht, der hoert sich selber nicht!
3:601
Alles, was den Guten boese heisst, muss zusammen kommen, dass Eine
Wahrheit geboren werde: oh meine Brueder, seid ihr auch boese genug zu
_dieser_ Wahrheit?
3:602
Das verwegene Wagen, das lange Misstrauen, das grausame Nein, der
Ueberdruss, das Schneiden in's Lebendige - wie selten kommt _das_
zusammen! Aus solchem Samen aber wird Wahrheit gezeugt!
3:603
_Neben_ dem boesen Gewissen wuchs bisher alles _Wissen_! Zerbrecht,
zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln!
3:604
hp 8.
3:605
Wenn das Wasser Balken hat, wenn Stege und Gelaender ueber den Fluss
springen: wahrlich, da findet Keiner Glauben, der da spricht: "Alles
ist im Fluss."
3:606
Sondern selber die Toelpel widersprechen ihm. "Wie? sagen die Toelpel,
Alles waere im Flusse? Balken und Gelaender sind doch _ueber_ dem
Flusse!"
3:607
"_Ueber_ dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe der Dinge, die
Bruecken, Begriffe, alles `Gut` und `Boese`: das ist Alles fest!" -
3:608
Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thierbaendiger: dann lernen
auch die Witzigsten Misstrauen; und, wahrlich, nicht nur die Toelpel
sprechen dann: "Sollte nicht Alles - _stille_stehn_?"
3:609
"Im Grunde steht Alles stille" -, das ist eine rechte Winter-Lehre,
ein gut Ding fuer unfruchtbare Zeit, ein guter Trost fuer
Winterschlaefer und Ofenhocker.
3:610
"Im Grund steht Alles still" -: _dagegen_ aber predigt der Thauwind!
3:611
Der Thauwind, ein Stier, der kein pfluegender Stier ist, - ein
wuethender Stier, ein Zerstoerer, der mit zornigen Hoernern Eis
bricht! Eis aber - - _bricht_Stege_!
3:612
Oh meine Brueder, ist _jetzt_ nicht Alles _im_Flusse_? Sind nicht alle
Gelaender und Stege in's Wasser gefallen? Wer _hielte_ sich noch an
"Gut" und "Boese"?
3:613
"Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!" - Also predigt mir, oh meine
Brueder, durch alle Gassen!
3:614
hp 9.
3:615
Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und Boese. Um Wahrsager und
Sterndeuter drehte sich bisher das Rad dieses Wahns.
3:616
Einst glaubte man an Wahrsager und Sterndeuter: und darum glaubte man
"Alles ist Schicksal: du sollst, denn du musst!"
3:617
Dann wieder misstraute man allen Wahrsagern und Sterndeutern: und
_darum_ glaubte man "Alles ist Freiheit: du kannst, denn du willst!"
3:618
Oh meine Brueder, ueber Sterne und Zukunft ist bisher nur gewaehnt,
nicht gewusst worden: und _darum_ ist ueber Gut und Boese bisher nur
gewaehnt, nicht gewusst worden!
3:619
hp 10.
3:620
"Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht todtschlagen!" - solche Worte
hiess man einst heilig; vor ihnen beugte man Knie und Koepfe und zog
die Schuhe aus.
3:621
Aber ich frage euch: wo gab es je bessere Raeuber und Todtschlaeger in
der Welt, als es solche heilige Worte waren?
3:622
Ist in allem Leben selber nicht - Rauben und Todtschlagen? Und dass
solche Worte heilig hiessen, wurde damit die _Wahrheit_ selber nicht -
todtgeschlagen?
3:623
Oder war es eine Predigt des Todes, dass heilig hiess, was allem Leben
widersprach und widerrieth? - Oh meine Brueder, zerbrecht, zerbrecht
mir die alten tafeln!
3:624
hp 11.
3:625
Diess ist mein Mitleid mit allem Vergangenen, dass ich sehe: es ist
preisgegeben, -
3:626
- der Gnade, dem Geiste, dem Wahnsinne jedes Geschlechtes
preisgegeben, das kommt und Alles, was war, zu seiner Bruecke
umdeutet!
3:627
Ein grosser Gewalt-Herr koennte kommen, ein gewitzter Unhold, der mit
seiner Gnade und Ungnade alles Vergangene zwaenge und zwaengte: bis es
ihm Bruecke wuerde und Vorzeichen und Herold und Hahnenschrei.
3:628
Diess aber ist die andre Gefahr und mein andres Mitleiden: - wer vom
Poebel ist, dessen Gedenken geht zurueck bis zum Grossvater, - mit dem
Grossvater aber hoert die Zeit auf.
3:629
Also ist alles Vergangene preisgegeben: denn es koennte einmal kommen,
dass der Poebel Herr wuerde und in seichten Gewaessern alle Zeit
ertraenke.
3:630
Darum, oh meine Brueder, bedarf es eines _neuen_Adels_, der allem
Poebel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln
neu das Wort schreibt "edel".
3:631
Vieler Edlen naemlich bedarf es und vielerlei Edlen, dass es Adel
gebe! Oder, wie ich einst im Gleichniss sprach: "Das eben ist
Goettlichkeit, dass es Goetter, aber keinen Gott giebt!"
3:632
hp 12.
3:633
Oh meine Brueder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr
sollt mir Zeuger und Zuechter werden und Saeemaenner der Zukunft, -
3:634
- wahrlich, nicht zu einem Adel, den ihr kaufen koenntet gleich den
Kraemern und mit Kraemer-Golde: denn wenig Werth hat Alles, was seinen
Preis hat.
3:635
Nicht, woher ihr kommt, mache euch fuerderhin eure Ehre, sondern wohin
ihr geht! Euer Wille und euer Fuss, der ueber euch selber hinaus will,
- das mache eure neue Ehre!
3:636
Wahrlich nicht, dass ihr einem Fuersten gedient habt - was liegt noch
an Fuersten! - oder dem, was steht, zum Bollwerk wurdet, dass es
fester stuende!
3:637
Nicht, dass euer Geschlecht an Hoefen hoefisch wurde, und ihr lerntet,
bunt, einem Flamingo aehnlich, lange Stunden in flachen Teichen stehn.
3:638
- Denn Stehen-_koennen_ ist ein Verdienst bei Hoeflingen; und
alle Hoeflinge glauben, zur Seligkeit nach dem Tode gehoere -
Sitzen-_duerfen_! -
3:639
Nicht auch, dass ein Geist, den sie heilig nennen, eure Vorfahren in
gelobte Laender fuehrte, die _ich_ nicht lobe: denn wo der schlimmste
aller Baeume wuchs, das Kreuz, - an dem Lande ist Nichts zu loben! -
3:640
- und wahrlich, wohin dieser "heilige Geist" auch seine Ritter
fuehrte, immer liefen bei solchen Zuegen - Ziegen und Gaense und
Kreuz- und Querkoepfe _voran_! -
3:641
Oh meine Brueder, nicht zurueck soll euer Adel schauen, sondern
_hinaus_! Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und
Urvaeterlaendern!
3:642
Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel,
- das unentdeckte, im feinsten Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel
suchen und suchen!
3:643
An euren Kindern sollt ihr _gutmachen_, dass ihr eurer Vaeter Kinder
seid: alles Vergangene sollt ihr _so_ erloesen! Diese neue Tafel
stelle ich ueber euch!
3:644
hp 13.
3:645
"Wozu leben? Alles ist eitel! Leben - das ist Stroh dreschen; Leben -
das ist sich verbrennen und doch nicht warm werden." -
3:646
Solch alterthuemliches Geschwaetz gilt immer noch als "Weisheit"; dass
es aber alt ist und dumpfig riecht, _darum_ wird es besser geehrt.
Auch der Moder adelt. -
3:647
Kinder durften so reden: die _scheuen_ das Feuer, weil es sie brannte!
Es ist viel Kinderei in den alten Buechern der Weisheit.
3:648
Und wer immer "Stroh drischt", wie sollte der auf das Dreschen
laestern duerfen! Solchem Narren muesste man doch das Maul verbinden!
3:649
Solche setzen sich zu Tisch und bringen Nichts mit, selbst den guten
Hunger nicht: - und nun laestern sie "Alles ist eitel!"
3:650
Aber gut essen und trinken, oh meine Brueder, ist wahrlich keine eitle
Kunst! Zerbrecht, zerbrecht mir die Tafeln der Nimmer-Frohen!
3:651
hp 14.
3:652
"Dem Reinen ist Alles rein" - so spricht das Volk. Ich aber sage euch:
den Schweinen wird Alles Schwein!
3:653
Darum predigen die Schwaermer und Kopfhaenger, denen auch das Herz
niederhaengt: "die Welt selber ist ein kothiges Ungeheuer."
3:654
Denn diese Alle sind unsaeuberlichen Geistes; sonderlich aber Jene,
welche nicht Ruhe, noch Rast haben, es sei denn, sie sehen die Welt
_von_hinten_, - die Hinterweltler!
3:655
_Denen_ sage ich in's Gesicht, ob es gleich nicht lieblich klingt:
die Welt gleicht darin dem Menschen, dass sie einen Hintern hat, -
_so_Viel_ ist wahr!
3:656
Es giebt in der Welt viel Koth: _so_Viel_ ist wahr! Aber darum ist die
Welt selber noch kein kothiges Ungeheuer!
3:657
Es ist Weisheit darin, dass Vieles in der Welt uebel riecht: der Ekel
selber schafft Fluegel und quellenahnende Kraefte!
3:658
An dem Besten ist noch Etwas zum Ekeln; und der Beste ist noch Etwas,
das ueberwunden werden muss! -
3:659
Oh meine Brueder, es ist viel Weisheit darin, dass viel Koth in der
Welt ist! -
3:660
hp 15.
3:661
Solche Sprueche hoerte ich fromme Hinterweltler zu ihrem Gewissen
reden; und wahrlich, ohne Arg und Falsch, - ob es Schon nichts
Falscheres in der Welt giebt, noch Aergeres.
3:662
"Lass doch die Welt der Welt sein! Hebe dawider auch nicht Einen
Finger auf!"
3:663
"Lass, wer da wolle, die Leute wuergen und stechen und schneiden und
schaben: hebe dawider auch nicht Einen Finger auf! Darob lernen sie
noch der Welt absagen."
3:664
"Und deine eigne Vernunft - die sollst du selber goergeln und wuergen;
denn es ist eine Vernunft von dieser Welt, - darob lernst du selber
der Welt absagen." -
3:665
- Zerbrecht, zerbrecht mir, oh meine Brueder, diese alten Tafeln der
Frommen! Zersprecht mir die Sprueche der Welt-Verleumder!
3:666
hp 16.
3:667
"Wer viel lernt, der verlernt alles heftige Begehren" - das fluestert
man heute sich zu auf allen dunklen Gassen.
3:668
"Weisheit macht muede, es lohnt sich - Nichts; du sollst nicht
begehren!" - diese neue Tafel fand ich haengen selbst auf offnen
Maerkten.
3:669
Zerbrecht mir, oh meine Brueder, zerbrecht mir auch diese _neue_
Tafel! Die Welt-Mueden haengten sie hin und die Prediger des Todes,
und auch die Stockmeister: denn seht, es ist auch eine Predigt zur
Knechtschaft! -
3:670
Dass sie schlecht lernten und das Beste nicht, und Alles zu frueh und
Alles zu geschwind: dass sie schlecht _assen_, daher kam ihnen jener
verdorbene Magen, -
3:671
- ein verdorbener Magen ist naemlich ihr Geist: _der_ raeth zum Tode!
Denn wahrlich, meine Brueder, der Geist _ist_ ein Magen!
3:672
Das Leben ist ein Born der Lust: aber aus wem der verdorbene Magen
redet, der Vater der Truebsal, dem sind alle Quellen vergiftet.
3:673
Erkennen: das ist _Lust_ dem Loewen-willigen! Aber wer muede wurde,
der wird selber nur "gewollt", mit dem spielen alle Wellen.
3:674
Und so ist es immer schwacher Menschen Art: sie verlieren sich auf
ihren Wegen. Und zuletzt fragt noch ihre Muedigkeit: "wozu giengen wir
jemals Wege! Es ist Alles gleich!"
3:675
_Denen_ klingt es lieblich zu Ohren, dass gepredigt wird: "Es verlohnt
sich Nichts! Ihr sollt nicht wollen!" Diess aber ist eine Predigt zur
Knechtschaft.
3:676
Oh meine Brueder, ein frischer Brause-Wind kommt Zarathustra allen
Weg-Mueden; viele Nasen wird er noch niesen machen!
3:677
Auch durch Mauern blaest mein freier Athem, und hinein in Gefaengnisse
und eingefangne Geister!
3:678
Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und _nur_ zum
Schaffen sollt ihr lernen!
3:679
Und auch das Lernen sollt ihr erst von mir _lernen_, das Gut-Lernen! -
Wer Ohren hat, der hoere!
3:680
hp 17.
3:681
Da steht der Nachen, - dort hinueber geht es vielleicht in's grosse
Nichts. - Aber wer will in diess "Vielleicht" einsteigen?
3:682
Niemand von euch will in den Todes-Nachen einsteigen! Wieso wollt ihr
dann _Welt-Muede_ sein!
3:683
Weltmuede! Und noch nicht einmal Erd-Entrueckte wurdet ihr! Luestern
fand ich euch immer noch nach Erde, verliebt noch in die eigne
Erd-Muedigkeit!
3:684
Nicht umsonst haengt euch die Lippe herab: - ein kleiner Erden-Wunsch
sitzt noch darauf! Und im Auge - schwimmt da nicht ein Woelkchen
unvergessner Erden-Lust?
3:685
Es giebt auf Erden viel gute Erfindungen, die einen nuetzlich, die
andern angenehm: derentwegen ist die Erde zu lieben.
3:686
Und mancherlei so gut Erfundenes giebt es da, dass es ist wie des
Weibes Busen: nuetzlich zugleich und angenehm.
3:687
Ihr Welt-Mueden aber! Ihr Erden-Faulen! Euch soll man mit Ruthen
streichen! Mit Ruthenstreichen soll man euch wieder muntre Beine
machen.
3:688
Denn: seid ihr nicht Kranke und verlebte Wichte, deren die Erde muede
ist, so seid ihr schlaue Faulthiere oder naschhafte verkrochene
Lust-Katzen. Und wollt ihr nicht wieder lustig _laufen_, so sollt ihr
- dahinfahren!
3:689
An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen: also lehrt es
Zarathustra: - so sollt ihr dahinfahren!
3:690
Aber es gehoert mehr _Muth_ dazu, ein Ende zu machen, als einen neuen
Vers: das wissen alle Aerzte und Dichter. -
3:691
hp 18.
3:692
Oh meine Brueder, es giebt Tafeln, welche die Ermuedung, und Tafeln,
welche die Faulheit schuf, die faulige: ob sie schon gleich reden, so
wollen sie doch ungleich gehoert sein. -
3:693
Seht hier diesen Verschmachtenden! Nur eine Spanne weit ist er noch
von seinem Ziele, aber vor Muedigkeit hat er sich trotzig hier in den
Staub gelegt: dieser Tapfere!
3:694
Vor Muedigkeit gaehnt er Weg und Erde und Ziel und sich selber an:
keinen Schritt will er noch weiter thun, - dieser Tapfere!
3:695
Nun glueht die Sonne auf ihn, und die Hunde lecken nach seinem
Schweisse: aber er liegt da in seinem Trotze und will lieber
verschmachten: -
3:696
- eine Spanne weit von seinem Ziele verschmachten! Wahrlich, ihr
werdet ihn noch an den Haaren in seinen Himmel ziehen muessen, -
diesen Helden!
3:697
Besser noch, ihr lasst ihn liegen, wohin er sich gelegt hat, dass der
Schlaf ihm komme, der Troester, mit kuehlendem Rausche-Regen:
3:698
Lasst ihn liegen, bis er von selber wach wird, bis er von selber alle
Muedigkeit widerruft und was Muedigkeit aus ihm lehrte!
3:699
Nur, meine Brueder, dass ihr die Hunde von ihm scheucht, die faulen
Schleicher, und all das schwaermende Geschmeiss: -
3:700
- all das schwaermende Geschmeiss der "Gebildeten", das sich am
Schweisse jedes Helden - guetlich thut! -
3:701
hp 19.
3:702
Ich schliesse Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere
steigen mit mir auf immer hoehere Berge, - ich baue ein Gebirge aus
immer heiligeren Bergen. -
3:703
Wohin ihr aber auch mit mir steigen moegt, oh meine Brueder: seht zu,
dass nicht ein _Schmarotzer_ mit euch steige!
3:704
Schmarotzer: das ist ein Gewuerm, ein kriechendes, geschmiegtes, das
fett werden will an euren kranken wunden Winkeln.
3:705
Und _das_ ist seine Kunst, dass er steigende Seelen erraeth, wo sie
muede sind: in euren Gram und Unmuth, in eure zarte Scham baut er sein
ekles Nest.
3:706
Wo der Starke schwach, der Edle allzumild ist, - dahinein baut er sein
ekles Nest: der Schmarotzer wohnt, wo der Grosse kleine wunde Winkel
hat.
3:707
Was ist die hoechste Art alles Seienden und was die geringste? Der
Schmarotzer ist die geringste Art; wer aber hoechster Art ist, der
ernaehrt die meisten Schmarotzer.
3:708
Die Seele naemlich, welche die laengste Leiter hat und am tiefsten
hinunter kann: wie sollten nicht an der die meisten Schmarotzer
sitzen? -
3:709
- die umfaenglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und
irren und schweifen kann; die nothwendigste, welche sich aus Lust in
den Zufall stuerzt: -
3:710
- die seiende Seele, welche in's Werden taucht; die habende, welche
in's Wollen und Verlangen _will_: -
3:711
- die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise
einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am suessesten
zuredet: -
3:712
- die sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Stroemen
und Wiederstroemen und Ebbe und Fluth haben: - oh wie sollte
_die_hoechste_Seele_ nicht die schlimmsten Schmarotzer haben?
3:713
hp 20.
3:714
Oh meine Brueder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was faellt, das
soll man auch noch stossen!
3:715
Das Alles von Heute - das faellt, das verfaellt: wer wollte es halten!
Aber ich - ich _will_ es noch stossen!
3:716
Kennt ihr die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt? - Diese
Menschen von heute: seht sie doch, wie sie in meine Tiefen rollen!
3:717
Ein Vorspiel bin ich besserer Spieler, oh meine Brueder! Ein Beispiel!
_Thut_ nach meinem Beispiele!
3:718
Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir - schneller fallen! -
3:719
hp 21.
3:720
Ich liebe die Tapferen: aber es ist nicht genug, Hau-Degen sein, - man
muss auch wissen Hau-schau-_Wen_!
3:721
Und oft ist mehr Tapferkeit darin, dass Einer an sich haelt und
voruebergeht: _damit_ er sich dem wuerdigeren Feinde aufspare!
3:722
Ich sollt nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum
Verachten: ihr muesst stolz auf euren Feind sein: also lehrte ich
schon Ein Mal.
3:723
Dem wuerdigeren Feinde, oh meine Freunde, sollt ihr euch aufsparen:
darum muesst ihr an Vielem voruebergehn, -
3:724
- sonderlich an vielem Gesindel, das euch in die Ohren laermt von Volk
und Voelkern.
3:725
Haltet euer Auge rein von ihrem Fuer und Wider! Da giebt es viel
Recht, viel Unrecht: wer da zusieht, wird zornig.
3:726
Dreinschaun, dreinhaun - das ist da Eins: darum geht weg in die
Waelder und legt euer Schwert schlafen!
3:727
Geht _eure_ Wege! Und lasst Volk und Voelker die ihren gehn! - dunkle
Wege wahrlich, auf denen auch nicht Eine Hoffnung mehr wetterleuchtet!
3:728
Mag da der Kraemer herrschen, wo Alles, was noch glaenzt -
Kraemer-Gold ist! Es ist die Zeit der Koenige nicht mehr: was sich
heute Volk heisst, verdient keine Koenige.
3:729
Seht doch, wie diese Voelker jetzt selber den Kraemern gleich thun:
sie lesen sich die kleinsten Vortheile noch aus jedem Kehricht!
3:730
Sie lauern einander auf, sie lauern einander Etwas ab, - das heissen
sie "gute Nachbarschaft." Oh selige ferne Zeit, wo ein Volk sich
sagte: "ich will ueber Voelker - _Herr_ sein!"
3:731
Denn, meine Brueder: das Beste soll herrschen, das Beste will auch
herrschen! Und wo die Lehre anders lautet, da - _fehlt_ es am Besten.
3:732
hp 22.
3:733
Wenn _Die_ - Brod umsonst haetten, wehe! Wonach wuerden _Die_ schrein!
Ihr Unterhalt - das ist ihre rechte Unterhaltung; und sie sollen es
schwer haben!
3:734
Raubthiere sind es.- in ihrem "Arbeiten" - da ist auch noch Rauben, in
ihrem "Verdienen" - da ist auch noch Ueberlisten! Darum sollen sie es
schwer haben!
3:735
Bessere Raubthiere sollen sie also werden, feinere, kluegere,
_menschen-aehnlichere_: der Mensch naemlich ist das beste Raubthier.
3:736
Allen Thieren hat der Mensch schon ihre Tugenden abgeraubt: das macht,
von allen Thieren hat es der Mensch am schwersten gehabt.
3:737
Nur noch die Voegel sind ueber ihm. Und wenn der Mensch noch fliegen
lernte, wehe! _wohinauf_ - wuerde seine Raublust fliegen!
3:738
hp 23.
3:739
So will ich Mann und Weib: kriegstuechtig den Einen, gebaertuechtig
das Andre, beide aber tanztuechtig mit Kopf und Beinen.
3:740
Und verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde! Und
falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelaechter gab!
3:741
hp 24.
3:742
Euer Eheschliessen: seht zu, dass es nicht ein schlechtes _Schliessen_
sei! Ihr schlosset zu schnell: so _folgt_ daraus - Ehebrechen!
3:743
Und besser noch Ehebrechen als Ehe-biegen, Eheluegen! - So sprach mir
ein Weib: "wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe - mich!"
3:744
Schlimm-Gepaarte fand ich immer als die schlimmsten Rachsuechtigen:
sie lassen es aller Welt entgelten, dass sie nicht mehr einzeln
laufen.
3:745
Desswillen will ich, dass Redliche zu einander reden: "wir lieben
uns: lasst uns _zusehn_, dass wir uns lieb behalten! Oder soll unser
Versprechen ein Versehen sein?"
3:746
- "Gebt uns eine Frist und kleine Ehe, dass wir zusehn, ob wir zur
grossen Ehe taugen! Es ist ein grosses Ding, immer zu Zwein sein!"
3:747
Also rathe ich allen Redlichen; und was waere denn meine Liebe zum
Uebermenschen und zu Allem, was kommen soll, wenn ich anders riethe
und redete!
3:748
Nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern _hinauf_ - dazu, oh meine
Brueder, helfe euch der Garten der Ehe!
3:749
hp 25.
3:750
Wer ueber alte Urspruenge weise wurde, siehe, der wird zuletzt nach
Quellen der Zukunft suchen und nach neuen Urspruengen. -
3:751
Oh meine Brueder, es ist nicht ueber lange, da werden _neue_Voelker_
entspringen und neue Quellen hinab in neue Tiefen rauschen.
3:752
Das Erdbeben naemlich - das verschuettet viel Brunnen, das schafft
viel Verschmachten: das hebt auch innre Kraefte und Heimlichkeiten
an's Licht.
3:753
Das Erdbeben macht neue Quellen offenbar. Im Erdbeben alter Voelker
brechen neue Quellen aus.
3:754
Und wer da ruft: "Siehe hier ein Brunnen fuer viele Durstige, Ein Herz
fuer viele Sehnsuechtige, Ein Wille fuer viele Werkzeuge": - um den
sammelt sich ein _Volk_, das ist: viel Versuchende.
3:755
Wer befehlen kann, wer gehorchen muss - Das wird da versucht! Ach,
mit welch langem Suchen und Rathen und Missrathen und Lernen und
Neu-Versuchen!
3:756
Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch, so lehre ich's, - ein
langes Suchen: sie sucht aber den Befehlenden! -
3:757
- ein Versuch, oh meine Brueder! Und _kein_ "Vertrag"! Zerbrecht,
zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!
3:758
hp 26.
3:759
Oh meine Brueder! Bei Welchen liegt doch die groesste Gefahr aller
Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? -
3:760
- als bei Denen, die sprechen und im Herzen fuehlen: "wir wissen
schon, was gut ist und gerecht, wir haben es auch; wehe Denen, die
hier noch suchen!" -
3:761
Und was fuer Schaden auch die Boesen thun moegen: der Schaden der
Guten ist der schaedlichste Schaden!
3:762
Und was fuer Schaden auch die Welt-Verleumder thun moegen: der Schaden
der Guten ist der schaedlichste Schaden.
3:763
Oh meine Brueder, den Guten und Gerechten sah Einer einmal in's Herz,
der da sprach: "es sind die Pharisaeer." Aber man verstand ihn nicht.
3:764
Die Guten und Gerechten selber durften ihn nicht verstehen: ihr Geist
ist eingefangen in ihr gutes Gewissen. Die Dummheit der Guten ist
unergruendlich klug.
3:765
Das aber ist die Wahrheit: die Guten _muessen_ Pharisaeer sein, - sie
haben keine Wahl!
3:766
Die Guten _muessen_ Den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend
erfindet! Das _ist_ die Wahrheit!
3:767
Der Zweite aber, der ihr Land entdeckte, Land, Herz und Erdreich
der Guten und Gerechten: das war, der da fragte: "wen hassen sie am
meisten?"
3:768
Den _Schaffenden_ hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und
alte Werthe, den Brecher - den heissen sie Verbrecher.
3:769
Die Guten naemlich - die _koennen_ nicht schaffen: die sind immer der
Anfang vom Ende:-
3:770
- sie kreuzigen Den, der neue Werthe auf neue Tafeln schreibt, sie
opfern _sich_ die Zukunft, - sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft!
3:771
Die Guten - die waren immer der Anfang vom Ende. -
3:772
hp 27.
3:773
Oh meine Brueder, verstandet ihr auch diess Wort? Und was ich einst
sagte vom "letzten Menschen"? - -
3:774
Bei Welchen liegt die groesste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es
nicht bei den Guten und Gerechten?
3:775
Zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und Gerechten! - Oh meine Brueder,
verstandet ihr auch diess Wort?
3:776
hp 28.
3:777
Ihr flieht von mir? Ihr seid erschreckt? Ihr zittert vor diesem Worte?
3:778
Oh meine Brueder, als ich euch die Guten zerbrechen hiess und die
Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine hohe
See.
3:779
Und nun erst kommt ihm der grosse Schrecken, das grosse Um-sich-sehn,
die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-Krankheit.
3:780
Falsche Kuesten und falsche Sicherheiten lehrten euch die Guten; in
Luegen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund
hinein verlogen und verbogen durch die Guten.
3:781
Aber wer das Land "Mensch" entdeckte, entdeckte auch das Land
"Menschen-Zukunft". Nun sollt ihr mir Seefahrer sein, wackere,
geduldsame!
3:782
Aufrecht geht mir bei Zeiten, oh meine Brueder, lernt aufrecht gehn!
Das Meer stuermt: Viele wollen an euch sich wieder aufrichten.
3:783
Das Meer stuermt: Alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten
Seemanns-Herzen!
3:784
Was Vaterland! _Dorthin_ will unser Steuer, wo unser _Kinder-Land_
ist! Dorthinaus, stuermischer als das Meer, stuermt unsre grosse
Sehnsucht! -
3:785
hp 29.
3:786
"Warum so hart! - sprach zum Diamanten einst die Kuechen-Kohle; sind
wir denn nicht Nah-Verwandte?" -
3:787
Warum so weich? Oh meine Brueder, also frage _ich_ euch: seid ihr denn
nicht - meine Brueder?
3:788
Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel
Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem
Blicke?
3:789
Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie koenntet
ihr mit mir - siegen?
3:790
Und wenn eure Haerte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will:
wie koenntet ihr einst mit mir - schaffen?
3:791
Die Schaffenden naemlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch
duenken, eure Hand auf Jahrtausende zu druecken wie auf Wachs, -
3:792
- Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf
Erz, - haerter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das
Edelste.
3:793
Diese neue Tafel, oh meine Brueder, stelle ich ueber euch: werdet
hart! -
3:794
hp 30.
3:795
Oh du mein Wille! Du Wende aller Noth du _meine_ Nothwendigkeit!
Bewahre mich vor allen kleinen Siegen!
3:796
Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heisse! Du-In-mir!
Ueber-mir! Bewahre und spare mich auf zu Einem grossen Schicksale!
3:797
Und deine letzte Groesse, mein Wille, spare dir fuer dein Letztes auf,
- dass du unerbittlich bist _in_ deinem Siege! Ach, wer unterlag nicht
seinem Siege!
3:798
Ach, wessen Auge dunkelte nicht in dieser trunkenen Daemmerung! Ach,
wessen Fuss taumelte nicht und verlernte im Siege - stehen! -
3:799
- Dass ich einst bereit und reif sei im grossen Mittage: bereit und
reif gleich gluehendem Erze, blitzschwangrer Wolke und schwellendem
Milch-Euter: -
3:800
- bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten Willen: ein
Bogen bruenstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil bruenstig nach seinem
Sterne: -
3:801
- ein Stern bereit und reif in seinem Mittage, gluehend, durchbohrt,
selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: -
3:802
- eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum
Vernichten bereit im Siegen!
3:803
Oh Wille, Wende aller Noth, du _meine_ Nothwendigkeit! Spare mich auf
zu Einem grossen Siege! - -
3:804
Also sprach Zarathustra.
3:805
Der Genesende
3:806
hp 1.
3:807
Eines Morgens, nicht lange nach seiner Rueckkehr zur Hoehle,
sprang Zarathustra von seinem Lager auf wie ein Toller, schrie
mit furchtbarer Stimme und gebaerdete sich, als ob noch Einer auf
dem Lager laege, der nicht davon aufstehn wolle; und also toente
Zarathustra's Stimme, dass seine Thiere erschreckt hinzukamen, und
dass aus allen Hoehlen und Schlupfwinkeln, die Zarathustra's Hoehle
benachbart waren, alles Gethier davon huschte, - fliegend, flatternd,
kriechend, springend, wie ihm nur die Art von Fuss und Fluegel gegeben
war. Zarathustra aber redete diese Worte:
3:808
Herauf, abgruendlicher Gedanke, aus meiner Tiefe! Ich bin dein Hahn
und Morgen-Grauen, verschlafener Wurm: auf! auf! Meine Stimme soll
dich schon wach kraehen!
3:809
Knuepfe die Fessel deiner Ohren los: horche! Denn ich will dich
hoeren! Auf! Auf! Hier ist Donners genug, dass auch Graeber horchen
lernen!
3:810
Und wische den Schlaf und alles Bloede, Blinde aus deinen Augen! Hoere
mich auch mit deinen Augen: meine Stimme ist ein Heilmittel noch fuer
Blindgeborne.
3:811
Und bist du erst wach, sollst du mir ewig wach bleiben. Nicht ist
das _meine_ Art, Urgrossmuetter aus dem Schlafe wecken, dass ich sie
heisse - weiterschlafen!
3:812
Du regst dich, dehnst dich, roechelst? Auf! Auf! Nicht roecheln -
reden sollst du mir! Zarathustra ruft dich, der Gottlose!
3:813
Ich, Zarathustra, der Fuersprecher des Lebens, der Fuersprecher
des Leidens, der Fuersprecher des Kreises - dich rufe ich, meinen
abgruendlichsten Gedanken!
3:814
Heil mir! Du kommst - ich hoere dich! Mein Abgrund _redet_, meine
letzte Tiefe habe ich an's Licht gestuelpt!
3:815
Heil mir! Heran! Gieb die Hand - - ha! lass! Haha! - - Ekel, Ekel,
Ekel - - - wehe mir!
3:816
hp 2.
3:817
Kaum aber hatte Zarathustra diese Worte gesprochen, da stuerzte er
nieder gleich einem Todten und blieb lange wie ein Todter. Als er aber
wieder zu sich kam, da war er bleich und zitterte und blieb liegen und
wollte lange nicht essen noch trinken. Solches Wesen dauerte an ihm
sieben Tage; seine Thiere verliessen ihn aber nicht bei Tag und Nacht,
es sei denn, dass der Adler ausflog, Speise zu holen. Und was er
holte und zusammenraubte, das legte er auf Zarathustra's Lager: also
dass Zarathustra endlich unter gelben und rothen Beeren, Trauben,
Rosenaepfeln, wohlriechendem Krautwerke und Pinien-Zapfen lag. Zu
seinen Fuessen aber waren zwei Laemmer gebreitet, welche der Adler mit
Muehe ihren Hirten abgeraubt hatte.
3:818
Endlich, nach sieben Tagen, richtete sich Zarathustra auf seinem Lager
auf, nahm einen Rosenapfel in die Hand, roch daran und fand seinen
Geruch lieblich. Da glaubten seine Thiere, die Zeit sei gekommen, mit
ihm zu reden.
3:819
"Oh Zarathustra, sagten sie, nun liegst du schon sieben Tage so, mit
schweren Augen: willst du dich nicht endlich wieder auf deine Fuesse
stellen?
3:820
Tritt hinaus aus deiner Hoehle: die Welt wartet dein wie ein Garten.
Der Wind spielt mit schweren Wohlgeruechen, die zu dir wollen; und
alle Baeche moechten dir nachlaufen.
3:821
Alle Dinge sehnen sich nach dir, dieweil du sieben Tage allein
bliebst, - tritt hinaus aus deiner Hoehle! Alle Dinge wollen deine
Aerzte sein!
3:822
Kam wohl eine neue Erkenntniss zu dir, eine saure, schwere? Gleich
angesaeuertem Teige lagst du, deine Seele gieng auf und schwoll ueber
alle ihre Raender. -"
3:823
- Oh meine Thiere, antwortete Zarathustra, schwaetzt also weiter und
lasst mich zuhoeren! Es erquickt mich so, dass ihr schwaetzt: wo
geschwaetzt wird, da liegt mir schon die Welt wie ein Garten.
3:824
Wie lieblich ist es, dass Worte und Toene da sind: sind nicht Worte
und Toene Regenbogen und Schein-Bruecken zwischen Ewig-Geschiedenem?
3:825
Zu jeder Seele gehoert eine andre Welt; fuer jede Seele ist jede andre
Seele eine Hinterwelt.
3:826
Zwischen dem Aehnlichsten gerade luegt der Schein am schoensten; denn
die kleinste Kluft ist am schwersten zu ueberbruecken.
3:827
Fuer mich - wie gaebe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen! Aber
das vergessen wir bei allen Toenen; wie lieblich ist es, dass wir
vergessen!
3:828
Sind nicht den Dingen Namen und Toene geschenkt, dass der Mensch sich
an den Dingen erquicke? Es ist eine schoene Narrethei, das Sprechen:
damit tanzt der Mensch ueber alle Dinge.
3:829
Wie lieblich ist alles Reden und alle Luege der Toene! Mit Toenen
tanzt unsre Liebe auf bunten Regenboegen. -
3:830
- "Oh Zarathustra, sagten darauf die Thiere, Solchen, die denken wie
wir, tanzen alle Dinge selber: das kommt und reicht sich die Hand und
lacht und flieht - und kommt zurueck.
3:831
Alles geht, Alles kommt zurueck; ewig rollt das Rad des Seins. Alles
stirbt, Alles blueht wieder auf, ewig laeuft das Jahr des Seins.
3:832
Alles bricht, Alles wird neu gefuegt; ewig baut sich das gleiche Haus
des Seins. Alles scheidet, Alles gruesst sich wieder; ewig bleibt sich
treu der Ring des Seins.
3:833
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort.
Die Mitte ist ueberall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit." -
3:834
- Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra
und laechelte wieder, wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen
erfuellen musste: -
3:835
- und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich wuergte!
Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir.
3:836
Und ihr, - ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus? Nun aber liege ich
da, muede noch von diesem Beissen und Wegspein, krank noch von der
eigenen Erloesung.
3:837
Und ihr schautet dem Allen zu? Oh meine Thiere, seid auch ihr grausam?
Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen, wie Menschen thun?
Der Mensch naemlich ist das grausamste Thier.
3:838
Bei Trauerspielen, Stierkaempfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am
wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hoelle erfand, siehe,
da war das sein Himmel auf Erden.
3:839
Wenn der grosse Mensch schreit -: flugs laeuft der kleine hinzu; und
die Zunge haengt ihm aus dem Halse vor Luesternheit. Er aber heisst es
sein "Mitleiden."
3:840
Der kleine Mensch, sonderlich der Dichter - wie eifrig klagt er das
Leben in Worten an! Hoert hin, aber ueberhoert mir die Lust nicht, die
in allem Anklagen ist!
3:841
Solche Anklaeger des Lebens: die ueberwindet das Leben mit einem
Augenblinzeln. "Du liebst mich? sagt die Freche; warte noch ein Wenig,
noch habe ich fuer dich nicht Zeit."
3:842
Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei Allem,
was sich "Suender" und "Kreuztraeger" und "Buesser" heisst, ueberhoert
mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen ist!
3:843
Und ich selber - will ich damit des Menschen Anklaeger sein? Ach,
meine Thiere, Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein
Boesestes noethig ist zu seinem Besten, -
3:844
- dass alles Boeseste seine beste _Kraft_ ist und der haerteste Stein
dem hoechsten Schaffenden; und dass der Mensch besser _und_ boeser
werden muss: -
3:845
Nicht an _diess_ Marterholz war ich geheftet, dass ich weiss: der
Mensch ist boese, - sondern ich schrie, wie noch Niemand geschrien
hat:
3:846
"Ach dass sein Boesestes so gar klein ist! Ach dass sein Bestes so gar
klein ist!"
3:847
Der grosse Ueberdruss am Menschen - _der_ wuergte mich und war mir in
den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: "Alles ist
gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen wuergt."
3:848
Eine lange Daemmerung hinkte vor mir her, eine todesmuede,
todestrunkene Traurigkeit, welche mit gaehnendem Munde redete.
3:849
"Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du muede bist, der kleine
Mensch" - so gaehnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und
konnte nicht einschlafen.
3:850
Zur Hoehle wandelte sich mir die Menschen-Erde, ihre Brust sank
hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen und
morsche Vergangenheit.
3:851
Mein Seufzen sass auf allen Menschen-Graebern und konnte nicht mehr
aufstehn; mein Seufzen und Fragen unkte und wuergte und nagte und
klagte bei Tag und Nacht:
3:852
- "ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig
wieder!" -
3:853
Nackt hatte ich einst Beide gesehn, den groessten Menschen und den
kleinsten Menschen: allzuaehnlich einander, - allzumenschlich auch den
Groessten noch!
3:854
Allzuklein der Groesste! - Das war mein Ueberdruss am Menschen! Und
ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! - Das war mein Ueberdruss an
allem Dasein!
3:855
Ach, Ekel! Ekel! Ekel! - - Also sprach Zarathustra und seufzte und
schauderte; denn er erinnerte sich seiner Krankheit. Da liessen ihn
aber seine Thiere nicht weiter reden.
3:856
"Sprich nicht weiter, du Genesender! - so antworteten ihm seine
Thiere, sondern geh hinaus, wo die Welt auf dich wartet gleich einem
Garten.
3:857
Geh hinaus zu den Rosen und Bienen und Taubenschwaermen! Sonderlich
aber zu den Singe-Voegeln: dass du ihnen das _Singen_ ablernst!
3:858
Singen naemlich ist fuer Genesende; der Gesunde mag reden. Und wenn
auch der Gesunde Lieder will, will er andre Lieder doch als der
Genesende."
3:859
- "Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln, so schweigt doch! -
antwortete Zarathustra und laechelte ueber seine Thiere. Wie gut ihr
wisst, welchen Trost ich mir selber in sieben Tagen erfand!
3:860
Dass ich wieder singen muesse, - _den_ Trost erfand ich mir und
_diese_ Genesung: wollt ihr auch daraus gleich wieder ein Leier-Lied
machen?"
3:861
- "Sprich nicht weiter, antworteten ihm abermals seine Thiere; lieber
noch, du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht, eine neue
Leier!
3:862
Denn siehe doch, oh Zarathustra! Zu deinen neuen Liedern bedarf es
neuer Leiern.
3:863
Singe und brause ueber, oh Zarathustra, heile mit neuen Liedern
deine Seele: dass du dein grosses Schicksal tragest, das noch keines
Menschen Schicksal war!
3:864
Denn deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und
werden musst: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft -, das
ist nun _dein_ Schicksal!
3:865
Dass du als der Erste diese Lehre lehren musst, - wie sollte diess
grosse Schicksal nicht auch deine groesste Gefahr und Krankheit sein!
3:866
Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren
und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und
alle Dinge mit uns.
3:867
Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens giebt, ein Ungeheuer
von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder
von Neuem umdrehn, damit es von Neuem ablaufe und auslaufe: -
3:868
- so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Groessten und
auch im Kleinsten, - so dass wir selber in jedem grossen Jahre uns
selber gleich sind, im Groessten und auch im Kleinsten.
3:869
Und wenn du jetzt sterben wolltest, oh Zarathustra: siehe, wir wissen
auch, wie du da zu dir sprechen wuerdest: - aber deine Thiere bitten
dich, dass du noch nicht sterbest!
3:870
Du wuerdest sprechen und ohne Zittern, vielmehr aufathmend vor
Seligkeit: denn eine grosse Schwere und Schwuele waere von dir
genommen, du Geduldigster! -
3:871
`Nun sterbe und schwinde ich, wuerdest du sprechen, und im Nu bin ich
ein Nichts. Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber.
3:872
Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen
bin, - der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehoere zu den
Ursachen der ewigen Wiederkunft.
3:873
Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler,
mit dieser Schlange - _nicht_ zu einem neuen Leben oder besseren Leben
oder aehnlichen Leben:
3:874
- ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im
Groessten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige
Wiederkunft lehre, -
3:875
- dass ich wieder das Wort spreche vom grossen Erden- und
Menschen-Mittage, dass -ich wieder den Menschen den Uebermenschen
kuende.
3:876
Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein
ewiges Loos -, als Verkuendiger gehe ich zu Grunde!
3:877
Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also
_endet_ Zarathustra's Untergang.`" - -
3:878
Als die Thiere diese Worte gesprochen hatten, schwiegen sie und
warteten, dass Zarathustra Etwas zu ihnen sagen werde: aber
Zarathustra hoerte nicht, dass sie schwiegen. Vielmehr lag er still,
mit geschlossenen Augen, einem Schlafenden aehnlich, ob er schon nicht
schlief: denn er unterredete sich eben mit seiner Seele. Die Schlange
aber und der Adler, als sie ihn solchermaassen schweigsam fanden,
ehrten die grosse Stille um ihn und machten sich behutsam davon.
3:879
Von der grossen Sehnsucht
3:880
Oh meine Seele, ich lehrte dich "Heute" sagen wie "Einst" und
"Ehemals" und ueber alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg
tanzen.
3:881
Oh meine Seele, ich erloeste dich von allen Winkeln, ich kehrte Staub,
Spinnen und Zwielicht von dir ab.
3:882
Oh meine Seele, ich wusch die kleine Scham und die Winkel-Tugend von
dir ab und ueberredete dich, nackt vor den Augen der Sonne zu stehn.
3:883
Mit dem Sturme, welcher "Geist" heisst, blies ich ueber deine wogende
See; alle Wolken blies ich davon, ich erwuergte selbst die Wuergerin,
die "Suende" heisst.
3:884
Oh meine Seele, ich gab dir das Recht, Nein zu sagen wie der Sturm und
Ja zu sagen wie offner Himmel Ja sagt: still wie Licht stehst du und
gehst du nun durch verneinende Stuerme.
3:885
Oh meine Seele, ich gab dir die Freiheit zurueck ueber Erschaffnes
und Unerschaffnes: und wer kennt, wie du sie kennst, die Wollust des
Zukuenftigen?
3:886
Oh meine Seele, ich lehrte dich das Verachten, das nicht wie ein
Wurmfrass kommt, das grosse, das liebende Verachten, welches am
meisten liebt, wo es am meisten verachtet.
3:887
Oh meine Seele, ich lehrte dich so ueberreden, dass du zu dir die
Gruende selber ueberredest: der Sonne gleich, die das Meer noch zu
seiner Hoehe ueberredet.
3:888
Oh meine Seele, ich nahm von dir alles Gehorchen Kniebeugen und
Herr-Sagen; ich gab dir selber den Namen "Wende der Noth" und
"Schicksal".
3:889
Oh meine Seele, ich gab dir neue Namen und bunte Spielwerke, ich hiess
dich "Schicksal" und "Umfang der Umfaenge" und "Nabelschnur der Zeit"
und "azurne Glocke".
3:890
Oh meine Seele, deinem Erdreich gab ich alle Weisheit zu trinken,
alle neuen Weine und auch alle unvordenklich alten starken Weine der
Weisheit.
3:891
Oh meine Seele, jede Sonne goss ich auf dich und jede Nacht und
jedes Schweigen und jede Sehnsucht: - da wuchsest du mir auf wie ein
Weinstock.
3:892
Oh meine Seele, ueberreich und schwer stehst du nun da, ein Weinstock
mit schwellenden Eutern und gedraengten braunen Gold-Weintrauben: -
3:893
- gedraengt und gedrueckt von deinem Gluecke, wartend vor Ueberflusse
und schamhaft noch ob deines Wartens.
3:894
Oh meine Seele, es giebt nun nirgends eine Seele, die liebender waere
und umfangender und umfaenglicher! Wo waere Zukunft und Vergangnes
naeher beisammen als bei dir?
3:895
Oh meine Seele, ich gab dir Alles, und alle meine Haende sind an
dich leer geworden: - und nun! Nun sagst du mir laechelnd und voll
Schwermuth: "Wer von uns hat zu danken? -
3:896
- hat der Geber nicht zu danken, dass der Nehmende nahm? Ist Schenken
nicht eine Nothdurft? Ist Nehmen nicht - Erbarmen?" -
3:897
Oh meine Seele, ich verstehe das Laecheln deiner Schwermuth: dein
Ueber-Reichthum selber streckt nun sehnende Haende aus!
3:898
Deine Fuelle blickt ueber brausende Meere hin und sucht und wartet;
die Sehnsucht der Ueber-Fuelle blickt aus deinem laechelnden
Augen-Himmel!
3:899
Und wahrlich, oh meine Seele! Wer saehe dein Laecheln und schmelze
nicht vor Thraenen? Die Engel selber schmelzen vor Thraenen ob der
Ueber-Guete deines Laechelns.
3:900
Deine Guete und Ueber-Guete ist es, die nicht klagen und weinen will:
und doch sehnt sich, oh meine Seele, dein Laecheln nach Thraenen und
dein zitternder Mund nach Schluchzen.
3:901
"Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles Klagen nicht ein
Anklagen?" Also redest du zu dir selber, und darum willst du, oh meine
Seele, lieber laecheln, als dein Leid ausschuetten.
3:902
- in stuerzende Thraenen ausschuetten all dein Leid ueber deine
Fuelle und ueber all die Draengniss des Weinstocks nach Winzer und
Winzermesser!
3:903
Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne
Schwermuth, so wirst du _singen_ muessen, oh meine Seele! - Siehe, ich
laechle selber, der ich dir solches vorhersage:
3:904
- singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, dass
sie deiner Sehnsucht zuhorchen, -
3:905
- bis ueber stille sehnsuechtige Meere der Nachen schwebt, das
gueldene Wunder, um dessen Gold alle guten schlimmen wunderlichen
Dinge huepfen: -
3:906
- auch vieles grosse und kleine Gethier und Alles, was leichte
wunderliche Fuesse hat, dass es auf veilchenblauen Pfaden laufen
kann, -
3:907
- hin zu dem gueldenen Wunder, dem freiwilligen Nachen und zu seinem
Herrn: das aber ist der Winzer, der mit diamantenem Winzermesser
wartet, -
3:908
- dein grosser Loeser, oh meine Seele, der Namenlose - - dem
zukuenftige Gesaenge erst Namen finden! Und wahrlich, schon duftet
dein Athem nach zukuenftigen Gesaengen, -
3:909
- schon gluehst du und traeumst, schon trinkst du durstig an allen
tiefen klingenden Trost-Brunnen, schon ruht deine Schwermuth in der
Seligkeit zukuenftiger Gesaenge! - -
3:910
Oh meine Seele, nun gab ich dir Alles und auch mein Letztes,
und alle meine Haende sind an dich leer geworden: -
_dass_ich_dich_singen_hiess_, siehe, das war mein Letztes!
3:911
Dass ich dich singen hiess, sprich nun, sprich: _wer_ von uns hat
jetzt - zu danken? - Besser aber noch: singe mir, singe, oh meine
Seele! Und mich lass danken! -
3:912
Also sprach Zarathustra.
3:913
Das andere Tanzlied
3:914
hp 1.
3:915
"In dein Auge schaute ich juengst, oh Leben: Gold sah ich in deinem
Nacht-Auge blinken, - mein Herz stand still vor dieser Wollust:
3:916
- einen goldenen Kahn sah ich blinken auf maechtigen Gewaessern, einen
sinkenden, trinkenden, wieder winkenden goldenen Schaukel-Kahn!
3:917
Nach meinem Fusse, dem tanzwuethigen, warfst du einen Blick, einen
lachenden fragenden schmelzenden Schaukel-Blick:
3:918
Zwei Mal nur regtest du deine Klapper mit kleinen Haenden - da
schaukelte schon mein Fuss vor Tanz-Wuth. -
3:919
Meine Fersen baeumten sich, meine Zehen horchten, dich zu verstehen:
traegt doch der Taenzer sein Ohr - in seinen Zehen!
3:920
Zu dir hin sprang ich: da flohst du zurueck vor meinem Sprunge; und
gegen mich zuengelte deines fliehenden fliegenden Haars Zunge!
3:921
Von dir weg sprang ich und von deinen Schlangen: da standst du schon,
halbgewandt, das Auge voll Verlangen.
3:922
Mit krummen Blicken - lehrst du mich krumme Bahnen; auf krummen Bahnen
lernt mein Fuss - Tuecken!
3:923
Ich fuerchte dich Nahe, ich liebe dich Ferne; deine Flucht lockt mich,
dein Suchen stockt mich: - ich leide, aber was litt ich um dich nicht
gerne!
3:924
Deren Kaelte zuendet, deren Hass verfuehrt, deren Flucht bindet, deren
Spott - ruehrt:
3:925
- wer hasste dich nicht, dich grosse Binderin, Umwinderin,
Versucherin, Sucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich
unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsaeugige Suenderin!
3:926
Wohin ziehst du mich jetzt, du Ausbund und Unband? Und jetzt fliehst
du mich wieder, du suesser Wildfang und Undank!
3:927
Ich tanze dir nach, ich folge dir auch auf geringer Spur. Wo bist du?
Gieb mir die Hand! Oder einen Finger nur!
3:928
Hier sind Hoehlen und Dickichte: wir werden uns verirren! - Halt! Steh
still! Siehst du nicht Eulen und Fledermaeuse schwirren?
3:929
Du Eule! Du Fledermaus! Du willst mich aeffen? Wo sind wir? Von den
Hunden lerntest du diess Heulen und Klaeffen.
3:930
Du fletschest mich lieblich an mit weissen Zaehnlein, deine boesen
Augen springen gegen mich aus lockichtem Maehnlein!
3:931
Das ist ein Tanz ueber Stock und Stein: ich bin der Jaeger, - willst
du mein Hund oder meine Gemse sein?
3:932
Jetzt neben mir! Und geschwind, du boshafte Springerin! Jetzt hinauf!
Und hinueber! - Wehe! Da fiel ich selber im Springen hin!
3:933
Oh sieh mich liegen, du Uebermuth, und um Gnade flehn! Gerne moechte
ich mit dir - lieblichere Pfade gehn!
3:934
- der Liebe Pfade durch stille bunte Buesche! Oder dort den See
entlang: da schwimmen und tanzen Goldfische!
3:935
Du bist jetzt muede? Da drueben sind Schafe und Abendroethen: ist es
nicht schoen, zu schlafen, wenn Schaefer floeten?
3:936
Du bist so arg muede? Ich trage dich hin, lass nur die Arme sinken!
Und hast du Durst, - ich haette wohl Etwas, aber dein Mund will es
nicht trinken! -
3:937
- Oh diese verfluchte flinke gelenke Schlange und Schlupf-Hexe! Wo
bist du hin? Aber im Gesicht fuehle ich von deiner Hand zwei Tupfen
und rothe Klexe!
3:938
Ich bin es wahrlich muede, immer dein schafichter Schaefer zu sein! Du
Hexe, habe ich dir bisher gesungen, nun sollst _du_ mir - schrein!
3:939
Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein! Ich
vergass doch die Peitsche nicht? - Nein!" -
3:940
hp 2.
3:941
Da antwortete mir das Leben also und hielt sich dabei die zierlichen
Ohren zu:
3:942
"Oh Zarathustra! Klatsche doch nicht so fuerchterlich mit deiner
Peitsche! Du weisst es ja: Laerm mordet Gedanken, - und eben kommen
mir so zaertliche Gedanken.
3:943
Wir sind Beide zwei rechte Thunichtgute und Thunichtboese. Jenseits
von Gut und Boese fanden wir unser Eiland und unsre gruene Wiese - wir
Zwei allein! Darum muessen wir schon einander gut sein!
3:944
Und lieben wir uns auch nicht von Grund aus -, muss man sich denn gram
sein, wenn man sich nicht von Grund aus liebt?
3:945
Und dass ich dir gut bin und oft zu gut, Das weisst du: und der Grund
ist, dass ich auf deine Weisheit eifersuechtig bin. Ah, diese tolle
alte Naerrin von Weisheit!
3:946
Wenn dir deine Weisheit einmal davonliefe, ach! da liefe dir schnell
auch meine Liebe noch davon." -
3:947
Darauf blickte das Leben nachdenklich hinter sich und um sich und
sagte leise: "Oh Zarathustra, du bist mir nicht treu genug!
3:948
Du liebst mich lange nicht so sehr wie du redest; ich weiss, du denkst
daran, dass du mich bald verlassen willst.
3:949
Es giebt eine alte schwere schwere Brumm-Glocke: die brummt Nachts bis
zu deiner Hoehle hinauf: -
3:950
- hoerst du diese Glocke Mitternachts die Stunde schlagen, so denkst
du zwischen Eins und Zwoelf daran -
3:951
- du denkst daran, oh Zarathustra, ich weiss es, dass du mich bald
verlassen willst!" -
3:952
"Ja, antwortete ich zoegernd, aber du weisst es auch -" Und ich sagte
ihr Etwas in's Ohr, mitten hinein zwischen ihre verwirrten gelben
thoerichten Haar-Zotteln.
3:953
Du _weisst_ Das, oh Zarathustra? Das weiss Niemand. - -
3:954
Und wir sahen uns an und blickten auf die gruene Wiese, ueber welche
eben der kuehle Abend lief, und weinten mit einander. - Damals aber
war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit. -
3:955
Also sprach Zarathustra.
3:956
hp 3.
3:957
Eins!
Oh Mensch! Gieb Acht!
Zwei!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Drei!
"Ich schlief, ich schlief -,"
Vier!
"Auf tiefen Traum bin ich erwacht:-"
Fuenf!
"Die Welt ist tief,"
Sechs!
"Und tiefer als der Tag gedacht."
Sieben!
"Tief ist ihr Weh -,"
Acht!
"Lust - tiefer noch als Herzeleid:"
Neun!
"Weh spricht: Vergeh!"
Zehn!
"Doch alle Lust will Ewigkeit -,"
Elf!
"- will tiefe, tiefe Ewigkeit!"
Zwoelf!
3:958
Die sieben Siegel
3:959
(Oder: das Ja- und Amen-Lied)
3:960
hp 1.
3:961
Wenn ich ein Wahrsager bin und voll jenes wahrsagerischen Geistes, der
auf hohem Joche zwischen zwei Meeren wandelt, -
3:962
zwischen Vergangenem und Zukuenftigem als schwere Wolke wandelt,
- schwuelen Niederungen feind und Allem, was muede ist und nicht
sterben, noch leben kann.-
3:963
zum Blitze bereit im dunklen Busen und zum erloesenden Lichtstrahle,
schwanger von Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen, zu wahrsagerischen
Blitzstrahlen: -
3:964
- selig aber ist der also Schwangere! Und wahrlich, lange muss als
schweres Wetter am Berge haengen, wer einst das Licht der Zukunft
zuenden soll! -
3:965
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit bruenstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
3:966
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn dieses
Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:967
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:968
hp 2.
3:969
Wenn mein Zorn je Graeber brach, Grenzsteine rueckte und alte Tafeln
zerbrochen in steile Tiefen rollte:
3:970
Wenn mein Hohn je vermoderte Worte zerblies, und ich wie ein Besen kam
den Kreuzspinnen und als Fegewind alten verdumpften Grabkammern:
3:971
Wenn ich je frohlockend sass, wo alte Goetter begraben liegen,
weltsegnend, weltliebend neben den Denkmalen alter Welt-Verleumder: -
3:972
- denn selbst Kirchen und Gottes-Graeber liebe ich, wenn der Himmel
erst reinen Auges durch ihre zerbrochenen Decken blickt; gern sitze
ich gleich Gras und rothem Mohne auf zerbrochnen Kirchen -
3:973
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit bruenstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
3:974
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn dieses
Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:975
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:976
hp 3.
3:977
Wenn je ein Hauch zu mir kam vom schoepferischen Hauche und von jener
himmlischen Noth, die noch Zufaelle zwingt, Sternen-Reigen zu tanzen:
3:978
Wenn ich je mit dem Lachen des schoepferischen Blitzes lachte, dem der
lange Donner der That grollend, aber gehorsam nachfolgt:
3:979
Wenn ich je am Goettertisch der Erde mit Goettern Wuerfel spielte,
dass die Erde bebte und brach und Feuerfluesse heraufschnob: -
3:980
- denn ein Goettertisch ist die Erde, und zitternd von schoepferischen
neuen Worten und Goetter-Wuerfen: -
3:981
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit bruenstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
3:982
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn dieses
Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:983
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:984
hp 4.
3:985
Wenn ich je vollen Zuges trank aus jenem schaeumenden Wuerz- und
Mischkruge, in dem alle Dinge gut gemischt sind:
3:986
Wenn meine Hand je Fernstes zum Naechsten goss und Feuer zu Geist und
Lust zu Leid und Schlimmstes zum Guetigsten:
3:987
Wenn ich selber ein Korn bin von jenem erloesenden Salze, welches
macht, dass alle Dinge im Mischkruge gut sich mischen: -
3:988
- denn es giebt ein Salz, das Gutes mit Boesem bindet; und auch das
Boeseste ist zum Wuerzen wuerdig und zum letzten Ueberschaeumen: -
3:989
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit bruenstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
3:990
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn dieses
Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:991
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:992
hp 5.
3:993
Wenn ich dem Meere hold bin und Allem, was Meeres-Art ist, und am
holdesten noch, wenn es mir zornig widerspricht:
3:994
Wenn jene suchende Lust in mir ist, die nach Unentdecktem die Segel
treibt, wenn eine Seefahrer-Lust in meiner Lust ist:
3:995
Wenn je mein Frohlocken rief: "die Kueste schwand, - nun fiel mir die
letzte Kette ab -
3:996
- das Grenzenlose braust um mich, weit hinaus glaenzt mir Raum und
Zeit, wohlan! wohlauf! altes Herz!" -
3:997
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit bruenstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
3:998
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn dieses
Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:999
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:1000
hp 6.
3:1001
Wenn meine Tugend eines Taenzers Tugend ist, und ich oft mit beiden
Fuessen in gold-smaragdenes Entzuecken sprang:
3:1002
Wenn meine Bosheit eine lachende Bosheit ist, heimisch unter
Rosenhaengen und Lilien-Hecken:
3:1003
- im Lachen naemlich ist alles Boese bei einander, aber heilig- und
losgesprochen durch seine eigne Seligkeit: -
3:1004
Und wenn Das mein A und O ist, dass alles Schwere leicht, aller Leib
Taenzer, aller Geist Vogel werde: und wahrlich, Das ist mein A und
O! -
3:1005
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit bruenstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
3:1006
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn dieses
Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:1007
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:1008
hp 7.
3:1009
Wenn ich je stille Himmel ueber mir ausspannte und mit eignen Fluegeln
in eigne Himmel flog:
3:1010
Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm, und meiner Freiheit
Vogel-Weisheit kam: -
3:1011
- so aber spricht Vogel-Weisheit: "Siehe, es giebt kein Oben, kein
Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurueck, du Leichter! Singe! sprich
nicht mehr!
3:1012
- sind alle Worte nicht fuer die Schweren gemacht? Luegen dem Leichten
nicht alle Worte! Singe! sprich nicht mehr!" -
3:1013
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit bruenstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
3:1014
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn dieses
Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:1015
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3:1016
T4 Vierter und letzter Theil
4:1
Ach, wo in der Welt geschahen groessere Thorheiten, als bei den
Mitleidigen? Und was in der Weit stiftete mehr Leid, als die
Thorheiten der Mitleidigen?
4:2
Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Hoehe haben, welche ueber
ihrem Mitleiden ist!
4:3
Also sprach der Teufel einst zu mir: "auch Gott hat seine Hoelle: das
ist seine Liebe zu den Menschen."
4:4
Und juengst hoerte ich ihn diess Wort sagen: "Gott ist todt; an seinem
Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben."
4:5
Zarathustra, Von den Mitleidigen
4:6
Das Honig-Opfer
4:7
- Und wieder liefen Monde und Jahre ueber Zarathustra's Seele, und er
achtete dessen nicht; sein Haar aber wurde weiss. Eines Tages, als er
auf einem Steine vor seiner Hoehle sass und still hinausschaute, -
man schaut aber dort auf das Meer hinaus, und hinweg ueber gewundene
Abgruende - da giengen seine Thiere nachdenklich um ihn herum und
stellten sich endlich vor ihn hin.
4:8
"Oh Zarathustra, sagten sie, schaust du wohl aus nach deinem Gluecke?"
- "Was liegt am Gluecke! antwortete er, ich trachte lange nicht mehr
nach Gluecke, ich trachte nach meinem Werke." - "Oh Zarathustra,
redeten die Thiere abermals, Das sagst du als Einer, der des Guten
uebergenug hat. Liegst du nicht in einem himmelblauen See von Glueck?"
- "Ihr Schalks-Narren, antwortete Zarathustra und laechelte, wie gut
waehltet ihr das Gleichniss! Aber ihr wisst auch, dass mein Glueck
schwer ist und nicht wie eine fluessige Wasserwelle: es draengt mich
und will nicht von mir und thut gleich geschmolzenem Peche." -
4:9
Da giengen die Thiere wieder nachdenklich um ihn herum und stellten
sich dann abermals vor ihn hin. "Oh Zarathustra, sagten sie, _daher_
also kommt es, dass du selber immer gelber und dunkler wirst, obschon
dein Haar weiss und flaechsern aussehen will? Siehe doch, du sitzest
in deinem Peche!" - "Was sagt ihr da, meine Thiere, sagte Zarathustra
und lachte dazu, wahrlich, ich laesterte als ich von Peche sprach. Wie
mir geschieht, so geht es allen Fruechten, die reif werden. Es ist der
_Honig_ in meinen Adern, der mein Blut dicker und auch meine Seele
stiller macht." - "So wird es sein, oh Zarathustra, antworteten die
Thiere und draengten sich an ihn; willst du aber nicht heute auf einen
hohen Berg steigen? Die Luft ist rein, und man sieht heute mehr von
der Welt als jemals." - "Ja, meine Thiere, antwortete er, ihr rathet
trefflich und mir nach dem Herzen: ich will heute auf einen hohen
Berg steigen! Aber sorgt, dass dort Honig mir zur Hand sei, gelber,
weisser, guter, eisfrischer Waben-Goldhonig. Denn wisset, ich will
droben das Honig-Opfer bringen." -
4:10
Als Zarathustra aber oben auf der Hoehe war, sandte er die Thiere
heim, die ihn geleitet hatten, und fand, dass er nunmehr allein sei: -
da lachte er aus ganzem Herzen, sah sich um und sprach also:
4:11
Dass ich von Opfern sprach und Honig-Opfern, eine List war's nur
meiner Rede und, wahrlich, eine nuetzliche Thorheit! Hier oben
darf ich schon freier reden, als vor Einsiedler-Hoehlen und
Einsiedler-Hausthieren.
4:12
Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender
mit tausend Haenden: wie duerfte ich Das noch - Opfern heissen!
4:13
Und als ich nach Honig begehrte, begehrte ich nur nach Koeder und
suessem Seime und Schleime, nach dem auch Brummbaeren und wunderliche
muerrische boese Voegel die Zunge lecken:
4:14
- nach dem besten Koeder, wie er Jaegern und Fischfaengern noththut.
Denn wenn die Welt wie ein dunkler Thierwald ist und aller wilden
Jaeger Lustgarten, so duenkt sie mich noch mehr und lieber ein
abgruendliches reiches Meer,
4:15
- ein Meer voll bunter Fische und Krebse, nach dem es auch Goetter
geluesten moechte, dass sie an ihm zu Fischern wuerden und zu
Netz-Auswerfern: so reich ist die Welt an Wunderlichem, grossem und
kleinem!
4:16
Sonderlich die Menschen-Welt, das Menschen-Meer: - nach _dem_ werfe
ich nun meine goldene Angelruthe aus und spreche: thue dich auf, du
Menschen-Abgrund!
4:17
Thue dich auf und wirf mir deine Fische und Glitzer-Krebse zu!
Mit meinem besten Koeder koedere ich mir heute die wunderlichsten
Menschen-Fische!
4:18
- mein Glueck selber werfe ich hinaus in alle Weiten und Fernen,
zwischen Aufgang, Mittag und Niedergang, ob nicht an meinem Gluecke
viele Menschen-Fische zerrn und zappeln lernen.
4:19
Bis sie, anbeissend an meine spitzen verborgenen Haken, hinauf
muessen in _meine_ Hoehe, die buntesten Abgrund-Gruendlinge zu dem
boshaftigsten aller Menschen- Fischfaenger.
4:20
_Der_ naemlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend,
hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Zuechter und Zuchtmeister, der
sich nicht umsonst einstmals zusprach: "Werde, der du bist!"
4:21
Also moegen nunmehr die Menschen zu mir _hinauf_ kommen: denn noch
warte ich der Zeichen, dass es Zeit sei zu meinem Niedergange, noch
gehe ich selber nicht unter, wie ich muss, unter Menschen.
4:22
Dazu warte ich hier, listig und spoettisch auf hohen Bergen, kein
Ungeduldiger, kein Geduldiger, vielmehr Einer, der auch die Geduld
verlernt hat, - weil er nicht mehr "duldet."
4:23
Mein Schicksal naemlich laesst mir Zeit: es vergass mich wohl? Oder
sitzt es hinter einem grossen Steine im Schatten und faengt Fliegen?
4:24
Und wahrlich, ich bin ihm gut darob, meinem ewigen Schicksale, dass
es mich nicht hetzt und draengt und mir Zeit zu Possen laesst und
Bosheiten: also dass ich heute zu einem Fischfange auf diesen hohen
Berg stieg.
4:25
Fieng wohl je ein Mensch auf hohen Bergen Fische? Und wenn es auch
eine Thorheit ist, was ich hier oben will und treibe: besser noch
Diess, als dass ich da unten feierlich wuerde vor Warten und gruen und
gelb -
4:26
- ein gespreitzter Zornschnauber vor Warten, ein heiliger Heule-Sturm
aus Bergen, ein Ungeduldiger, der in die Thaeler hinabruft: "Hoert,
oder ich peitsche euch mit der Geissel Gottes!"
4:27
Nicht dass ich solchen Zuernern darob gram wuerde: zum Lachen sind
sie mir gut genung! Ungeduldig muessen sie schon sein, diese grossen
Laermtrommeln, welche heute oder niemals zu Worte kommen!
4:28
Ich aber und mein Schicksal - wir reden nicht zum Heute, wir reden
auch nicht zum Niemals: wir haben zum Reden schon Geduld und Zeit und
Ueberzeit. Denn einst muss er doch kommen und darf nicht voruebergehn.
4:29
Wer muss einst kommen und darf nicht voruebergehn? Unser
grosser Hazar, das ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das
Zarathustra-Reich von tausend Jahren - -
4:30
Wie ferne mag solches "Ferne" sein? was geht's mich an! Aber darum
steht es mir doch nicht minder fest -, mit beiden Fuessen stehe ich
sicher auf diesem Grunde,
4:31
- auf einem ewigen Grunde, auf hartem Urgesteine, auf diesem hoechsten
haertesten Urgebirge, zu dem alle Winde kommen als zur Wetterscheide,
fragend nach Wo? und Woher? und Wohinaus?
4:32
Hier lache, lache meine helle heile Bosheit! Von hohen Bergen wirf
hinab dein glitzerndes Spott-Gelaechter! Koedere mit deinem Glitzern
mir die schoensten Menschen-Fische!
4:33
Und was in allen Meeren _mir_ zugehoert, mein An-und-fuer-mich in
allen Dingen - _Das_ fische mir heraus, _Das_ fuehre zu mir herauf:
dess warte ich, der boshaftigste aller Fischfaenger.
4:34
Hinaus, hinaus, meine Angel! Hinein, hinab, Koeder meines Gluecks!
Traeufle deinen suessesten Thau, mein Herzens-Honig! Beisse, meine
Angel, in den Bauch aller schwarzen Truebsal!
4:35
Hinaus, hinaus, mein Auge! Oh welche vielen Meere rings um mich,
welch daemmernde Menschen-Zukuenfte! Und ueber mir - welch rosenrothe
Stille! Welch entwoelktes Schweigen!
4:36
Der Nothschrei
4:37
Des naechsten Tages sass Zarathustra wieder auf seinem Steine vor der
Hoehle, waehrend die Thiere draussen in der Welt herumschweiften, dass
sie neue Nahrung heimbraechten, - auch neuen Honig: denn Zarathustra
hatte den alten Honig bis auf das letzte Korn verthan und
verschwendet. Als er aber dermaassen dasass, mit einem Stecken in
der Hand, und den Schatten seiner Gestalt auf der Erde abzeichnete,
nachdenkend und, wahrlich! nicht ueber sich und seinen Schatten -
da erschrak er mit Einem Male und fuhr zusammen: denn er sahe neben
seinem Schatten noch einen andern Schatten. Und wie er schnell um sich
blickte und aufstand, siehe, da stand der Wahrsager neben ihm, der
selbe, den er einstmals an seinem Tische gespeist und getraenkt hatte,
der Verkuendiger der grossen Muedigkeit, welcher lehrte: "Alles ist
gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen wuergt." Aber
sein Antlitz hatte sich inzwischen verwandelt; und als ihm Zarathustra
in die Augen blickte, wurde sein Herz abermals erschreckt: so viel
schlimme Verkuendigungen und aschgraue Blitze liefen ueber diess
Gesicht.
4:38
Der Wahrsager, der es wahrgenommen, was sich in Zarathustra's Seele
zutrug, wischte mit der Hand ueber sein Antlitz hin, wie als ob er
dasselbe wegwischen wollte; desgleichen that auch Zarathustra. Und
als Beide dergestalt sich schweigend gefasst und gekraeftigt hatten,
gaben sie sich die Haende, zum Zeichen, dass sie sich wiedererkennen
wollten.
4:39
"Sei mir willkommen, sagte Zarathustra, du Wahrsager der grossen
Muedigkeit, du sollst nicht umsonst einstmals mein Tisch- und
Gastfreund gewesen sein. Iss und trink auch heute bei mir und vergieb
es, dass ein vergnuegter alter Mann mit dir zu Tische sitzt!" -
"Ein vergnuegter alter Mann? antwortete der Wahrsager, den Kopf
schuettelnd: wer du aber auch bist oder sein willst, oh Zarathustra,
du bist es zum Laengsten hier Oben gewesen, - dein Nachen soll ueber
Kurzem nicht mehr im Trocknen sitzen!" - "Sitze ich denn im Trocknen?"
fragte Zarathustra lachend. - "Die Wellen um deinen Berg, antwortete
der Wahrsager, steigen und steigen, die Wellen grosser Noth und
Truebsal: die werden bald auch deinen Nachen heben und dich
davontragen." - Zarathustra schwieg hierauf und wunderte sich. -
"Hoerst du noch Nichts? fuhr der Wahrsager fort: rauscht und braust
es nicht herauf aus der Tiefe?" - Zarathustra schwieg abermals und
horchte: da hoerte er einen langen, langen Schrei, welchen die
Abgruende sich zuwarfen und weitergaben, denn keiner wollte ihn
behalten: so boese klang er.
4:40
"Du schlimmer Verkuendiger, sprach endlich Zarathustra, das ist ein
Nothschrei und der Schrei eines Menschen, der mag wohl aus einem
schwarzen Meere kommen. Aber was geht mich Menschen-Noth an! Meine
letzte Suende, die mir aufgespart blieb, - weisst du wohl, wie sie
heisst?"
4:41
- "Mitleiden! antwortete der Wahrsager aus einem ueberstroemenden
Herzen und hob beide Haende empor - oh Zarathustra, ich komme, dass
ich dich zu deiner letzten Suende verfuehre!" -
4:42
Und kaum waren diese Worte gesprochen, da erscholl der Schrei
abermals, und laenger und aengstlicher als vorher, auch schon viel
naeher. "Hoerst du? Hoerst du, oh Zarathustra? rief der Wahrsager, dir
gilt der Schrei, dich ruft er: komm, komm, komm, es ist Zeit, es ist
hoechste Zeit!" -
4:43
Zarathustra schwieg hierauf, verwirrt und erschuettert; endlich fragte
er, wie Einer, der bei sich selber zoegert: "Und wer ist das, der dort
mich ruft?"
4:44
"Aber du weisst es ja, antwortete der Wahrsager heftig, was verbirgst
du dich? _Der_hoehere_Mensch_ ist es, der nach dir schreit!"
4:45
"Der hoehere Mensch? schrie Zarathustra von Grausen erfasst: was will
_der_? Was will _der_? Der hoehere Mensch! Was will der hier?" - und
seine Haut bedeckte sich mit Schweiss.
4:46
Der Wahrsager aber antwortete nicht auf die Angst Zarathustra's,
sondern horchte und horchte nach der Tiefe zu. Als es jedoch lange
Zeit dort stille blieb, wandte er seinen Blick zurueck und sahe
Zarathustra stehn und zittern.
4:47
"Oh Zarathustra, hob er mit trauriger Stimme an, du stehst nicht da
wie Einer, den sein Glueck drehend macht: du wirst tanzen muessen,
dass du mir nicht umfaellst!
4:48
Aber wenn du auch vor mir tanzen wolltest und alle deine
Seitenspruenge springen: Niemand soll mir doch sagen duerfen: `Siehe,
hier tanzt der letzte frohe Mensch!`
4:49
Umsonst kaeme Einer auf diese Hoehe, der den hier suchte: Hoehlen
faende er wohl und Hinter-Hoehlen, Verstecke fuer Versteckte, aber
nicht Gluecks-Schachte und Schatzkammern und neue Gluecks-Goldadern.
4:50
Glueck - wie faende man wohl das Glueck bei solchen Vergrabenen und
Einsiedlern! Muss ich das letzte Glueck noch auf glueckseligen Inseln
suchen und ferne zwischen vergessenen Meeren?
4:51
Aber Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, es hilft kein Suchen, es
giebt auch keine glueckseligen Inseln mehr!" - -
4:52
Also seufzte der Wahrsager; bei seinem letzten Seufzer aber wurde
Zarathustra wieder hell und sicher, gleich Einem, der aus einem tiefen
Schlunde an's Licht kommt. "Nein! Nein! Drei Mal Nein! rief er mit
starker Stimme und strich sich den Bart - _Das_ weiss ich besser!
Es giebt noch glueckselige Inseln! Stille _davon_, du seufzender
Trauersack!
4:53
Hoere _davon_ auf zu plaetschern, du Regenwolke am Vormittag! Stehe
ich denn nicht schon da, nass von deiner Truebsal und begossen wie ein
Hund?
4:54
Nun schuettle ich mich und laufe dir davon, dass ich wieder trocken
werde: dess darfst du nicht Wunder haben! Duenke ich dir unhoeflich?
Aber hier ist _mein_ Hof.
4:55
Was aber deinen hoeheren Menschen angeht: wohlan! ich suche ihn flugs
in jenen Waeldern: _daher_ kam sein Schrei. Vielleicht bedraengt ihn
da ein boeses Thier.
4:56
Er ist in _meinem_ Bereiche: darin soll er mir nicht zu Schaden
kommen! Und wahrlich, es giebt viele boese Thiere bei mir." -
4:57
Mit diesen Worten wandte sich Zarathustra zum Gehen. Da sprach der
Wahrsager: "Oh Zarathustra, du bist ein Schelm!
4:58
Ich weiss es schon: du willst mich los sein! Lieber noch laeufst du in
die Waelder und stellst boesen Thieren nach!
4:59
Aber was hilft es dir? Des Abends wirst du doch mich wiederhaben, in
deiner eignen Hoehle werde ich dasitzen, geduldig und schwer wie ein
Klotz - und auf dich warten!"
4:60
"So sei's! rief Zarathustra zurueck im Fortgehn: und was mein ist in
meiner Hoehle, gehoert auch dir, meinem Gastfreunde!
4:61
Solltest du aber drin noch Honig finden, wohlan! so lecke ihn nur auf,
du Brummbaer, und versuesse deine Seele! Am Abende naemlich wollen wir
Beide guter Dinge sein,
4:62
- guter Dinge und froh darob, dass dieser Tag zu Ende gieng! Und du
selber sollst zu meinen Liedern als mein Tanzbaer tanzen.
4:63
Du glaubst nicht daran? Du schuettelst den Kopf? Wohlan! Wohlauf!
Alter Baer! Aber auch ich - bin ein Wahrsager."
4:64
Also sprach Zarathustra.
4:65
Gespraech mit den Koenigen
4:66
hp 1.
4:67
Zarathustra war noch keine Stunde in seinen Bergen und Waeldern
unterwegs, da sahe er mit Einem Male einen seltsamen Aufzug. Gerade
auf dem Wege, den er hinabwollte, kamen zwei Koenige gegangen, mit
Kronen und Purpurguerteln geschmueckt und bunt wie Flamingo-Voegel:
die trieben einen beladenen Esel vor sich her. "Was wollen diese
Koenige in meinem Reiche?" sprach Zarathustra erstaunt zu seinem
Herzen und versteckte Sich geschwind hinter einem Busche. Als aber die
Koenige bis zu ihm herankamen, sagte er, halblaut, wie Einer, der zu
sich allein redet: "Seltsam! Seltsam! Wie reimt sich Das zusammen?
Zwei Koenige sehe ich - und nur Einen Esel!"
4:68
Da machten die beiden Koenige Halt, laechelten, sahen nach der Stelle
hin, woher die Stimme kam, und sahen sich nachher selber in's Gesicht.
"Solcherlei denkt man wohl auch unter uns, sagte der Koenig zur
Rechten, aber man spricht es nicht aus."
4:69
Der Koenig zur Linken aber zuckte mit den Achseln und antwortete: "Das
mag wohl ein Ziegenhirt sein. Oder ein Einsiedler, der zu lange unter
Felsen und Baeumen lebte. Gar keine Gesellschaft naemlich verdirbt
auch die guten Sitten."
4:70
"Die guten Sitten? entgegnete unwillig und bitter der andre Koenig:
wem laufen wir denn aus dem Wege? Ist es nicht den `guten Sitten`?
Unsrer `guten Gesellschaft`?
4:71
Lieber, wahrlich, unter Einsiedlern und Ziegenhirten als mit unserm
vergoldeten falschen ueberschminkten Poebel leben, - ob er sich schon
`gute Gesellschaft` heisst,
4:72
- ob er sich schon `Adel` heisst. Aber da ist Alles falsch und faul,
voran das Blut, Dank alten schlechten Krankheiten und schlechteren
Heil-Kuenstlern.
4:73
Der Beste und Liebste ist mir heute noch ein gesunder Bauer, grob,
listig, hartnaeckig, langhaltig: das ist heute die vornehmste Art.
4:74
Der Bauer ist heute der Beste; und Bauern-Art sollte Herr sein! Aber
es ist das Reich des Poebels, - ich lasse mir Nichts mehr vormachen.
Poebel aber, das heisst: Mischmasch.
4:75
Poebel-Mischmasch: darin ist Alles in Allem durcheinander, Heiliger
und Hallunke und Junker und Jude und jeglich Vieh aus der Arche Noaeh.
4:76
Gute Sitten! Alles ist bei uns falsch und faul. Niemand weiss mehr
zu verehren: _dem_ gerade laufen wir davon. Es sind suessliche
zudringliche Hunde, sie vergolden Palmenblaetter.
4:77
Dieser Ekel wuergt mich, dass wir Koenige selber falsch wurden,
ueberhaengt und verkleidet durch alten vergilbten Grossvaeter-Prunk,
Schaumuenzen fuer die Duemmsten und die Schlauesten, und wer heute
Alles mit der Macht Schacher treibt!
4:78
Wir _sind_ nicht die Ersten - und muessen es doch _bedeuten_: dieser
Betruegerei sind wir endlich satt und ekel geworden.
4:79
Dem Gesindel giengen wir aus dem Wege, allen diesen Schreihaelsen und
Schreib-Schmeissfliegen, dem Kraemer-Gestank, dem Ehrgeiz-Gezappel,
dem ueblen Athem -: pfui, unter dem Gesindel leben,
4:80
- pfui, unter dem Gesindel die Ersten zu bedeuten! Ach, Ekel! Ekel!
Ekel! Was liegt noch an uns Koenigen!" -
4:81
"Deine alte Krankheit faellt dich an, sagte hier der Koenig zur
Linken, der Ekel faellt dich an, mein armer Bruder. Aber du weisst es
doch, es hoert uns Einer zu."
4:82
Sofort erhob sich Zarathustra, der zu diesen Reden Ohren und Augen
aufgesperrt hatte, aus seinem Schlupfwinkel, trat auf die Koenige zu
und begann:
4:83
"Der Euch zuhoert, der Euch gerne zuhoert, ihr Koenige, der heisst
Zarathustra.
4:84
Ich bin Zarathustra, der einst sprach: `Was liegt noch an Koenigen!`
Vergebt mir, ich freute mich, als Ihr zu einander sagtet: `Was liegt
an uns Koenigen!`
4:85
Hier aber ist _mein_ Reich und meine Herrschaft: was moegt Ihr wohl
in meinem Reiche suchen? Vielleicht aber _fandet_ Ihr unterwegs, was
_ich_ suche: naemlich den hoeheren Menschen."
4:86
Als Diess die Koenige hoerten, schlugen sie sich an die Brust und
sprachen mit Einem Munde: "Wir sind erkannt!
4:87
Mit dem Schwerte dieses Wortes zerhaust du unsres Herzens dickste
Finsterniss. Du entdecktest unsre Noth, denn siehe! Wir sind
unterwegs, dass wir den hoeheren Menschen faenden -
4:88
- den Menschen, der hoeher ist als wir: ob wir gleich Koenige sind.
Ihm fuehren wir diesen Esel zu. Der hoechste Mensch naemlich soll auf
Erden auch der hoechste Herr sein.
4:89
Es giebt kein haerteres Unglueck in allem Menschen-Schicksale, als
wenn die Maechtigen der Erde nicht auch die ersten Menschen sind. Da
wird Alles falsch und schief und ungeheuer.
4:90
Und wenn sie gar die letzten sind und mehr Vieh als Mensch: da
steigt und steigt der Poebel im Preise, und endlich spricht gar die
Poebel-Tugend: `siehe, ich allein bin Tugend!` -
4:91
Was hoerte ich eben? antwortete Zarathustra; welche Weisheit bei
Koenigen! Ich bin entzueckt, und, wahrlich, schon geluestet's mich,
einen Reim darauf zu machen: -
4:92
- mag es auch ein Reim werden, der nicht fuer Jedermanns Ohren taugt.
Ich verlernte seit langem schon die Ruecksicht auf lange Ohren.
Wohlan! Wohlauf!
4:93
(Hier aber geschah es, dass auch der Esel zu Worte kam: er sagte aber
deutlich und mit boesem Willen I-A.)
4:94
Einstmals - ich glaub', im Jahr des Heiles Eins -
Sprach die Sibylle, trunken sonder Weins:
`Weh, nun geht's schief!
Verfall! Verfall! Nie sank die Welt so tief!
Rom sank zur Hure und zur Huren-Bude,
Rom's Caesar sank zum Vieh, Gott selbst - ward Jude!`"
4:95
hp 2.
4:96
An diesen Reimen Zarathustra's weideten sich die Koenige; der Koenig
zur Rechten aber sprach: "oh Zarathustra, wie gut thaten wir, dass wir
auszogen, dich zu sehn!
4:97
Deine Feinde naemlich zeigten uns dein Bild in ihrem Spiegel: da
blicktest du mit der Fratze eines Teufels und hohnlachend: also dass
wir uns vor dir fuerchteten.
4:98
Aber was half's! Immer wieder stachst du uns in Ohr und Herz mit
deinen Spruechen. Da sprachen wir endlich: was liegt daran, wie er
aussieht!
4:99
Wir muessen ihn _hoeren_, ihn, der lehrt `ihr sollt den Frieden lieben
als Mittel zu neuen Kriegen, und den kurzen Frieden mehr als den
langen!`
4:100
Niemand sprach je so kriegerische Worte: `Was ist gut? Tapfer sein ist
gut. Der gute Krieg ist's, der jede Sache heiligt.`
4:101
Oh Zarathustra, unsrer Vaeter Blut ruehrte sich bei solchen Worten
in unserm Leibe: das war wie die Rede des Fruehlings zu alten
Weinfaessern.
4:102
Wenn die Schwerter durcheinander liefen gleich rothgefleckten
Schlangen, da wurden unsre Vaeter dem Leben gut; alles Friedens Sonne
duenkte sie flau und lau, der lange Frieden aber machte Scham.
4:103
Wie sie seufzten, unsre Vaeter, wenn sie an der Wand blitzblanke
ausgedorrte Schwerter sahen! Denen gleich duersteten sie nach Krieg.
Ein Schwert naemlich will Blut trinken und funkelt vor Begierde." - -
4:104
- Als die Koenige dergestalt mit Eifer von dem Glueck ihrer Vaeter
redeten und schwaetzten, ueberkam Zarathustra keine kleine Lust,
ihres Eifers zu spotten: denn ersichtlich waren es sehr friedfertige
Koenige, welche er vor sich sah, solche mit alten und feinen
Gesichtern. Aber er bezwang sich. "Wohlan! sprach er, dorthin fuehrt
der Weg, da liegt die Hoehle Zarathustra's; und dieser Tag soll einen
langen Abend haben! Jetzt aber ruft mich eilig ein Nothschrei fort von
Euch.
4:105
Es ehrt meine Hoehle, wenn Koenige in ihr sitzen und warten wollen:
aber, freilich, Ihr werdet lange warten muessen!
4:106
Je nun! Was thut's! Wo lernt man heute besser warten als an Hoefen?
Und der Koenige ganze Tugend, die ihnen uebrig blieb, - heisst sie
heute nicht: Warten-_koennen_?"
4:107
Also sprach Zarathustra.
4:108
Der Blutegel
4:109
Und Zarathustra gieng nachdenklich weiter und tiefer, durch Waelder
und vorbei an moorigen Gruenden; wie es aber Jedem ergeht, der ueber
schwere Dinge nachdenkt, so trat er unversehens dabei auf einen
Menschen. Und siehe, da spruetzten ihm mit Einem Male ein Weheschrei
und zwei Flueche und zwanzig schlimme Schimpfworte in's Gesicht:
also dass er in seinem Schrecken den Stock erhob und auch auf den
Getretenen noch zuschlug. Gleich darauf aber kam ihm die Besinnung;
und sein Herz lachte ueber die Thorheit, die er eben gethan hatte.
4:110
"Vergieb, sagte er zu dem Getretenen, der sich grimmig erhoben und
gesetzt hatte, vergieb und vernimm vor Allem erst ein Gleichniss.
4:111
Wie ein Wanderer, der von fernen Dingen traeumt, unversehens auf
einsamer Strasse einen schlafenden Hund anstoesst, einen Hund, der in
der Sonne liegt:
4:112
- wie da Beide auffahren, sich anfahren, Todfeinden gleich, diese zwei
zu Tod Erschrockenen: also ergieng es uns.
4:113
Und doch! Und doch - wie wenig hat gefehlt, dass sie einander
liebkosten, dieser Hund und dieser Einsame! Sind sie doch Beide -
Einsame!"
4:114
- "Wer du auch sein magst, sagte immer noch grimmig der Getretene,
du trittst mir auch mit deinem Gleichniss zu nahe, und nicht nur mit
deinem Fusse!
4:115
Siehe doch, bin ich denn ein Hund?" - und dabei erhob sich der
Sitzende und zog seinen nackten Arm aus dem Sumpfe. Zuerst naemlich
hatte er ausgestreckt am Boden gelegen, verborgen und unkenntlich
gleich Solchen, die einem Sumpf-Wilde auflauern.
4:116
"Aber was treibst du doch!" rief Zarathustra erschreckt, denn er
sahe, dass ueber den nackten Arm weg viel Blut floss, - was ist dir
zugestossen? Biss dich, du Unseliger, ein schlimmes Thier?
4:117
Der Blutende lachte, immer noch erzuernt. "Was geht's dich an! sagte
er und wollte weitergehn. Hier bin ich heim und in meinem Bereiche.
Mag mich fragen, wer da will: einem Toelpel aber werde ich schwerlich
antworten."
4:118
"Du irrst, sagte Zarathustra mitleidig und hielt ihn fest, du irrst:
hier bist du nicht bei dir, sondern in meinem Reiche, und darin soll
mir Keiner zu Schaden kommen.
4:119
Nenne mich aber immerhin, wie du willst, - ich bin, der ich sein muss.
Ich selber heisse mich Zarathustra.
4:120
Wohlan! Dort hinauf geht der Weg zu Zarathustra's Hoehle: die ist
nicht fern, - willst du nicht bei mir deiner Wunden warten?
4:121
Es gieng dir schlimm, du Unseliger, in diesem Leben: erst biss dich
das Thier, und dann - trat dich der Mensch!" - -
4:122
Als aber der Getretene den Namen Zarathustra's hoerte, verwandelte er
sich. "Was geschieht mir doch! rief er aus, _wer_ kuemmert mich denn
noch in diesem Leben, als dieser Eine Mensch, naemlich Zarathustra,
und jenes Eine Thier, das vom Blute lebt, der Blutegel?
4:123
Des Blutegels halber lag ich hier an diesem Sumpfe wie ein Fischer,
und schon war mein ausgehaengter Arm zehn Mal angebissen, da beisst
noch ein schoenerer Igel nach meinem Blute, Zarathustra selber!
4:124
Oh Glueck! Oh Wunder! Gelobt sei dieser Tag, der mich in diesen Sumpf
lockte! Gelobt sei der beste lebendigste Schroepfkopf, der heut lebt,
gelobt sei der grosse Gewissens-Blutegel Zarathustra!" -
4:125
Also sprach der Getretene; und Zarathustra freute sich ueber seine
Worte und ihre feine ehrfuerchtige Art. "Wer bist du? fragte er und
reichte ihm die Hand, zwischen uns bleibt Viel aufzuklaeren und
aufzuheitern: aber schon, duenkt mich, wird es reiner heller Tag."
4:126
"Ich bin _der_Gewissenhafte_des_Geistes_, antwortete der Gefragte, und
in Dingen des Geistes nimmt es nicht leicht Einer strenger, enger und
haerter als ich, ausgenommen der, von dem ich's lernte, Zarathustra
selber.
4:127
Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! Lieber ein Narr sein auf
eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutduenken! Ich - gehe auf
den Grund:
4:128
- was liegt daran, ob er gross oder klein ist? Ob er Sumpf oder Himmel
heisst? Eine Hand breit Grund ist mir genung: wenn er nur wirklich
Grund und Boden ist!
4:129
- eine Hand breit Grund: darauf kann man stehn. In der rechten
Wissen-Gewissenschaft giebt es nichts Grosses und nichts Kleines."
4:130
"So bist du vielleicht der Erkenner des Blutegels? fragte Zarathustra;
und du gehst dem Blutegel nach bis auf die letzten Gruende, du
Gewissenhafter?"
4:131
"Oh Zarathustra, antwortete der Getretene, das waere ein Ungeheures,
wie duerfte ich mich dessen unterfangen!
4:132
Wess ich aber Meister und Kenner bin, das ist des Blutegels _Hirn_: -
das ist _meine_ Welt!
4:133
Und es ist auch eine Welt! Vergieb aber, dass hier mein Stolz zu Worte
kommt, denn ich habe hier nicht meines Gleichen. Darum sprach ich
`hier bin ich heim.`
4:134
Wie lange gehe ich schon diesem Einen nach, dem Hirn des Blutegels,
dass die schluepfrige Wahrheit mir hier nicht mehr entschluepfe! Hier
ist _mein_ Reich!
4:135
- darob warf ich alles Andere fort, darob wurde mir alles. Andre
gleich; und dicht neben meinem Wissen lagert mein schwarzes Unwissen.
4:136
Mein Gewissen des Geistes will es so von mir, dass ich Eins weiss und
sonst Alles nicht weiss: es ekelt mich aller Halben des Geistes, aller
Dunstigen, Schwebenden, Schwaermerischen.
4:137
Wo meine Redlichkeit aufhoert, bin ich blind und will auch blind sein.
Wo ich aber wissen will, will ich auch redlich sein, naemlich hart,
streng, eng, grausam, unerbittlich.
4:138
Dass _du_ einst sprachst, oh Zarathustra: `Geist ist das Leben, das
selber in's Leben schneidet,` das fuehrte und verfuehrte mich zu
deiner Lehre. Und, wahrlich, mit eignem Blute mehrte ich mir das eigne
Wissen!"
4:139
- "Wie der Augenschein lehrt," fiel Zarathustra ein; denn immer noch
floss das Blut an dem nackten Arme des Gewissenhaften herab. Es hatten
naemlich zehn Blutegel sich in denselben eingebissen.
4:140
"Oh du wunderlicher Gesell, wie Viel lehrt mich dieser Augenschein da,
naemlich du selber! Und nicht Alles duerfte ich vielleicht in deine
strengen Ohren giessen!
4:141
Wohlan! So scheiden wir hier! Doch moechte ich gerne dich
wiederfinden. Dort hinauf fuehrt der Weg zu meiner Hoehle: heute Nacht
sollst du dort mein lieber Gast sein!
4:142
Gerne moechte ich's auch an deinem Leibe wieder gut machen, dass
Zarathustra dich mit Fuessen trat: darueber denke ich nach. Jetzt aber
ruft mich ein Nothschrei eilig fort von dir."
4:143
Also sprach Zarathustra.
4:144
Der Zauberer
4:145
hp 1.
4:146
Als aber Zarathustra um einen Felsen herumbog, da sahe er, nicht weit
unter sich, auf dem gleichen Wege, einen Menschen, der die Glieder
warf wie ein Tobsuechtiger und endlich baeuchlings zur Erde
niederstuerzte. "Halt! sprach da Zarathustra zu seinem Herzen, Der
dort muss wohl der hoehere Mensch sein, von ihm kam jener schlimme
Nothschrei, - ich will sehn, ob da zu helfen ist." Als er aber
hinzulief, an die Stelle, wo der Mensch auf dem Boden lag, fand er
einen zitternden alten Mann mit stieren Augen; und wie sehr sich
Zarathustra muehte, dass er ihn aufrichte und wieder auf seine Beine
stelle, es war umsonst. Auch schien der Unglueckliche nicht zu merken,
dass jemand um ihn sei; vielmehr sah er sich immer mit ruehrenden
Gebaerden um, wie ein von aller Welt Verlassener und Vereinsamter.
Zuletzt aber, nach vielem Zittern, Zucken und Sich-zusammen-Kruemmen,
begann er also zu jammern:
4:147
Wer waermt mich, wer liebt mich noch?
Gebt heisse Haende!
Gebt Herzens-Kohlenbecken!
Hingestreckt, schaudernd,
Halbtodtem gleich, dem man die Fuesse waermt -
Geschuettelt, ach! von unbekannten Fiebern,
Zitternd vor spitzen eisigen Frost-Pfeilen,
Von dir gejagt, Gedanke!
Unnennbarer! Verhuellter! Entsetzlicher!
Du Jaeger hinter Wolken!
Darniedergeblitzt von dir,
Du hoehnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt:
- so liege ich,
Biege mich, winde mich, gequaelt
Von allen ewigen Martern,
Getroffen
Von Dir, grausamster Jaeger,
Du unbekannter - Gott!
4:148
Triff tiefer,
Triff Ein Mal noch!
Zerstich, zerbrich diess Herz!
Was soll diess Martern
Mit zaehnestumpfen Pfeilen?
Was blickst du wieder,
Der Menschen-Qual nicht muede,
Mit schadenfrohen Goetter-Blitz-Augen?
Nicht toedten willst du,
Nur martern, martern?
Wozu - _mich_ martern,
Du schadenfroher unbekannter Gott? -
4:149
Haha! Du schleichst heran?
Bei solcher Mitternacht
Was willst du? Sprich!
Du draengst mich, drueckst mich -
Ha! schon viel zu nahe!
Weg! Weg!
Du hoerst mich athmen,
Du behorchst mein Herz,
Du Eifersuechtiger -
Worauf doch eifersuechtig?
Weg! Weg! Wozu die Leiter?
Willst _du_hinein_,
In's Herz,
Einsteigen, in meine heimlichsten
Gedanken einsteigen?
Schamloser! Unbekannter - Dieb!
Was willst du dir erstehlen,
Was willst du dir erhorchen,
Was willst du dir erfoltern,
Du Folterer!
Du - Henker-Gott!
Oder soll ich, dem Hunde gleich,
Vor dir mich waelzen?
Hingebend, begeistert-ausser-mir,
Dir - Liebe zuwedeln?
4:150
Umsonst! Stich weiter,
Grausamster Stachel! Nein,
Kein Hund - dein Wild nur bin ich,
Grausamster Jaeger!
Dein stolzester Gefangner,
Du Raeuber hinter Wolken!
Sprich endlich,
Was willst du, Wegelagerer, von _mir_?
Du Blitz-Verhuellter! Unbekannter! Sprich,
Was _willst_ du, unbekannter Gott? - -
4:151
Wie? Loesegeld?
Was willst du Loesegelds?
Verlange Viel - das raeth mein Stolz!
Und rede kurz - das raeth mein andrer Stolz!
Haha!
4:152
Mich - willst du? Mich?
Mich - ganz?
4:153
Haha!
Und marterst mich, Narr, der du bist,
Zermarterst meinen Stolz?
Gieb _Liebe_ mir - wer waermt mich noch?
Wer liebt mich noch? - gieb heisse Haende,
Gieb Herzens-Kohlenbecken,
Gieb mir, dem Einsamsten,
Den Eis, ach! siebenfaches Eis
Nach Feinden selber,
Nach Feinden schmachten lehrt,
Gieb, ja ergieb,
Grausamster Feind,
Mir - _dich_! - -
4:154
Davon!
Da floh er selber,
Mein letzter einziger Genoss,
Mein grosser Feind,
Mein Unbekannter,
Mein Henker-Gott! -
4:155
- Nein! Komm zurueck,
Mit allen deinen Martern!
Zum Letzten aller Einsamen
Oh komm zurueck!
All meine Thraenen-Baeche laufen
Zu dir den Lauf!
4:156
Und meine letzte Herzens-Flamme -
_Dir_ glueht sie auf!
Oh komm zurueck,
Mein unbekannter Gott! Mein Schmerz! Mein letztes -
Glueck!
4:157
hp 2.
4:158
- Hier aber konnte sich Zarathustra nicht laenger halten, nahm seinen
Stock und schlug mit allen Kraeften auf den jammernden los. "Halt ein!
schrie er ihm zu, mit ingrimmigem Lachen, halt ein, du Schauspieler!
Du Falschmuenzer! Du Luegner aus dem Grunde! Ich erkenne dich wohl!
4:159
Ich will dir schon warme Beine machen, du schlimmer Zauberer, ich
verstehe mich gut darauf, Solchen wie du bist - einzuheizen!"
4:160
- "Lass ab, sagte der alte Mann und sprang vom Boden auf, schlage
nicht mehr, oh Zarathustra! Ich trieb's also nur zum Spiele!
4:161
Solcherlei gehoert zu meiner Kunst; dich selber wollte ich auf die
Probe stellen, als ich dir diese Probe gab! Und, wahrlich, du hast
mich gut durchschaut!
4:162
Aber auch du - gabst mir von dir keine kleine Probe: du bist _hart_,
du weiser Zarathustra! Hart schlaegst du zu mit deinen `Wahrheiten`,
dein Knuettel erzwingt von mir - _diese_ Wahrheit!"
4:163
- "Schmeichle nicht, antwortete Zarathustra, immer noch erregt und
finsterblickend, du Schauspieler aus dem Grunde! Du bist falsch: was
redest du - von Wahrheit!
4:164
Du Pfau der Pfauen, du Meer der Eitelkeit, _was_ spieltest du vor mir,
du schlimmer Zauberer, an _wen_ sollte ich glauben, als du in solcher
Gestalt jammertest?"
4:165
"Den Buesser des Geistes, sagte der alte Mann, _den_ - spielte ich: du
selber erfandest einst diess Wort -
4:166
- den Dichter und Zauberer, der gegen sich selber endlich seinen Geist
wendet, den Verwandelten, der an seinem boesen Wissen und Gewissen
erfriert.
4:167
Und gesteh es nur ein: es waehrte lange, oh Zarathustra, bis du hinter
meine Kunst und Luege kamst! _Du_glaubtest_ an meine Noth, als du mir
den Kopf mit beiden Haenden hieltest, -
4:168
- ich hoerte dich jammern `man hat ihn zu wenig geliebt, zu wenig
geliebt!` Dass ich dich soweit betrog, darueber frohlockte inwendig
meine Bosheit."
4:169
"Du magst Feinere betrogen haben als mich, sagte Zarathustra hart. Ich
bin nicht auf der Hut vor Betruegern, ich _muss_ ohne Vorsicht sein:
so will es mein Loos.
4:170
Du aber - _musst_ betruegen: so weit kenne ich dich! Du musst immer
zwei- drei- vier- und fuenfdeutig sein! Auch was du jetzt bekanntest,
war mir lange nicht wahr und nicht falsch genung!
4:171
Du schlimmer Falschmuenzer, wie koenntest du anders! Deine Krankheit
wuerdest du noch schminken, wenn du dich deinem Arzte nackt zeigtest.
4:172
So schminktest du eben vor mir deine Luege, als du sprachst: `ich
trieb's also _nur_ zum Spiele!` Es war auch _Ernst_ darin, du _bist_
Etwas von einem Buesser des Geistes!
4:173
Ich errathe dich wohl: du wurdest der Bezauberer Aller, aber gegen
dich hast du keine Luege und List mehr uebrig, - du selber bist dir
entzaubert!
4:174
Du erntetest den Ekel ein, als deine Eine Wahrheit. Kein Wort ist mehr
an dir aecht, aber dein Mund: naemlich der Ekel, der an deinem Munde
klebt." - -
4:175
- "Wer bist du doch! schrie hier der alte Zauberer mit einer trotzigen
Stimme, wer darf also zu _mir_ reden, dem Groessten, der heute lebt?"
- und ein gruener Blitz schoss aus seinem Auge nach Zarathustra. Aber
gleich darauf verwandelte er sich und sagte traurig:
4:176
"Oh Zarathustra, ich bin's muede, es ekelt mich meiner Kuenste, ich
bin nicht _gross_, was verstelle ich mich! Aber, du weisst es wohl -
ich suchte nach Groesse!
4:177
Einen grossen Menschen wollte ich vorstellen und ueberredete Viele:
aber diese Luege gieng ueber meine Kraft. An ihr zerbreche ich.
4:178
Oh Zarathustra, Alles ist Luege an mir; aber dass ich zerbreche -
diess mein Zerbrechen ist _aecht_!" -
4:179
"Es ehrt dich, sprach Zarathustra duester und zur Seite
niederblickend, es ehrt dich, dass du nach Groesse suchtest, aber es
verraeth dich auch. Du bist nicht gross.
4:180
Du schlimmer alter Zauberer, _das_ ist dein Bestes und Redlichstes,
was ich an dir ehre, dass du deiner muede wurdest und es aussprachst:
`ich bin nicht gross.`
4:181
_Darin_ ehre ich dich als einen Buesser des Geistes: und wenn auch nur
fuer einen Hauch und Husch, diesen Einen Augenblick warst du - aecht.
4:182
Aber sprich, was suchst du hier in _meinen_ Waeldern und Felsen? Und
wenn du _mir_ dich in den Weg legtest, welche Probe wolltest du von
mir? -
4:183
- wess versuchtest du _mich_?" -
4:184
Also sprach Zarathustra, und seine Augen funkelten. Der alte Zauberer
schwieg eine Weile, dann sagte er: "Versuchte ich dich? Ich - suche
nur.
4:185
Oh Zarathustra, ich suche einen Aechten, Rechten, Einfachen,
Eindeutigen, einen Menschen aller Redlichkeit, ein Gefaess der
Weisheit, einen Heiligen der Erkenntniss, einen grossen Menschen!
4:186
Weisst du es denn nicht, oh Zarathustra? Ich suche Zarathustra."
4:187
- Und hier entstand ein langes Stillschweigen zwischen Beiden;
Zarathustra aber versank tief hinein in sich selber, also dass er
die Augen schloss. Dann aber, zu seinem Unterredner zurueckkehrend,
ergriff er die Hand des Zauberers und sprach, voller Artigkeit und
Arglist:
4:188
"Wohlan! Dort hinauf fuehrt der Weg, da liegt die Hoehle
Zarathustra's. In ihr darfst du suchen, wen du finden moechtest.
4:189
Und frage meine Thiere um Rath, meinen Adler und meine Schlange: die
sollen dir suchen helfen. Meine Hoehle aber ist gross.
4:190
Ich selber freilich - ich sah noch keinen grossen Menschen. Was gross
ist, dafuer ist das Auge der Feinsten heute grob. Es ist das Reich des
Poebels.
4:191
So Manchen fand ich schon, der streckte und blaehte sich, und das
Volk schrie: `Seht da, einen grossen Menschen!` Aber was helfen alle
Blasebaelge! Zuletzt faehrt der Wind heraus.
4:192
Zuletzt platzt ein Frosch, der sich zu lange aufblies: da faehrt der
Wind heraus. Einem Geschwollnen in den Bauch stechen, das heisse ich
eine brave Kurzweil. Hoert das, ihr Knaben!
4:193
Diess Heute ist des Poebels: wer _weiss_ da noch, was gross, was klein
ist! Wer suchte da mit Glueck nach Groesse! Ein Narr allein: den
Narren glueckt's.
4:194
Du suchst nach grossen Menschen, du wunderlicher Narr? Wer _lehrte's_
dich? Ist heute dazu die Zeit? Oh du schlimmer Sucher, was - versuchst
du mich?" - -
4:195
Also sprach Zarathustra, getroesteten Herzens, und gierig lachend
seines Wegs fuerbass.
4:196
Ausser Dienst
4:197
Nicht lange aber, nachdem Zarathustra sich von dem Zauberer losgemacht
hatte, sahe er wiederum Jemanden am Wege sitzen, den er gierig,
naemlich einen schwarzen langen Mann mit einem hageren Bleichgesicht:
_der_ verdross ihn gewaltig. "Wehe, sprach er zu seinem Herzen, da,
sitzt vermummte Truebsal, das duenkt mich von der Art der Priester:
was wollen _die_ in meinem Reiche?
4:198
Wie! Kaum bin ich jenem Zauberer entronnen: muss mir da wieder ein
anderer Schwarzkuenstler ueber den Weg laufen, -
4:199
- irgend ein Hexenmeister mit Handauflegen, ein dunkler Wunderthaeter
von Gottes Gnaden, ein gesalbter Welt-Verleumder, den der Teufel holen
moege!
4:200
Aber der Teufel ist nie am Platze, wo er am Platze waere: immer kommt
er zu spaet, dieser vermaledeite Zwerg und Klumpfuss!" -
4:201
Also fluchte Zarathustra ungeduldig in seinem Herzen und gedachte, wie
er abgewandten Blicks an dem schwarzen Manne vorueberschluepfe: aber
siehe, es kam anders. Im gleichen Augenblicke naemlich hatte ihn
schon der Sitzende erblickt; und nicht unaehnlich einem Solchen,
dem ein unvermuthetes Glueck zustoesst, sprang er auf und gieng auf
Zarathustra los.
4:202
"Wer du auch bist, du Wandersmann, sprach er, hilf einem Verirrten,
einem Suchenden, einem alten Manne, der hier leicht zu Schaden kommt!
4:203
Diese Welt hier ist mir fremd und fern, auch hoerte ich wilde Thiere
heulen; und Der, welcher mir haette Schutz bieten koennen, der ist
selber nicht mehr.
4:204
Ich suchte den letzten frommen Menschen, einen Heiligen und
Einsiedler, der allein in seinem Walde noch Nichts davon gehoert
hatte, was alle Welt heute weiss."
4:205
"_Was_ weiss heute alle Welt? fragte Zarathustra. Etwa diess, dass der
alte Gott nicht mehr lebt, an den alle Welt einst geglaubt hat?"
4:206
"Du sagst es, antwortete der alte Mann betruebt. Und ich diente diesem
alten Gotte bis zu seiner letzten Stunde.
4:207
Nun aber bin ich ausser Dienst, ohne Herrn, und doch nicht frei, auch
keine Stunde mehr lustig, es sei denn in Erinnerungen.
4:208
Dazu stieg ich in diese Berge, dass ich endlich wieder ein Fest mir
machte, wie es einem alten Papste und Kirchen-Vater zukommt: denn
wisse, ich bin der letzte Papst! - ein Fest frommer Erinnerungen und
Gottesdienste.
4:209
Nun aber ist er selber todt, der froemmste Mensch, jener Heilige im
Walde, der seinen Gott bestaendig mit Singen und Brummen lobte.
4:210
Ihn selber fand ich nicht mehr, als ich seine Huette fand, - wohl aber
zwei Woelfe darin, welche um seinen Tod heulten - denn alle Thiere
liebten ihn. Da lief ich davon.
4:211
Kam ich also umsonst in diese Waelder und Berge? Da entschloss sich
mein Herz, dass ich einen Anderen suchte, den Froemmsten aller Derer,
die nicht an Gott glauben -, dass ich Zarathustra suchte!"
4:212
Also sprach der Greis und blickte scharfen Auges Den an, welcher vor
ihm stand; Zarathustra aber ergriff die Hand des alten Papstes und
betrachtete sie lange mit Bewunderung.
4:213
"Siehe da, du Ehrwuerdiger, sagte er dann, welche schoene und lange
Hand! Das ist die Hand eines Solchen, der immer Segen ausgetheilt hat.
Nun aber haelt sie Den fest, welchen du suchst, mich, Zarathustra.
4:214
Ich bin's, der gottlose Zarathustra, der da spricht: wer ist gottloser
als ich, dass ich mich seiner Unterweisung freue?" -
4:215
Also sprach Zarathustra und durchbohrte mit seinen Blicken die
Gedanken und Hintergedanken des alten Papstes. Endlich begann dieser:
4:216
"Wer ihn am meisten liebte und besass, der hat ihn nun am meisten auch
verloren -:
4:217
- siehe, ich selber bin wohl von uns Beiden jetzt der Gottlosere? Aber
wer koennte daran sich freuen!" -
4:218
"Du dientest ihm bis zuletzt, fragte Zarathustra nachdenklich, nach
einem tiefen Schweigen, du weisst, _wie_ er starb? Ist es wahr, was
man spricht, dass ihn das Mitleiden erwuergte,
4:219
- dass er es sah, wie _der_Mensch_ am Kreuze hieng, und es nicht
ertrug, dass die Liebe zum Menschen seine Hoelle und zuletzt sein Tod
wurde?" - -
4:220
Der alte Papst aber antwortete nicht, sondern blickte scheu und mit
einem schmerzlichen und duesteren Ausdrucke zur Seite.
4:221
"Lass ihn fahren, sagte Zarathustra nach einem langen Nachdenken,
indem er immer noch dem alten Manne gerade in's Auge blickte.
4:222
Lass ihn fahren, er ist dahin. Und ob es dich auch ehrt, dass du
diesem Todten nur Gutes nachredest, so weisst du so gut als ich, _wer_
er war; und dass er wunderliche Wege gieng."
4:223
"Unter drei Augen gesprochen, sagte erheitert der alte Papst (denn er
war auf Einem Auge blind), in Dingen Gottes bin ich aufgeklaerter als
Zarathustra selber - und darf es sein.
4:224
Meine Liebe diente ihm lange Jahre, mein Wille gierig allem seinen
Willen nach. Ein guter Diener aber weiss Alles, und Mancherlei auch,
was sein Herr sich selbst verbirgt.
4:225
Es war ein verborgener Gott, voller Heimlichkeit. Wahrlich zu einem
Sohne sogar kam er nicht anders als auf Schleichwegen. An der Thuer
seines Glaubens steht der Ehebruch.
4:226
Wer ihn als einen Gott der Liebe preist, denkt nicht hoch genug von
der Liebe selber. Wollte dieser Gott nicht auch Richter sein? Aber der
Liebende liebt jenseits von Lohn und Vergeltung.
4:227
Als er jung war, dieser Gott aus dem Morgenlande, da war er hart
und rachsuechtig und erbaute sich eine Hoelle zum Ergoetzen seiner
Lieblinge.
4:228
Endlich aber wurde er alt und weich und muerbe und mitleidig, einem
Grossvater aehnlicher als einem Vater, am aehnlichsten aber einer
wackeligen alten Grossmutter.
4:229
Da sass er, welk, in seinem Ofenwinkel, haermte sich ob seiner
schwachen Beine, weltmuede, willensmuede, und erstickte eines Tags an
seinem allzugrossen Mitleiden." - -
4:230
"Du alter Papst, sagte hier Zarathustra dazwischen, hast du _Das_ mit
Augen angesehn? Es koennte wohl so abgegangen sein: so, _und_ auch
anders. Wenn Goetter sterben, sterben sie immer viele Arten Todes.
4:231
Aber wohlan! So oder so, so und so - er ist dahin! Er gieng meinen
Ohren und Augen wider den Geschmack, Schlimmeres moechte ich ihm nicht
nachsagen.
4:232
Ich liebe Alles, was hell blickt und redlich redet. Aber er - du
weisst es ja, du alter Priester, es war Etwas von deiner Art an ihm,
von Priester-Art - er war vieldeutig.
4:233
Er war auch undeutlich. Was hat er uns darob gezuernt, dieser
Zornschnauber, dass wir ihn schlecht verstanden Aber warum sprach er
nicht reinlicher?
4:234
Und lag es an unsern Ohren, warum gab er uns Ohren, die ihn schlecht
hoerten? War Schlamm in unsern Ohren, wohlan! wer legte ihn hinein?
4:235
Zu Vieles missrieth ihm, diesem Toepfer, der nicht ausgelernt hatte!
Dass er aber Rache an seinen Toepfen und Geschoepfen nahm, dafuer
dass sie ihm schlecht geriethen, - das war eine Suende wider den
_guten_Geschmack_.
4:236
Es giebt auch in der Froemmigkeit guten Geschmack: der sprach endlich
`Fort mit einem _solchen_ Gotte! Lieber keinen Gott, lieber auf eigne
Faust Schicksal machen, lieber Narr sein, lieber selber Gott sein!`"
4:237
- "Was hoere ich! sprach hier der alte Papst mit gespitzten
Ohren; oh Zarathustra, du bist froemmer als du glaubst, mit einem
solchen Unglauben! Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner
Gottlosigkeit.
4:238
Ist es nicht deine Froemmigkeit selber, die dich nicht mehr an einen
Gott glauben laesst? Und deine uebergrosse Redlichkeit wird dich auch
noch jenseits von Gut und Boese wegfuhren!
4:239
Siehe, doch, was blieb dir aufgespart? Du hast Augen und Hand und
Mund, die sind zum Segnen vorher bestimmt seit Ewigkeit. Man segnet
nicht mit der Hand allein.
4:240
In deiner Naehe, ob du schon der Gottloseste sein willst, wittere ich
einen heimlichen Weih- und Wohlgeruch von langen Segnungen: mir wird
wohl und wehe dabei.
4:241
Lass mich deinen Gast sein, oh Zarathustra, fuer eine einzige Nacht!
Nirgends auf Erden wird es mir jetzt wohler als bei dir!" -
4:242
"Amen! So soll es sein! sprach Zarathustra mit grosser Verwunderung,
dort hinauf fuehrt der Weg, da liegt die Hoehle Zarathustra's.
4:243
Gerne, fuerwahr, wuerde ich dich selber dahin geleiten, du
Ehrwuerdiger, denn ich liebe alle frommen Menschen. Aber jetzt ruft
mich eilig ein Nothschrei weg von dir.
4:244
In meinem Bereiche soll mir Niemand zu Schaden kommen; meine Hoehle
ist ein guter Hafen. Und am liebsten moechte ich jedweden Traurigen
wieder auf festes Land und feste Beine stellen.
4:245
Wer aber naehme dir _deine_ Schwermuth von der Schulter? Dazu bin ich
zu schwach. Lange, wahrlich, moechten wir warten, bis dir Einer deinen
Gott wieder aufweckt.
4:246
Dieser alte Gott naemlich lebt nicht mehr: der ist gruendlich todt." -
4:247
Also sprach Zarathustra.
4:248
Der haesslichste Mensch
4:249
- Und wieder liefen Zarathustra's Fuesse durch Berge und Waelder,
und seine Augen suchten und suchten, aber nirgends war Der zu sehen,
welchen sie sehn wollten, der grosse Nothleidende und Nothschreiende.
Auf dem ganzen Wege aber frohlockte er in seinem Herzen und war
dankbar. "Welche guten Dinge, sprach er, schenkte mir doch dieser Tag,
zum Entgelt, dass er schlimm begann! Welche seltsamen Unterredner fand
ich!
4:250
An deren Worten will ich lange nun kauen gleich als an guten Koernern;
klein soll mein Zahn sie mahlen und malmen, bis sie mir wie Milch in
die Seele fliessen!" - -
4:251
Als aber der Weg wieder um einen Felsen bog, veraenderte sich mit
Einem Male die Landschaft, und Zarathustra trat in ein Reich des
Todes. Hier starrten schwarze und rothe Klippen empor: kein Gras, kein
Baum, keine Vogelstimme. Es war naemlich ein Thal, welches alle Thiere
mieden, auch die Raubthiere-, nur dass eine Art haesslicher, dicker,
gruener Schlangen, wenn sie alt wurden, hierher kamen, um zu sterben.
Darum nannten diess Thal die Hirten: Schlangen-Tod.
4:252
Zarathustra aber versank in eine schwarze Erinnerung, denn ihm war,
als habe er schon ein Mal in diesem Thal gestanden. Und vieles Schwere
legte sich ihm ueber den Sinn: also, dass er langsam gieng und immer
langsamer und endlich still stand. Da aber sahe er, als er die Augen
aufthat, Etwas, das am Wege sass, gestaltet wie ein Mensch und kaum
wie ein Mensch, etwas Unaussprechliches. Und mit Einem Schlage
ueberfiel Zarathustra die grosse Scham darob, dass er so Etwas mit
den Augen angesehn habe: erroethend bis hinauf an sein weisses Haar,
wandte er den Blick ab und hob den Fuss, dass er diese schlimme Stelle
verlasse. Da aber wurde die todte Oede laut: vom Boden auf naemlich
quoll es gurgelnd und roechelnd, wie Wasser Nachts durch verstopfte
Wasser-Roehren gurgelt und roechelt; und zuletzt wurde daraus eine
Menschen-Stimme und Menschen-Rede: - die lautete also.
4:253
"Zarathustra! Zarathustra! Rathe mein Raethsel! Sprich, sprich! Was
ist _die_Rache_am_Zeugen_?
4:254
Ich locke dich zurueck, hier ist glattes Eis! Sieh zu, sieh zu, ob
dein Stolz sich hier nicht die Beine bricht!
4:255
Du duenkst dich weise, du stolzer Zarathustra! So rathe doch das
Raethsel, du harter Nuesseknacker, - das Raethsel, das ich bin! So
sprich doch - wer bin _ich_!"
4:256
- Als aber Zarathustra diese Worte gehoert hatte, - was glaubt ihr
wohl, dass sich da mit seiner Seele zutrug? Das Mitleiden fiel ihn an;
und er sank mit Einem Male nieder, wie ein Eichbaum, der lange vielen
Holzschlaegern widerstanden hat, - schwer, ploetzlich, zum Schrecken
selber fuer Die, welche ihn faellen wollten. Aber schon stand er
wieder vom Boden auf, und sein Antlitz wurde hart.
4:257
"Ich erkenne dich wohl, sprach er mit einer erzenen Stimme: du bist
der Moerder Gottes! Lass mich gehn.
4:258
Du _ertrugst_ Den nicht, der _dich_ sah, - der dich immer und durch
und durch sah, du haesslichster Mensch! Du nahmst Rache an diesem
Zeugen!"
4:259
Also sprach Zarathustra und wollte davon; aber der Unaussprechliche
fasste nach einem Zipfel seines Gewandes und begann von Neuem zu
gurgeln und nach Worten zu suchen. "Bleib!" sagte er endlich -
4:260
- "bleib! Geh nicht vorueber! Ich errieth, welche Axt dich zu Boden
schlug: Heil dir, oh Zarathustra, dass du wieder stehst!
4:261
Du erriethest, ich weiss es gut, wie Dem zu Muthe ist, der ihn
toedtete, - dem Moerder Gottes. Bleib! Setze dich her zu mir, es ist
nicht umsonst.
4:262
Zu wem wollte ich, wenn nicht zu dir? Bleib, setze dich! Blicke mich
aber nicht an! Ehre also - meine Haesslichkeit!
4:263
Sie verfolgen mich: nun bist _du_ meine letzte Zuflucht. _Nicht_ mit
ihrem Hasse, _nicht_ mit ihren Haeschern: - oh solcher Verfolgung
wuerde ich spotten und stolz und froh sein!
4:264
War nicht aller Erfolg bisher bei den Gut-Verfolgten? Und wer gut
verfolgt, lernt leicht _folgen_: - ist er doch einmal - hinterher!
Aber ihr _Mitleid_ ist's -
4:265
- ihr Mitleid ist's, vor dem ich fluechte und dir zufluechte. Oh
Zarathustra, schuetze mich, du meine letzte Zuflucht, du Einziger, der
mich errieth:
4:266
- du erriethest, wie Dem zu Muthe ist, welcher _ihn_ toedtete. Bleib!
Und willst du gehn, du Ungeduldiger: geh nicht den Weg, den ich kam.
_Der_ Weg ist schlecht.
4:267
Zuernst du mir, dass ich zu lange schon rede-rade-breche? Dass ich
schon dir rathe? Aber wisse, ich bin's, der haesslichste Mensch,
4:268
- der auch die groessten schwersten Fuesse hat. Wo _ich_ gieng, ist
der Weg schlecht. Ich trete alle Wege todt und zu Schanden.
4:269
Dass du aber an mir voruebergiengst, schweigend; dass du erroethetest,
ich sah es wohl: daran erkannte ich dich als Zarathustra.
4:270
Jedweder Andere haette mir sein Almosen zugeworfen, sein Mitleiden,
mit Blick und Rede. Aber dazu - bin ich nicht Bettler genug, das
erriethest du -
4:271
- dazu bin ich zu _reich_, reich an Grossem, an Furchtbarem, am
Haesslichsten, am Unaussprechlichsten! Deine Scham, oh Zarathustra,
_ehrte_ mich!
4:272
Mit Noth kam ich heraus aus dem Gedraeng der Mitleidigen, - dass ich
den Einzigen faende, der heute lehrt `Mitleiden ist zudringlich` -
dich, oh Zarathustra!
4:273
- sei es eines Gottes, sei es der Menschen Mitleiden: Mitleiden geht
gegen die Scham. Und nicht-helfen-wollen kann vornehmer sein als jene
Tugend, die zuspringt.
4:274
_Das_ aber heisst heute Tugend selber bei allen kleinen Leuten, das
Mitleiden: - die haben keine Ehrfurcht vor grossem Unglueck, vor
grosser Haesslichkeit, vor grossem Missrathen.
4:275
Ueber diese Alle blicke ich hinweg, wie ein Hund ueber die Ruecken
wimmelnder Schafheerden wegblickt. Es sind kleine wohlwollige
wohlwillige graue Leute.
4:276
Wie ein Reiher verachtend ueber flache Teiche wegblickt, mit
zurueckgelegtem Kopfe: so blicke ich ueber das Gewimmel grauer kleiner
Wellen und Willen und Seelen weg.
4:277
Zu lange hat man ihnen Recht gegeben, diesen kleinen Leuten: _so_ gab
man ihnen endlich auch die Macht - nun lehren sie: `gut ist nur, was
kleine Leute gut heissen.`
4:278
Und `Wahrheit` heisst heute, was der Prediger sprach, der selber aus
ihnen herkam, jener wunderliche Heilige und Fuersprecher der kleinen
Leute, welcher von sich zeugte `ich - bin die Wahrheit.`
4:279
Dieser Unbescheidne macht nun lange schon den kleinen Leuten den Kamm
hoch schwellen - er, der keinen kleinen Irrthum lehrte, als er lehrte
`ich - bin die Wahrheit.`
4:280
Ward einem Unbescheidnen jemals hoeflicher geantwortet? - Du aber, oh
Zarathustra, giengst an ihm vorueber und sprachst: `Nein! Nein! Drei
Mal Nein!`
4:281
Du warntest vor seinem Irrthum, du warntest als der Erste vor dem
Mitleiden - nicht Alle, nicht Keinen, sondern dich und deine Art.
4:282
Du schaemst dich an der Scham des grossen Leidenden; und wahrlich,
wenn du sprichst `von dem Mitleiden her kommt eine grosse Wolke, habt
Acht, ihr Menschen!`
4:283
- wenn du lehrst `alle Schaffenden sind hart, alle grosse Liebe ist
ueber ihrem Mitleiden`: oh Zarathustra, wie gut duenkst du mich
eingelernt auf Wetter-Zeichen!
4:284
Du selber aber - warne dich selber auch vor _deinem_ Mitleiden!
Denn Viele sind zu dir unterwegs, viele Leidende, Zweifelnde,
Verzweifelnde, Ertrinkende, Frierende -
4:285
Ich warne dich auch vor mir. Du erriethest mein bestes, schlimmstes
Raethsel, mich selber und was ich that. Ich kenne die Axt, die dich
faellt.
4:286
Aber er - _musste_ sterben: er sah mit Augen, welche _Alles_ sahn, -
er sah des Menschen Tiefen und Gruende, alle seine verhehlte Schmach
und Haesslichkeit.
4:287
Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzigsten
Winkel. Dieser Neugierigste, Ueber-Zudringliche, Ueber-Mitleidige
musste sterben.
4:288
Er sah immer _mich_: an einem solchen Zeugen wollte ich Rache haben -
oder selber nicht leben.
4:289
Der Gott, der Alles sah, _auch_den_Menschen_ dieser Gott musste
sterben! Der Mensch _ertraegt_ es nicht, dass solch ein Zeuge lebt."
4:290
Also, sprach der haesslichste Mensch. Zarathustra aber erhob sich
und schickte sich an fortzugehn: denn ihn froestelte bis in seine
Eingeweide.
4:291
"Du Unaussprechlicher, sagte er, du warntest mich vor deinem Wege. Zum
Danke dafuer lobe ich dir den meinen. Siehe, dort hinauf liegt die
Hoehle Zarathustra's.
4:292
Meine Hoehle ist gross und tief und hat viele Winkel; da findet der
Versteckteste sein Versteck. Und dicht bei ihr sind hundert Schluepfe
und Schliche fuer kriechendes, flatterndes und springendes Gethier.
4:293
Du Ausgestossener, der du dich selber ausstiessest, du willst nicht
unter Menschen und Menschen-Mitleid wohnen? Wohlan, so thu's mir
gleich! So lernst du auch von mir; nur der Thaeter lernt.
4:294
Und rede zuerst und -naechst mit meinen Thieren! Das stolzeste Thier
und das kluegste Thier - die moechten uns Beiden wohl die rechten
Rathgeber sein!" - -
4:295
Also sprach Zarathustra und gieng seiner Wege, nachdenklicher und
langsamer noch als zuvor: denn er fragte sich Vieles und wusste sich
nicht leicht zu antworten.
4:296
"Wie arm ist doch der Mensch! dachte er in seinem Herzen, wie
haesslich, wie roechelnd, wie voll verborgener Scham!
4:297
Man sagt mir, dass der Mensch sich selber liebe: ach, wie gross muss
diese Selber-Liebe sein! Wie viel Verachtung hat sie wider sich!
4:298
Auch dieser da liebte sich, wie er sich verachtete, - ein grosser
Liebender ist er mir und ein grosser Veraechter.
4:299
Keinen fand ich noch, der sich tiefer verachtet haette: auch _Das_ ist
Hoehe. Wehe, war _Der_ vielleicht der hoehere Mensch, dessen Schrei
ich hoerte?
4:300
Ich liebe die grossen Verachtenden. Der Mensch aber ist Etwas, das
ueberwunden werden muss." - -
4:301
Der freiwillige Bettler
4:302
Als Zarathustra den haesslichsten Menschen verlassen hatte, fror ihn,
und er fuehlte sich einsam: es gieng ihm naemlich vieles Kalte und
Einsame durch die Sinne, also, dass darob auch seine Glieder kaelter
wurden. Indem er aber weiter und weiter stieg, hinauf, hinab, bald
an gruenen Weiden vorbei, aber auch ueber wilde steinichte Lager, wo
ehedem wohl ein ungeduldiger Bach sich zu Bett gelegt hatte.- da wurde
ihm mit Einem Male wieder waermer und herzlicher zu Sinne.
4:303
"Was geschah mir doch? fragte er sich, etwas Warmes und Lebendiges
erquickt mich, das muss in meiner Naehe sein.
4:304
Schon bin ich weniger allein; unbewusste Gefaehrten und Brueder
schweifen um mich, ihr warmer Athem ruehrt an meine Seele."
4:305
Als er aber um sich spaehete und nach den Troestern seiner Einsamkeit
suchte: siehe, da waren es Kuehe, welche auf einer Anhoehe bei
einander standen; deren Naehe und Geruch hatten sein Herz erwaermt.
Diese Kuehe aber schienen mit Eifer einem Redenden zuzuhoeren und
gaben nicht auf Den Acht, der herankam. Wie aber Zarathustra ganz in
ihrer Naehe war, hoerte er deutlich, dass eine Menschen-Stimme aus der
Mitte der Kuehe heraus redete; und ersichtlich hatten sie allesammt
ihre Koepfe dem Redenden zugedreht.
4:306
Da sprang Zarathustra mit Eifer hinauf und draengte die Thiere
auseinander, denn er fuerchtete, dass hier jemandem ein Leids geschehn
sei, welchem schwerlich das Mitleid von Kuehen abhelfen mochte. Aber
darin hatte er sich getaeuscht; denn siehe, da sass ein Mensch auf
der Erde und schien den Thieren zuzureden, dass sie keine Scheu vor
ihm haben sollten, ein friedfertiger Mensch und Berg-Prediger, aus
dessen Augen die Guete selber predigte. "Was suchst du hier?" rief
Zarathustra mit Befremden.
4:307
"Was ich hier suche? antwortete er: das Selbe, was du suchst, du
Stoerenfried! naemlich das Glueck auf Erden.
4:308
Dazu aber moechte ich von diesen Kuehen lernen. Denn, weisst du wohl,
einen halben Morgen schon rede ich ihnen zu, und eben wollten sie mir
Bescheid geben. Warum doch stoerst du sie?
4:309
So wir nicht umkehren und werden wie die Kuehe, so kommen wir nicht
in das Himmelreich. Wir sollten ihnen naemlich Eins ablernen: das
Wiederkaeuen.
4:310
Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewoenne und lernte
das Eine nicht, das Wiederkaeuen: was huelfe es! Er wuerde nicht seine
Truebsal los
4:311
- seine grosse Truebsal: die aber heisst heute _Ekel_. Wer hat heute
von Ekel nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch du! Aber siehe
doch diese Kuehe an!" -
4:312
Also sprach der Berg-Prediger und wandte dann seinen eignen Blick
Zarathustra zu, - denn bisher hieng er mit Liebe an den Kuehen -: da
aber verwandelte er sich. "Wer ist das, mit dem ich rede? rief er
erschreckt und sprang vom Boden empor.
4:313
Diess ist der Mensch ohne Ekel, diess ist Zarathustra selber, der
Ueberwinder des grossen Ekels, diess ist das Auge, diess ist der Mund,
diess ist das Herz Zarathustra's selber."
4:314
Und indem er also sprach, kuesste er Dem, zu welchem er redete, die
Haende, mit ueberstroemenden Augen, und gebaerdete sich ganz als
Einer, dem ein kostbares Geschenk und Kleinod unversehens vom Himmel
faellt. Die Kuehe aber schauten dem Allen zu und wunderten sich.
4:315
"Sprich nicht von mir, du Wunderlicher! Lieblicher! sagte Zarathustra
und wehrte seiner Zaertlichkeit, sprich mir erst von dir! Bist du
nicht der freiwillige Bettler, der einst einen grossen Reichthum von
sich warf, -
4:316
- der sich seines Reichthums schaemte und der Reichen, und zu den
Aermsten floh, dass er ihnen seine Fuelle und sein Herz schenke? Aber
sie nahmen ihn nicht an."
4:317
"Aber sie nahmen mich nicht an, sagte der freiwillige Bettler, du
weisst es ja. So gieng ich endlich zu den Thieren und zu diesen
Kuehen."
4:318
"Da lerntest du, unterbrach Zarathustra den Redenden, wie es schwerer
ist, recht geben als recht nehmen, und dass gut schenken eine _Kunst_
ist und die letzte listigste Meister-Kunst der Guete."
4:319
"Sonderlich heutzutage, antwortete der freiwillige Bettler: heute
naemlich, wo alles Niedrige aufstaendisch ward und scheu und auf seine
Art hoffaehrtig: naemlich auf Poebel-Art.
4:320
Denn es kam die Stunde, du weisst es ja, fuer den grossen schlimmen
langen langsamen Poebel- und Sklaven-Aufstand: der waechst und
waechst!
4:321
Nun empoert die Niedrigen alles Wohlthun und kleine Weggeben; und die
Ueberreichen moegen auf der Hut sein!
4:322
Wer heute gleich bauchichten Flaschen troepfelt aus allzuschmalen
Haelsen: - solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals.
4:323
Luesterne Gier, gallichter Neid, vergraemte Rachsucht, Poebel-Stolz:
das sprang mir Alles in's Gesicht. Es ist nicht mehr wahr, dass die
Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist bei den Kuehen."
4:324
Und warum ist es nicht bei den Reichen? fragte Zarathustra versuchend,
waehrend er den Kuehen wehrte, die den Friedfertigen zutraulich
anschnauften.
4:325
"Was versuchst du mich? antwortete dieser. Du weisst es selber besser
noch als ich. Was trieb mich doch zu den Aermsten, oh Zarathustra? War
es nicht der Ekel vor unsern Reichsten?
4:326
- vor den Straeflingen des Reichthums, welche sich ihren Vortheil aus
jedem Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor diesem
Gesindel, das gen Himmel stinkt,
4:327
- vor diesem vergueldeten verfaelschten Poebel, dessen Vaeter
Langfinger oder Aasvoegel oder Lumpensammler waren, mit Weibern
willfaehrig, luestern, vergesslich: - sie haben's naemlich alle nicht
weit zur Hure -
4:328
Poebel oben, Poebel unten! Was ist heute noch `Arm` und `Reich`!
Diesen Unterschied verlernte ich, - da floh ich davon, weiter, immer
weiter, bis ich zu diesen Kuehen kam."
4:329
Also sprach der Friedfertige und schnaufte selber und schwitzte
bei seinen Worten: also dass die Kuehe sich von Neuem wunderten.
Zarathustra aber sah ihm immer mit Laecheln in's Gesicht, als er so
hart redete, und schuettelte dazu schweigend den Kopf.
4:330
"Du thust dir Gewalt an, du Berg-Prediger, wenn du solche harte Worte
brauchst. Fuer solche Haerte wuchs dir nicht der Mund, nicht das Auge.
4:331
Auch, wie mich duenkt, dein Magen selber nicht: _dem_ widersteht
all solches Zuernen und Hassen und Ueberschaeumen. Dein Magen will
sanftere Dinge: du bist kein Fleischer.
4:332
Vielmehr duenkst du mich ein Pflanzler und Wurzelmann. Vielleicht
malmst du Koerner. Sicherlich aber bist du fleischlichen Freuden
abhold und liebst den Honig."
4:333
"Du erriethst mich gut, antwortete der freiwillige Bettler, mit
erleichtertem Herzen. Ich liebe den Honig, ich malme auch Koerner,
denn ich suchte, was lieblich mundet und reinen Athem macht:
4:334
- auch was lange Zeit braucht, ein Tag- und Maul-Werk fuer sanfte
Muessiggaenger und Tagediebe.
4:335
Am weitesten freilich brachten es diese Kuehe: die erfanden sich das
Wiederkaeuen und In-der-Sonne-Liegen. Auch enthalten sie sich aller
schweren Gedanken, welche das Herz blaehn."
4:336
"- Wohlan! sagte Zarathustra: du solltest auch _meine_ Thiere sehn,
meinen Adler und meine Schlange, - ihres Gleichen giebt es heute nicht
auf Erden.
4:337
Siehe, dorthin fuehrt der Weg zu meiner Hoehle: sei diese Nacht ihr
Gast. Und rede mit meinen Thieren vom Glueck der Thiere, -
4:338
- bis ich selber heimkomme. Denn jetzt ruft ein Nothschrei Mich
eilig weg von dir. Auch findest du neuen Honig bei mir, eisfrischen
Waben-Goldhonig: den iss!
4:339
Jetzt aber nimm flugs Abschied von deinen Kuehen, du Wunderlicher!
Lieblicher! ob es dir schon schwer werden mag. Denn es sind deine
waermsten Freunde und Lehrmeister!" -
4:340
"- Einen ausgenommen, den ich noch lieber habe, antwortete der
freiwillige Bettler. Du selber bist gut und besser noch als eine Kuh,
oh Zarathustra!"
4:341
"Fort, fort mit dir! du arger Schmeichler! schrie Zarathustra mit
Bosheit, was verdirbst du mich mit solchem Lob und Schmeichel-Honig?"
4:342
"Fort, fort von mir!" schrie er noch Ein Mal und schwang seinen Stock
nach dem zaertlichen Bettler: der aber lief hurtig davon.
4:343
Der Schatten
4:344
Kaum aber war der freiwillige Bettler davongelaufen und Zarathustra
wieder mit sich allein, da hoerte er hinter sich eine neue Stimme: die
rief "Halt! Zarathustra! So warte doch! Ich bin's ja, oh Zarathustra,
ich, dein Schatten!" Aber Zarathustra wartete nicht, denn ein
ploetzlicher Verdruss ueberkam ihn ob des vielen Zudrangs und
Gedraengs in seinen Bergen. "Wo ist meine Einsamkeit hin? sprach er.
4:345
Es wird mir wahrlich zu viel; diess Gebirge wimmelt, mein Reich ist
nicht mehr von _dieser_ Welt, ich brauche neue Berge.
4:346
Mein Schatten ruft mich? Was liegt an meinem Schatten! Mag er mir
nachlaufen! ich - laufe ihm davon." -
4:347
Also sprach Zarathustra zu seinem Herzen und lief davon. Aber Der,
welcher hinter ihm war, folgte ihm nach: so dass alsbald drei Laufende
hinter einander her waren, naemlich voran der freiwillige Bettler,
dann Zarathustra und zudritt und -hinterst sein Schatten. Nicht lange
liefen sie so, da kam Zarathustra zur Besinnung ueber seine Thorheit
und schuettelte mit Einem Rucke allen Verdruss und Ueberdruss von
sich.
4:348
"Wie! sprach er, geschahen nicht von je die laecherlichsten Dinge bei
uns alten Einsiedlern und Heiligen?
4:349
Wahrlich, meine Thorheit wuchs hoch in den Bergen! Nun hoere ich sechs
alte Narren-Beine hinter einander her klappern!
4:350
Darf aber Zarathustra sich wohl vor einem Schatten fuerchten? Auch
duenkt mich zu guterletzt, dass er laengere Beine hat als ich."
4:351
Also sprach Zarathustra, lachend mit Augen und Eingeweiden, blieb
stehen und drehte sich schnell herum - und siehe, fast warf er dabei
seinen Nachfolger und Schatten zu Boden: so dicht schon folgte ihm
derselbe auf den Fersen, und so schwach war er auch. Als er ihn
naemlich mit Augen pruefte, erschrak er wie vor einem ploetzlichen
Gespenste: so duenn, schwaerzlich, hohl und ueberlebt sah dieser
Nachfolger aus.
4:352
"Wer bist du? fragte Zarathustra heftig, was treibst du hier? Und
wesshalb heissest du dich meinen Schatten? Du gefaellst mir nicht."
4:353
"Vergieb mir, antwortete der Schatten, dass ich's bin; und wenn ich
dir nicht gefalle, wohlan, oh Zarathustra! darin lobe ich dich und
deinen guten Geschmack.
4:354
Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng:
immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also dass mir
wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht
ewig, und auch nicht Jude bin.
4:355
Wie? Muss ich immerdar unterwegs sein? Von jedem Winde gewirbelt,
unstaet, fortgetrieben? Oh Erde, du wardst mir zu rund!
4:356
Auf jeder Oberflaeche sass ich schon, gleich muedem Staube schlief
ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben: Alles nimmt von mir, Nichts
giebt, ich werde duenn, - fast gleiche ich einem Schatten.
4:357
Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am laengsten nach, und,
verbarg ich mich schon vor dir, so war ich doch dein bester Schatten:
wo du nur gesessen hast, sass ich auch.
4:358
Mit dir bin ich in fernsten, kaeltesten Welten umgegangen, einem
Gespenste gleich, das freiwillig ueber Winterdaecher und Schnee
laeuft.
4:359
Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn
irgend Etwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote
Furcht hatte.
4:360
Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und
Bilder warf ich um, den gefaehrlichsten Wuenschen lief ich nach, -
wahrlich, ueber jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.
4:361
Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse
Namen. Wenn der Teufel sich haeutet, faellt da nicht auch sein Name
ab? der ist naemlich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht -
Haut.
4:362
`Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt`: so sprach ich mir zu. In die
kaeltesten Wasser stuerzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft
stand ich darob nackt als rother Krebs da!
4:363
Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham und aller Glaube an die
Guten! Ach, wohin ist jene verlogne Unschuld, die ich einst besass,
die Unschuld der Guten und ihrer edlen Luegen!
4:364
Zu oft, wahrlich, folgte ich der Wahrheit dicht auf dem Fusse: da trat
sie mir vor den Kopf. Manchmal meinte ich zu luegen, und siehe! da
erst traf ich - die Wahrheit.
4:365
Zu Viel klaerte sich mir auf: nun geht es mich Nichts mehr an. Nichts
lebt mehr, das ich liebe, - wie sollte ich noch mich selber lieben?
4:366
`Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben`: so will ich's, so
will's auch der Heiligste. Aber, wehe! wie habe _ich_ noch - Lust?
4:367
Habe _ich_ - noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem _mein_ Segel laeuft?
4:368
Einen guten Wind? Ach, nur wer weiss, _wohin_ er faehrt, weiss auch,
welcher Wind gut und sein Fahrwind ist.
4:369
Was blieb mir noch zurueck? Ein Herz muede und frech; ein unstaeter
Wille; Flatter-Fluegel; ein zerbrochnes Rueckgrat.
4:370
Diess Suchen nach _meinem_ Heim: oh Zarathustra, weisst du wohl, diess
Suchen war _meine_ Heimsuchung, es frisst mich auf.
4:371
`Wo ist - _mein_ Heim?` Darnach frage und suche und suchte ich, das
fand ich nicht. Oh ewiges Ueberall, oh ewiges Nirgendwo, oh ewiges -
Umsonst!"
4:372
Also sprach der Schatten, und Zarathustra's Gesicht verlaengerte sich
bei seinen Worten. "Du bist mein Schatten! sagte er endlich, mit
Traurigkeit.
4:373
Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du
hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein
schlimmerer Abend kommt!
4:374
Solchen Unstaeten, wie du, duenkt zuletzt auch ein Gefaengniss selig.
Sahst du je, wie eingefangne Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig,
sie gemessen ihre neue Sicherheit.
4:375
Huete dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfaengt,
ein harter, strenger Wahn! Dich naemlich verfuehrt und versucht
nunmehr Jegliches, das eng und fest ist.
4:376
Du hast das Ziel verloren: wehe, wie wirst du diesen Verlust
verscherzen und verschmerzen? Damit - hast du auch den Weg verloren!
4:377
Du armer Schweifender, Schwaermender, du mueder Schmetterling! willst
du diesen Abend eine Rast und Heimstaette haben? So gehe hinauf zu
meiner Hoehle!
4:378
Dorthin fuehrt der Weg zu meiner Hoehle. Und jetzo will ich Schnell
wieder von dir davonlaufen. Schon liegt es wie ein Schatten auf mir.
4:379
Ich will allein laufen, dass es wieder hell um mich werde. Dazu muss
ich noch lange lustig auf den Beinen sein. Des Abends aber wird bei
mir - getanzt!" - -
4:380
Also sprach Zarathustra.
4:381
Mittags
4:382
- Und Zarathustra lief und lief und fand Niemanden mehr und war allein
und fand immer wieder sich und genoss und schluerfte seine Einsamkeit
und dachte an gute Dinge, - stundenlang. Um die Stunde des Mittags
aber, als die Sonne gerade ueber Zarathustra's Haupte stand, kam er an
einem alten krummen und knorrichten Baume vorbei, der von der reichen
Liebe eines Weinstocks rings umarmt und vor sich selber verborgen
war: von dem hiengen gelbe Trauben in Fuelle dem Wandernden entgegen.
Da geluestete ihn, einen kleinen Durst zu loeschen und sich eine
Traube abzubrechen; als er aber schon den Arm dazu ausstreckte, da
geluestete ihn etwas Anderes noch mehr: naemlich sich neben den Baum
niederzulegen, um die Stunde des vollkommnen Mittags, und zu schlafen.
4:383
Diess that Zarathustra; und sobald er auf dem Boden lag, in der
Stille und Heimlichkeit des bunten Grases, hatte er auch schon seinen
kleinen Durst vergessen und schlief ein. Denn, wie das Sprichwort
Zarathustra's sagt: Eins ist nothwendiger als das Andre. Nur dass
seine Augen offen blieben: - sie wurden naemlich nicht satt, den Baum
und die Liebe des Weinstocks zu sehn und zu preisen. Im Einschlafen
aber sprach Zarathustra also zu seinem Herzen:
4:384
Still! Still! Ward die Welt nicht eben vollkommen? Was geschieht mir
doch?
4:385
Wie ein zierlicher Wind, ungesehn, auf getaefeltem Meere tanzt,
leicht, federleicht: so - tanzt der Schlaf auf mir,
4:386
Kein Auge drueckt er mir zu, die Seele laesst er mir wach. Leicht ist
er, wahrlich! federleicht.
4:387
Er ueberredet mich, ich weiss nicht wie?, er betupft mich innewendig
mit schmeichelnder Hand, er zwingt mich. Ja, er zwingt mich, dass
meine Seele sich ausstreckt: -
4:388
- wie sie mir lang und muede wird, meine wunderliche Seele! Kam ihr
eines siebenten Tages Abend gerade am Mittage? Wandelte sie zu lange
schon selig zwischen guten und reifen Dingen?
4:389
Sie streckt sich lang aus, lang, - laenger! sie liegt stille, meine
wunderliche Seele. Zu viel Gutes hat sie schon geschmeckt, diese.
goldene Traurigkeit drueckt sie, sie verzieht den Mund.
4:390
- Wie ein Schiff, das in seine stillste Bucht einlief: - nun lehnt es
sich an die Erde, der langen Reisen muede und der ungewissen Meere.
Ist die Erde nicht treuer?
4:391
Wie solch ein Schiff sich dem Lande anlegt, anschmiegt: - da
genuegt's, dass eine Spinne vom Lande her zu ihm ihren Faden spinnt.
Keiner staerkeren Taue bedarf es da.
4:392
Wie solch ein muedes Schiff in der stillsten Bucht: so ruhe auch ich
nun der Erde nahe, treu, zutrauend, wartend, mit den leisesten Faeden
ihr angebunden.
4:393
Oh Glueck! Oh Glueck! Willst du wohl singen, oh meine Seele? Du liegst
im Grase. Aber das ist die heimliche feierliche Stunde, wo kein Hirt
seine Floete blaest.
4:394
Scheue dich! Heisser Mittag schlaeft auf den Fluren. Singe. nicht!
Still! Die Welt ist vollkommen.
4:395
Singe nicht, du Gras-Gefluegel, oh meine Seele! Fluestere nicht
einmal! Sieh doch - still! der alte Mittag schlaeft, er bewegt den
Mund: trinkt er nicht eben einen Tropfen Gluecks -
4:396
- einen alten braunen Tropfen goldenen Gluecks, goldenen Weins? Es
huscht ueber ihn hin, sein Glueck lacht. So - lacht ein Gott. Still! -
4:397
- "Zum Glueck, wie wenig genuegt schon zum Gluecke!" So sprach ich
einst, und duenkte mich klug. Aber es war eine Laesterung: _das_
lernte ich nun. Kluge Narrn reden besser.
4:398
Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse
Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blidk - _Wenig_ macht die
Art des _besten_ Gluecks. Still!
4:399
- Was geschah mir: Horch! Flog die Zeit wohl davon? Falle ich nicht?
Fiel ich nicht - horch! in den Brunnen der Ewigkeit?
4:400
- Was geschieht mir? Still! Es sticht mich - wehe - in's Herz? In's
Herz! Oh zerbrich, zerbrich, Herz, nach solchem Gluecke, nach solchem
Stiche!
4:401
- Wie? Ward die Welt nicht eben vollkommen? Rund und reif? Oh des
goldenen runden Reifs - wohin fliegt er wohl? Laufe ich ihm nach!
Husch!
4:402
Still - - (und hier dehnte sich Zarathustra und fuehlte, dass er
schlafe.) -
4:403
Auf! sprach er zu sich selber, du Schlaefer! Du Mittagsschlaefer!
Wohlan, wohlauf, ihr alten Beine! Zeit ist's und Ueberzeit, manch gut
Stueck Wegs blieb euch noch zurueck -
4:404
Nun schlieft ihr euch aus, wie lange doch? Eine halbe Ewigkeit!
Wohlan, wohlauf nun, mein altes Herz! Wie lange erst darfst du nach
solchem Schlaf - dich auswachen?
4:405
(Aber da schlief er schon von Neuem ein, und seine Seele sprach gegen
ihn und wehrte sich und legte sich wieder hin) - "Lass mich doch!
Still! Ward nicht die Welt eben vollkommen? Oh des goldnen runden
Balls!" -
4:406
"Steh auf, sprach Zarathustra, du kleine Diebin, du Tagediebin! Wie?
Immer noch sich strecken, gaehnen, seufzen, hinunterfallen in tiefe
Brunnen?
4:407
Wer bist du doch! Oh meine Seele!" (und hier erschrak er, denn ein
Sonnenstrahl fiel vom Himmel herunter auf sein Gesicht)
4:408
"Oh Himmel ueber mir, sprach er seufzend und setzte sich aufrecht, du
schaust mir zu? Du horchst meiner wunderlichen Seele zu?
4:409
Wann trinkst du diesen Tropfen Thau's, der auf alle Erden-Dinge
niederfiel, - wann trinkst du diese wunderliche Seele -
4:410
- wann, Brunnen der Ewigkeit! du heiterer schauerlicher
Mittags-Abgrund! wann trinkst du meine Seele in dich zurueck?"
4:411
Also sprach Zarathustra und erhob sich von seinem Lager am Baume wie
aus einer fremden Trunkenheit: und siehe, da stand die Sonne immer
noch gerade ueber seinem Haupte. Es moechte aber Einer daraus mit
Recht abnehmen, dass Zarathustra damals nicht lange geschlafen habe.
4:412
Die Begruessung
4:413
Am spaeten Nachmittage war es erst, dass Zarathustra, nach langem
umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner Hoehle heimkam.
Als er aber derselben gegenueberstand, nicht zwanzig Schritt mehr von
ihr ferne, da geschah das, was er jetzt am wenigsten erwartete: von
Neuem hoerte er den grossen _Nothschrei_. Und, erstaunlich! diess
Mal kam derselbige aus seiner eignen Hoehle. Es war aber ein langer
vielfaeltiger seltsamer Schrei, und Zarathustra unterschied deutlich,
dass er sich aus vielen Stimmen zusammensetze: mochte er schon, aus
der Ferne gehoert, gleich dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen.
4:414
Da sprang Zarathustra auf seine Hoehle zu, und siehe! welches
Schauspiel erwartete ihn erst nach diesem Hoerspiele! Denn da sassen
sie allesammt bei einander, an denen er des Tags voruebergegangen war:
der Koenig zur Rechten und der Koenig zur Linken, der alte Zauberer,
der Papst, der freiwillige Bettler, der Schatten, der Gewissenhafte
des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel; der haesslichste
Mensch aber hatte sich eine Krone aufgesetzt und zwei Purpurguertel
umgeschlungen, - denn er liebte es, gleich allen Haesslichen, sich
zu verkleiden und schoen zu thun. Inmitten aber dieser betruebten
Gesellschaft stand der Adler Zarathustra's, gestraeubt und unruhig,
denn er sollte auf zu Vieles antworten, wofuer sein Stolz keine
Antwort hatte; die kluge Schlange aber hieng um seinen Hals.
4:415
Diess Alles schaute Zarathustra mit grosser Verwunderung; dann pruefte
er jeden Einzelnen seiner Gaeste mit leutseliger Neugierde, las ihre
Seelen ab und wunderte sich von Neuem. Inzwischen hatten sich die
Versammelten von ihren Sitzen erhoben und warteten mit Ehrfurcht, dass
Zarathustra reden werde. Zarathustra aber sprach also:
4:416
"Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen! Ich hoerte also _euren_
Nothschrei? Und nun weiss ich auch, wo Der zu suchen ist, den ich
umsonst heute suchte: der hoehere Mensch -:
4:417
- in meiner eignen Hoehle sitzt er, der hoehere Mensch! Aber was
wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt durch
Honig-Opfer und listige Lockrufe meines Gluecks?
4:418
Doch duenkt mir, ihr taugt euch schlecht zur Gesellschaft, ihr macht
einander das Herz unwirsch, ihr Nothschreienden, wenn ihr hier
beisammen sitzt? Es muss erst Einer kommen,
4:419
- Einer, der euch wieder lachen macht, ein guter froehlicher
Hanswurst, ein Taenzer und Wind und Wildfang, irgend ein alter Narr: -
was duenket euch?
4:420
Vergebt mir doch, ihr Verzweifelnden, dass ich vor euch mit solch
kleinen Worten rede, unwuerdig, wahrlich!, solcher Gaeste! Aber ihr
errathet nicht, _was_ mein Herz muthwillig macht: -
4:421
- ihr selber thut es und euer Anblick, vergebt es mir! Jeder naemlich
wird muthig, der einem Verzweifelnden zuschaut. Einem Verzweifelnden
zuzusprechen - dazu duenkt sich jeder stark genug.
4:422
Mir selber gabt ihr diese Kraft, - eine gute Gabe, meine hohen Gaeste!
Ein rechtschaffnes Gastgeschenk! Wohlan, so zuernt nun nicht, dass ich
euch auch vom Meinigen anbiete.
4:423
Diess hier ist mein Reich und meine Herrschaft: was aber mein ist,
fuer diesen Abend und diese Nacht soll es euer sein. Meine Thiere
sollen euch dienen: meine Hoehle sei eure Ruhestatt!
4:424
Bei mir zu Heim-und-Hause soll Keiner verzweifeln, in meinem Reviere
schuetze ich jeden vor seinen wilden Thieren. Und das ist das Erste,
was ich euch anbiete: Sicherheit!
4:425
Das Zweite aber ist: mein kleiner Finger. Und habt ihr _den_ erst, so
nehmt nur noch die ganze Hand, wohlan! und das Herz dazu! Willkommen
hier, willkommen, meine Gastfreunde!"
4:426
Also sprach Zarathustra und lachte vor Liebe und Bosheit. Nach dieser
Begruessung verneigten sich seine Gaeste abermals und schwiegen
ehrfuerchtig; der Koenig zur Rechten aber antwortete ihm in ihrem
Namen.
4:427
"Daran, oh Zarathustra, wie du uns Hand und Gruss botest, erkennen wir
dich als Zarathustra. Du erniedrigtest dich vor uns; fast thatest du
unserer Ehrfurcht wehe -:
4:428
- wer aber vermochte gleich dir sich mit solchem Stolze zu
erniedrigen? _Das_ richtet uns selber auf, ein Labsal ist es unsern
Augen und Herzen.
4:429
Diess allein nur zu schaun, stiegen gern wir auf hoehere Berge, als
dieser Berg ist. Als Schaulustige naemlich kamen wir, wir wollten
sehn, was truebe Augen hell macht.
4:430
Und siehe, schon ist es vorbei mit allem unsern Nothschrein. Schon
steht Sinn und Herz uns offen und ist entzueckt. Wenig fehlt: und
unser Muth wird muthwillig.
4:431
Nichts, oh Zarathustra, waechst Erfreulicheres auf Erden, als ein
hoher starker Wille: der ist ihr schoenstes Gewaechs. Eine ganze
Landschaft erquickt sich an Einem solchen Baume.
4:432
Der Pinie vergleiche ich, wer gleich dir, oh Zarathustra, aufwaechst:
lang, schweigend, hart, allein, besten biegsamsten Holzes, herrlich, -
4:433
- zuletzt aber hinausgreifend mit starken gruenen Aesten nach _seiner_
Herrschaft, starke Fragen fragend vor Winden und Wettern und was immer
auf Hoehen heimisch ist,
4:434
- staerker antwortend, ein Befehlender, ein Siegreicher: oh wer sollte
nicht, solche Gewaechse zu schaun, auf hohe Berge steigen?
4:435
Deines Baumes hier, oh Zarathustra, erlabt sich auch der Duestere,
der Missrathene, an deinem Anblicke wird auch der Unstaete sicher und
heilt sein Herz.
4:436
Und wahrlich, zu deinem Berge und Baume richten sich heute viele
Augen; eine grosse Sehnsucht hat sich aufgemacht, und Manche lernten
fragen: wer ist Zarathustra?
4:437
Und wem du jemals dein Lied und deinen Honig in's Ohr getraeufelt:
alle die Versteckten, die Einsiedler, die Zweisiedler sprachen mit
Einem Male zu ihrem Herzen:
4:438
`Lebt Zarathustra noch? Es lohnt sich nicht mehr zu leben, Alles ist
gleich, Alles ist umsonst: oder - wir muessen mit Zarathustra leben!`
4:439
`Warum kommt er nicht, der sich so lange ankuendigte? also fragen
Viele; verschlang ihn die Einsamkeit? Oder sollen wir wohl zu ihm
kommen?`
4:440
Nun geschieht's, dass die Einsamkeit selber muerbe wird und zerbricht,
einem Grabe gleich, das zerbricht und seine Todten nicht mehr halten
kann. Ueberall sieht man Auferstandene.
4:441
Nun steigen und steigen die Wellen um deinen Berg, oh Zarathustra.
Und wie hoch auch deine Hoehe ist, Viele muessen zu dir hinauf; dein
Nachen soll nicht lange mehr im Trocknen sitzen.
4:442
Und dass wir Verzweifelnde jetzt in deine Hoehle kamen und schon nicht
mehr verzweifeln: ein Wahr- und Vorzeichen ist es nur, davon, dass
Bessere zu dir unterwegs sind, -
4:443
- denn er selber ist zu dir unterwegs, der letzte Rest Gottes unter
Menschen, das ist: alle die Menschen der grossen Sehnsucht, des
grossen Ekels, des grossen Ueberdrusses,
4:444
- Alle, die nicht leben wollen, oder sie lernen wieder _hoffen_ - oder
sie lernen von dir, oh Zarathustra, die _grosse_ Hoffnung!"
4:445
Also sprach der Koenig zur Rechten und ergriff die Hand Zarathustra's,
um sie zu kuessen; aber Zarathustra wehrte seiner Verehrung und trat
erschreckt zurueck, schweigend und ploetzlich wie in weite Fernen
entfliehend. Nach einer kleinen Weile aber war er schon wieder bei
seinen Gaesten, blickte sie mit hellen, pruefenden Augen an und
sprach:
4:446
Meine Gaeste, ihr hoeheren Menschen, ich will deutsch und deutlich mit
euch reden. Nicht auf _euch_ wartete ich hier in diesen Bergen.
4:447
("Deutsch und deutlich? Dass Gott erbarm! sagte hier der Koenig zur
Linken, bei Seite; man merkt, er kennt die lieben Deutschen nicht,
dieser Weise aus dem Morgenlande!
4:448
Aber er meint `deutsch und derb` - wohlan! Das ist heutzutage noch
nicht der schlimmste Geschmack!")
4:449
"Ihr moegt wahrlich insgesammt hoehere Menschen sein, fuhr Zarathustra
fort: aber fuer mich - seid ihr nicht hoch und stark genug.
4:450
Fuer mich, das heisst: fuer das Unerbittliche, das in mir schweigt,
aber nicht immer schweigen wird. Und gehoert ihr zu mir, so doch nicht
als mein rechter Arm.
4:451
Wer naemlich selber auf kranken und zarten Beinen steht, gleich
euch, der will vor Allem, ob er's weiss oder sich verbirgt: dass er
_geschont_ werde.
4:452
Meine Arme und meine Beine aber schone ich nicht, ich schone meine
Krieger nicht: wieso koenntet ihr zu _meinem_ Kriege taugen?
4:453
Mit euch verduerbe ich mir jeden Sieg noch. Und Mancher von euch fiele
schon um, wenn er nur den lauten Schall meiner Trommeln hoerte.
4:454
Auch seid ihr mir nicht schoen genug und wohlgeboren. Ich brauche
reine glatte Spiegel fuer meine Lehren; auf eurer Oberflaeche verzerrt
sich noch mein eignes Bildniss.
4:455
Eure Schultern drueckt manche Last, manche Erinnerung; manch schlimmer
Zwerg hockt in euren Winkeln. Es giebt verborgenen Poebel auch in
euch.
4:456
Und seid ihr auch hoch und hoeherer Art: Vieles an euch ist krumm und
missgestalt. Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir zurecht und
gerade schluege.
4:457
Ihr seid nur Bruecken: moegen Hoehere auf euch hinueber schreiten! Ihr
bedeutet Stufen: so zuernt Dem nicht, der ueber euch hinweg in _seine_
Hoehe steigt!
4:458
Aus eurem Samen mag auch mir einst ein aechter Sohn und vollkommener
Erbe wachsen: aber das ist ferne. Ihr selber seid Die nicht, welchen
mein Erbgut und Name zugehoert.
4:459
Nicht auf euch warte ich hier in diesen Bergen, nicht mit euch darf
ich zum letzten Male niedersteigen. Als Vorzeichen kamt ihr mir nur,
dass schon Hoehere zu mir unterwegs sind, -
4:460
- _nicht_ die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels, des
grossen Ueberdrusses und Das, was ihr den Ueberrest Gottes nanntet.
4:461
- Nein! Nein! Drei Mal Nein! Auf _Andere_ warte ich hier in diesen
Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben,
4:462
- auf Hoehere, Staerkere, Sieghaftere, Wohlgemuthere, Solche, die
rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: _lachende_Loewen_ muessen
kommen!
4:463
Oh, meine Gastfreunde, ihr Wunderlichen, - hoertet ihr noch Nichts von
meinen Kindern? Und dass sie zu mir unterwegs sind?
4:464
Sprecht mir doch von meinen Gaerten, von meinen glueckseligen Inseln,
von meiner neuen schoenen Art, - warum sprecht ihr mir nicht davon?
4:465
Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass ihr mir von
meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm: was
gab ich nicht hin,
4:466
- was gaebe ich nicht hin, dass ich Eins haette: _diese_ Kinder,
_diese_ lebendige Pflanzung, _diese_ Lebensbaeume meines Willens und
meiner hoechsten Hoffnung!"
4:467
Also sprach Zarathustra und hielt ploetzlich inne in seiner Rede: denn
ihn ueberfiel seine Sehnsucht, und er schloss Augen und Mund vor der
Bewegung seines Herzens. Und auch alle seine Gaeste schwiegen und
standen still und bestuerzt: nur dass der alte Wahrsager mit Haenden
und Gebaerden Zeichen gab.
4:468
Das Abendmahl
4:469
An dieser Stelle naemlich unterbrach der Wahrsager die Begruessung
Zarathustra's und seiner Gaeste: er draengte sich vor, wie Einer, der
keine Zeit zu verlieren hat, fasste die Hand Zarathustra's und rief:
"Aber Zarathustra!
4:470
Eins ist nothwendiger als das Andre, so redest du selber: wohlan, Eins
ist _mir_ jetzt nothwendiger als alles Andere.
4:471
Ein Wort zur rechten Zeit: hast du mich nicht zum _Mahle_ eingeladen?
Und hier sind viele, die lange Wege machten. Du willst uns doch nicht
mit Reden abspeisen?
4:472
Auch gedachtet ihr Alle mir schon zu viel des Erfrierens, Ertrinkens,
Erstickens und andrer Leibes-Nothstaende: Keiner aber gedachte
_meines_ Nothstandes, naemlich des Verhungerns -"
4:473
(Also sprach der Wahrsager; wie die Thiere Zarathustra's aber diese
Worte hoerten, liefen sie vor Schrecken davon. Denn sie sahen, dass
was sie auch am Tage heimgebracht hatten, nicht genug sein werde, den
Einen Wahrsager zu stopfen.)
4:474
"Eingerechnet das Verdursten, fuhr der Wahrsager fort. Und ob ich
schon Wasser hier plaetschern hoere, gleich Reden der Weisheit,
naemlich reichlich und unermuedlich: ich - will _Wein_!
4:475
Nicht jeder ist gleich Zarathustra ein geborner Wassertrinker. Wasser
taugt auch nicht fuer Muede und Verwelkte: _uns_ gebuehrt Wein, -
_der_ erst giebt ploetzliches Genesen und stegreife Gesundheit!"
4:476
Bei dieser Gelegenheit, da der Wahrsager nach Wein begehrte, geschah
es, dass auch der Koenig zur Linken, der Schweigsame, einmal zu Worte
kam. "Fuer Wein, sprach er, trugen _wir_ Sorge, ich sammt meinem
Bruder, dem Koenige zur Rechten: wir haben Weins genug, - einen ganzen
Esel voll. So fehlt Nichts als Brod."
4:477
"Brod? entgegnete Zarathustra und lachte dazu. Nur gerade Brod haben
Einsiedler nicht. Aber der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern
auch vom Fleische guter Laemmer, deren ich zwei habe:
4:478
- _Die_ soll man geschwinde schlachten und wuerzig, mit Salbei,
zubereiten: so liebe ich's. Und auch an Wurzeln und Fruechten fehlt
es nicht, gut genug selbst fuer Lecker- und Schmeckerlinge; noch an
Nuessen und andern Raethseln zum Knacken.
4:479
Also wollen wir in Kuerze eine gute Mahlzeit machen. Wer aber mit
essen will, muss auch mit Hand anlegen, auch die Koenige. Bei
Zarathustra naemlich darf auch ein Koenig Koch sein."
4:480
Mit diesem Vorschlage war Allen nach dem Herzen geredet: nur dass der
freiwillige Bettler sich gegen Fleisch und Wein und Wuerzen straeubte.
4:481
"Nun hoert mir doch diesen Schlemmer Zarathustra! sagte er scherzhaft:
geht man dazu in Hoehlen und Hoch-Gebirge, dass man solche Mahlzeiten
macht?
4:482
Nun freilich verstehe ich, was er einst uns lehrte: `Gelobt sei die
kleine Armuth!` Und warum er die Bettler abschaffen will."
4:483
"Sei guter Dinge, antwortete ihm Zarathustra, wie ich es bin. Bleibe
bei deiner Sitte, du Trefflicher, malme deine Koerner, trink dein
Wasser, lobe deine Kueche: wenn sie dich nur froehlich macht!
4:484
Ich bin ein Gesetz nur fuer die Meinen, ich bin kein Gesetz fuer Alle.
Wer aber zu mir gehoert, der muss von starken Knochen sein, auch von
leichten Fuessen, -
4:485
- lustig zu Kriegen und Festen, kein Duesterling, kein Traum-Hans,
bereit zum Schwersten wie zu seinem Feste, gesund und heil.
4:486
Das Beste gehoert den Meinen und mir; und giebt man's uns nicht, so
nehmen wir's: - die beste Nahrung, den reinsten Himmel, die staerksten
Gedanken, die schoensten Fraun!" -
4:487
Also sprach Zarathustra; der Koenig zur Rechten aber entgegnete:
"Seltsam! Vernahm man je solche kluge Dinge aus dem Munde eines
Weisen?
4:488
Und wahrlich, das ist das Seltsamste an einem Weisen, wenn er zu
alledem auch noch klug und kein Esel ist."
4:489
Also sprach der Koenig zur Rechten und wunderte sich; der Esel aber
sagte zu seiner Rede mit boesem Willen I-A. Diess aber war der
Anfang von jener langen Mahlzeit, welche "das Abendmahl" in den
Historien-Buechern genannt wird. Bei derselben aber wurde von nichts
Anderem geredet als _vom_hoeheren_Menschen_.
4:490
Vom hoeheren Menschen
4:491
hp 1.
4:492
Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die
Einsiedler-Thorheit, die grosse Thorheit: ich stellte mich auf den
Markt.
4:493
Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. Des Abends aber
waren Seiltaenzer meine Genossen, und Leichname; und ich selber fast
ein Leichnam.
4:494
Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lernte ich
sprechen "Was geht mich Markt und Poebel und Poebel-Laerm und lange
Poebel-Ohren an!"
4:495
Ihr hoeheren Menschen, Diess lernt von mir: auf dem Markt glaubt
Niemand an hoehere Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der
Poebel aber blinzelt "wir sind Alle gleich."
4:496
"Ihr hoeheren Menschen, - so blinzelt der Poebel - es giebt keine
hoeheren Menschen, wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott -
sind wir Alle gleich!"
4:497
Vor Gott! - Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Poebel aber wollen wir
nicht gleich sein. Ihr hoeheren Menschen, geht weg vom Markt!
4:498
hp 2.
4:499
Vor Gott! - Nun aber starb dieser Gott! Ihr hoeheren Menschen, dieser
Gott war eure groesste Gefahr.
4:500
Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst
kommt der grosse Mittag, nun erst wird der hoehere Mensch - Herr!
4:501
Verstandet ihr diess Wort, oh meine Brueder? Ihr seid erschreckt: wird
euren Herzen schwindlig? Klafft euch hier der Abgrund? Klaefft euch
hier der Hoellenhund?
4:502
Wohlan! Wohlauf! Ihr hoeheren Menschen! Nun erst kreisst der Berg der
Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen _wir_, - dass der Uebermensch
lebe.
4:503
hp 3.
4:504
Die Sorglichsten fragen heute: "wie bleibt der Mensch erhalten?"
Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: "wie wird der Mensch
_ueberwunden_?"
4:505
Der Uebermensch liegt mir am Herzen, _der_ ist mein Erstes und
Einziges, - und _nicht_ der Mensch: nicht der Naechste, nicht der
Aermste, nicht der Leidendste, nicht der Beste -
4:506
Oh meine Brueder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er
ein Uebergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist vieles, das
mich lieben und hoffen macht.
4:507
Dass ihr verachtetet, ihr hoeheren Menschen, das macht mich hoffen.
Die grossen Verachtenden naemlich sind die grossen Verehrenden.
4:508
Dass ihr verzweifeltet, daran ist Viel zu ehren. Denn ihr lerntet
nicht, wie ihr euch ergaebet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten
nicht.
4:509
Heute naemlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen Alle
Ergebung und Bescheidung und Klugheit und Fleiss und Ruecksicht und
das lange Und-so-weiter der kleinen Tugenden.
4:510
Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich
der Poebel-Mischmasch: _Das_ will nun Herr werden alles
Menschen-Schicksals - oh Ekel! Ekel! Ekel!
4:511
_Das_ fraegt und fraegt und wird nicht muede: "Wie erhaelt sich der
Mensch, am besten, am laengsten, am angenehmsten?" Damit - sind sie
die Herrn von Heute.
4:512
Diese Herrn von Heute ueberwindet mir, oh meine Brueder, - diese
kleinen Leute: _die_ sind des Uebermenschen groesste Gefahr!
4:513
Ueberwindet mir, ihr hoeheren Menschen, die kleinen Tugenden,
die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Ruecksichten, den
Ameisen-Kribbelkram, das erbaermliche Behagen, das "Glueck der
Meisten" -!
4:514
Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und, wahrlich, ich
liebe euch dafuer, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr hoeheren
Menschen! So naemlich lebt _ihr_ - am Besten!
4:515
hp 4.
4:516
Habt ihr Muth, oh meine Brueder? Seid ihr herzhaft? _Nicht_ Muth vor
Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Muth, dem auch kein Gott mehr
zusieht?
4:517
Kalte Seelen, Maulthiere, Blinde, Trunkene heissen mir nicht herzhaft.
Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht _zwingt_, er den Abgrund
sieht, aber mit _Stolz_.
4:518
Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, wer mit Adlers-Krallen
den Abgrund _fasst_: Der hat Muth. - -
4:519
hp 5.
4:520
"Der Mensch ist boese" - so sprachen mir zum Troste alle Weisesten.
Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Boese ist des Menschen
beste Kraft.
4:521
"Der Mensch muss besser und boeser werden" - so lehre _ich_. Das
Boeseste ist noethig zu des Uebermenschen Bestem.
4:522
Das mochte gut sein fuer jenen Prediger der kleinen Leute, dass er
litt und trug an des Menschen Suende. Ich aber erfreue mich der
grossen Suende als meines grossen _Trostes_. -
4:523
Solches ist aber nicht fuer lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort gehoert
auch nicht in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach denen
sollen nicht Schafs-Klauen greifen!
4:524
hp 6.
4:525
Ihr hoeheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was ihr
schlecht machtet?
4:526
Oder ich wollte fuerderhin euch Leidende bequemer betten? Oder euch
Unstaeten, Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fusssteige zeigen?
4:527
Nein! Nein! Drei Mal Nein! Immer Mehr, immer Bessere eurer Art sollen
zu Grunde gehn, - denn ihr sollt es immer schlimmer und haerter haben.
So allein -
4:528
- so allein waechst der Mensch in _die_ Hoehe, wo der Blitz ihn trifft
und zerbricht: hoch genug fuer den Blitz!
4:529
Auf Weniges, auf Langes, auf Fernes geht mein Sinn und meine
Sehnsucht: was gienge mich euer kleines, vieles, kurzes Elend an!
4:530
Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet
noch nicht _am_Menschen_. Ihr wuerdet luegen, wenn ihr's anders
sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran ich litt. - -
4:531
hp 7.
4:532
Es ist mir nicht genug, dass der Blitz nicht mehr schadet. Nicht
ableiten will ich ihn: er soll lernen fuer _mich_ - arbeiten. -
4:533
Meine Weisheit sammlet sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird
stiller und dunkler. So thut jede Weisheit, welche _einst_ Blitze
gebaeren soll. -
4:534
Diesen Menschen von Heute will ich nicht _Licht_ sein, nicht Licht
heissen. _Die_ - will ich blenden: Blitz meiner Weisheit! Stich ihnen
die Augen aus!
4:535
hp 8.
4:536
Wollt Nichts ueber euer Vermoegen: es giebt eine schlimme Falschheit
bei Solchen, die ueber ihr Vermoegen wollen.
4:537
Sonderlich, wenn sie grosse Dinge wollen! Denn sie wecken Misstrauen
gegen grosse Dinge, diese feinen Falschmuenzer und Schauspieler: -
4:538
- bis sie endlich falsch vor sich selber sind, schielaeugig,
uebertuenchter Wurmfrass, bemaentelt durch starke Worte, durch
Aushaenge-Tugenden, durch glaenzende falsche Werke.
4:539
Habt da eine gute Vorsicht, ihr hoeheren Menschen! Nichts naemlich
gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit.
4:540
Ist diess Heute nicht des Poebels? Poebel aber weiss nicht, was gross,
was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der
luegt immer.
4:541
hp 9.
4:542
Habt heute ein gutes Misstrauen, ihr hoeheren Menschen, ihr Beherzten!
Ihr Offenherzigen! Und haltet eure Gruende geheim! Diess Heute
naemlich ist des Poebels.
4:543
Was der Poebel ohne Gruende einst glauben lernte, wer koennte ihm
durch Gruende Das - umwerfen?
4:544
Und auf dem Markte ueberzeugt man mit Gebaerden. Aber Gruende machen
den Poebel misstrauisch.
4:545
Und wenn da einmal Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch Mit gutem
Misstrauen: "welch starker Irrthum hat fuer sie gekaempft?"
4:546
Huetet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch: denn sie sind
unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete Augen, vor ihnen liegt jeder
Vogel entfedert.
4:547
Solche bruesten sich damit, dass sie nicht luegen: aber Ohnmacht zur
Luege ist lange noch nicht Liebe zur Wahrheit. Huetet euch!
4:548
Freiheit von Fieber ist lange noch nicht Erkenntniss! Ausgekaelteten
Geistern glaube ich nicht. Wer nicht luegen kann, weiss nicht, was
Wahrheit ist.
4:549
hp 10.
4:550
Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht
empor _tragen_, setzt euch nicht auf fremde Ruekken und Koepfe!
4:551
Du aber stiegst zu Pferde? Du reitest nun hurtig hinauf zu deinem
Ziele? Wohlan, mein Freund! Aber dein lahmer Fuss sitzt auch mit zu
Pferde!
4:552
Wenn du an deinem Ziele bist, wenn du von deinem Pferde springst: auf
deiner _Hoehe_ gerade, du hoeherer Mensch - wirst du stolpern!
4:553
hp 11.
4:554
Ihr Schaffenden, ihr hoeheren Menschen! Man ist nur fuer das eigne
Kind schwanger.
4:555
Lasst euch Nichts vorreden, einreden! Wer ist denn _euer_ Naechster?
Und handelt ihr auch "fuer den Naechsten", - ihr schafft doch nicht
fuer ihn!
4:556
Verlernt mir doch diess "Fuer", ihr Schaffenden: eure Tugend gerade
will es, dass ihr kein Ding mit "fuer" und "um" und "weil" thut. Gegen
diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben.
4:557
Das "fuer den Naechsten" ist die Tugend nur der kleinen Leute: da
heisst es "gleich und gleich" und "Hand waescht Hand": - sie haben
nicht Recht noch Kraft zu _eurem_ Eigennutz!
4:558
In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht und
Vorsehung! Was Niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und
schont und naehrt eure ganze Liebe.
4:559
Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure ganze
Tugend! Euer Werk, euer Wille ist _euer_ "Naechster": lasst euch keine
falschen Werthe einreden!
4:560
hp 12.
4:561
Ihr Schaffenden, ihr hoeheren Menschen! Wer gebaeren muss, der ist
krank; wer aber geboren hat, ist unrein.
4:562
Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es Vergnuegen macht. Der
Schmerz macht Huehner und Dichter gackern.
4:563
Ihr Schaffenden, an euch ist viel Unreines. Das macht, ihr musstet
Muetter sein.
4:564
Ein neues Kind: oh wie viel neuer Schmutz kam auch zur Welt! Geht bei
Seite! Und wer geboren hat, soll seine Seele rein waschen!
4:565
hp 13.
4:566
Seid nicht tugendhaft ueber eure Kraefte! Und wollt Nichts von euch
wider die Wahrscheinlichkeit!
4:567
Geht in den Fusstapfen, wo schon eurer Vaeter Tugend gierig! Wie
wolltet ihr hoch steigen, wenn nicht eurer Vaeter Wille mit euch
steigt?
4:568
Wer aber Erstling sein will, sehe zu, dass er nicht auch Letztling
werde! Und wo die Laster eurer Vaeter sind, darin sollt ihr nicht
Heilige bedeuten wollen!
4:569
Wessen Vaeter es mit Weibern hielten und mit starken Weinen und
Wildschweinen: was waere es, wenn Der von sich Keuschheit wollte?
4:570
Eine Narrheit waere es! Viel, wahrlich, duenkt es mich fuer einen
Solchen, wenn er Eines oder zweier oder dreier Weiber Mann ist.
4:571
Und stiftete er Kloester und schriebe ueber die Thuer: "der Weg zum
Heiligen," - ich spraeche doch: wozu! es ist eine neue Narrheit!
4:572
Er stiftete sich selber ein Zucht- und Fluchthaus: wohl bekomm's! Aber
ich glaube nicht daran.
4:573
In der Einsamkeit waechst, was Einer in sie bringt, auch das innere
Vieh. Solchergestalt widerraeth sich Vielen die Einsamkeit.
4:574
Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wuesten-Heilige? _Um_die_
herum war nicht nur der Teufel los, - sondern auch das Schwein.
4:575
hp 14.
4:576
Scheu, beschaemt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung
missrieth: also, ihr hoeheren Menschen, sah ich oft euch bei Seite
schleichen. Ein _Wurf_ missrieth euch.
4:577
Aber, ihr Wuerfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen
und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht immer
an einem grossen Spott- und Spieltische?
4:578
Und wenn euch Grosses missrieth, seid ihr selber darum - missrathen?
Und missriethet ihr selber, missrieth darum - der Mensch? Missrieth
aber der Mensch: wohlan! wohlauf!
4:579
hp 15.
4:580
Je hoeher von Art, je seltener geraeth ein Ding. Ihr hoeheren Menschen
hier, seid ihr nicht alle - missgerathen?
4:581
Seid guten Muths, was liegt daran! Wie Vieles ist noch moeglich! Lernt
ueber euch selber lachen, wie man lachen muss!
4:582
Was Wunders auch, dass ihr missriethet und halb geriethet, ihr
Halb-Zerbrochenen! Draengt und stoesst sich nicht in euch - des
Menschen _Zukunft_?
4:583
Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Hoechstes, seine ungeheure
Kraft: schaeumt Das nicht alles gegen einander in eurem Topfe?
4:584
Was Wunders, dass mancher Topf zerbricht! Lernt ueber euch lachen,
wie man lachen muss! Ihr hoeheren Menschen, oh wie Vieles ist noch
moeglich!
4:585
Und wahrlich, wie Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an
kleinen guten vollkommenen Dingen, an Wohlgerathenem!
4:586
Stellt kleine gute vollkommne Dinge um euch, ihr hoeheren Menschen!
Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommnes lehrt hoffen.
4:587
hp 16.
4:588
Welches war hier auf Erden bisher die groesste Suende? War es nicht
das Wort Dessen, der sprach: "Wehe Denen, die hier lachen!"
4:589
Fand er zum Lachen auf der Erde selber keine Gruende? So suchte er nur
schlecht. Ein Kind findet hier noch Gruende.
4:590
Der - liebte nicht genug: sonst haette er auch uns geliebt, die
Lachenden! Aber er hasste und hoehnte uns, Heulen und Zaehneklappern
verhiess er uns.
4:591
Muss man denn gleich fluchen, wo man nicht liebt? Das - duenkt mich
ein schlechter Geschmack. Aber so that er, dieser Unbedingte. Er kam
vom Poebel.
4:592
Und er selber liebte nur nicht genug: sonst haette er weniger
gezuernt, dass man ihn nicht liebe. Alle grosse Liebe _will_ nicht
Liebe: - die will mehr.
4:593
Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Das ist eine arme kranke
Art, eine Poebel-Art: sie sehn schlimm diesem Leben zu, sie haben den
boesen Blick fuer diese Erde.
4:594
Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Sie haben Schwere Fuesse
und schwuele Herzen: - sie wissen nicht zu tanzen. Wie moechte Solchen
wohl die Erde leicht sein!
4:595
hp 17.
4:596
Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe. Gleich Katzen machen
sie Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Gluecke, - alle
guten Dinge lachen.
4:597
Der Schritt verraeth, ob Einer schon auf _seiner_ Bahn schreitet: so
seht mich gehn! Wer aber seinem Ziel nahe kommt, der tanzt.
4:598
Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht da,
starr, stumpf, steinern, eine Saeule; ich liebe geschwindes Laufen.
4:599
Und wenn es auf Erden auch Moor und dicke Truebsal giebt: wer leichte
Fuesse hat, laeuft ueber Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf
gefegtem Eise.
4:600
Erhebt eure Herzen, meine Brueder, hoch! hoeher! Und vergesst mir auch
die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Taenzer, und besser
noch: ihr steht auch auf dem Kopf!
4:601
hp 18.
4:602
Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte
mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelaechter. Keinen
Anderen fand ich heute stark genug dazu.
4:603
Zarathustra der Taenzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Fluegeln
winkt, ein Flugbereiter, allen Voegeln zuwinkend, bereit und fertig,
ein Selig-Leichtfertiger: -
4:604
Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein
Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Spruenge und Seitenspruenge
liebt; ich selber setzte mir diese Krone auf!
4:605
hp 19.
4:606
Erhebt eure Herzen, meine Brueder, hoch! hoeher! Und vergesst mir auch
die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Taenzer, und besser
noch: ihr steht auch auf dem Kopf!
4:607
Es giebt auch im Glueck schweres Gethier, es giebt Plumpfuessler von
Anbeginn. Wunderlich mueht sie sich ab, einem Elephanten gleich, der
sich mueht auf dem Kopf zu stehn.
4:608
Besser aber noch naerrisch sein vor Gluecke als naerrisch vor
Ungluecke, besser plump tanzen als lahm gehn. So lernt mir doch meine
Weisheit ab: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten, -
4:609
- auch das schlimmste Ding hat gute Tanzbeine: so lernt mir doch euch
selbst, ihr hoeheren Menschen, auf eure rechten Beine stellen!
4:610
So verlernt mir doch Truebsal-Blasen und alle Poebel-Traurigkeit! Oh
wie traurig duenken mich heute des Poebels Hanswuerste noch! Diess
Heute aber ist des Poebels.
4:611
hp 20.
4:612
Dem Winde thut mir gleich, wenn er aus seinen Berghoehlen stuerzt:
nach seiner eignen Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und
huepfen unter seinen Fusstapfen.
4:613
Der den Eseln Fluegel giebt, der Loewinnen melkt, gelobt sei dieser
gute unbaendige Geist, der allem Heute und allem Poebel wie ein
Sturmwind kommt, -
4:614
- der Distel- und Tiftelkoepfen feind ist und allen welken Blaettern
und Unkraeutern: gelobt sei dieser wilde gute freie Sturmgeist,
welcher auf Mooren und Truebsalen wie auf Wiesen tanzt!
4:615
Der die Poebel-Schwindhunde hasst und alles missrathene duestere
Gezuecht: gelobt sei dieser Geist aller freien Geister, der lachende
Sturm, welcher allen Schwarzsichtigen, Schwaersuechtigen Staub in die
Augen blaest!
4:616
Ihr hoeheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht
tanzen, wie man tanzen muss - ueber euch hinweg tanzen! Was liegt
daran, dass ihr missriethet!
4:617
Wie Vieles ist noch moeglich! So _lernt_ doch ueber euch hinweg
lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Taenzer, hoch! hoeher! Und
vergesst mir auch das gute Lachen nicht!
4:618
Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen
Bruedern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr
hoeheren Menschen, _lernt_ mir - lachen!
4:619
Das Lied der Schwermuth
4:620
hp 1.
4:621
Als Zarathustra diese Reden sprach, stand er nahe dem Eingange seiner
Hoehle; mit den letzten Worten aber entschluepfte er seinen Gaesten
und floh fuer eine kurze Weile in's Freie.
4:622
"Oh reine Gerueche um mich, rief er aus, oh selige Stille um mich!
Aber wo sind meine Thiere? Heran, heran, mein Adler und meine
Schlange!
4:623
Sagt mir doch, meine Thiere: diese hoeheren Menschen insgesammt -
_riechen_ sie vielleicht nicht gut? Oh reine Gerueche um mich! Jetzo
weiss und fuehle ich erst, wie ich euch, meine Thiere, liebe."
4:624
- Und Zarathustra sprach nochmals: "ich liebe euch, meine Thiere!" Der
Adler aber und die Schlange draengten sich an ihn, als er diese Worte
sprach, und sahen zu ihm hinauf. Solchergestalt waren sie zu drei
still beisammen und schnueffelten und schluerften mit einander die
gute Luft. Denn die Luft war hier draussen besser als bei den hoeheren
Menschen.
4:625
hp 2.
4:626
Kaum aber hatte Zarathustra seine Hoehle verlassen, da erhob sich der
alte Zauberer, sah listig umher und sprach: "Er ist hinaus!
4:627
Und schon, ihr hoeheren Menschen - dass ich euch mit diesem Lob- und
Schmeichel-Namen kitzle, gleich ihm selber - schon faellt mich mein
schlimmer Trug- und Zaubergeist an, mein schwermuethiger Teufel,
4:628
- welcher diesem Zarathustra ein Widersacher ist aus dem Grunde:
vergebt es ihm! Nun will er vor euch zaubern, er hat gerade _seine_
Stunde; umsonst ringe ich mit diesem boesen Geiste.
4:629
Euch Allen, welche Ehren ihr euch mit Worten geben moegt, ob ihr
euch `die freien Geister` nennt oder `die Wahrhaftigen` oder `die
Buesser des Geistes` oder `die Entfesselten` oder `die grossen
Sehnsuechtigen` -
4:630
- euch Allen, die ihr _am_grossen_Ekel_ leidet gleich mir, denen der
alte Gott starb und noch kein neuer Gott in Wiegen und Windeln liegt,
- euch Allen ist mein boeser Geist und Zauber-Teufel hold.
4:631
Ich kenne euch, ihr hoeheren Menschen, ich kenne ihn, - ich kenne auch
diesen Unhold, den ich wider Willen liebe, diesen Zarathustra: er
selber duenkt mich oefter gleich einer schoenen Heiligen-Larve,
4:632
- gleich einem neuen wunderlichen Mummenschanze, in dem sich mein
boeser Geist, der schwermuethige Teufel, gefaellt: - ich liebe
Zarathustra, so duenkt mich oft, um meines boesen Geistes Willen. -
4:633
Aber schon faellt _der_ mich an und zwingt mich, dieser Geist der
Schwermuth, dieser Abend-Daemmerungs-Teufel: und, wahrlich, ihr
hoeheren Menschen, es geluestet ihn -
4:634
- macht nur die Augen auf! - es geluestet ihn, _nackt_ zu kommen, ob
maennlich, ob weiblich, noch weiss ich's nicht: aber er kommt, er
zwingt mich, wehe! macht eure Sinne auf!
4:635
Der Tag klingt ab, allen Dingen kommt nun der Abend, auch den besten
Dingen; hoert nun und seht, ihr hoeheren Menschen, welcher Teufel, ob
Mann, ob Weib, dieser Geist der Abend-Schwermuth ist!"
4:636
Also sprach der alte Zauberer, sah listig umher und griff dann zu
seiner Harfe.
4:637
hp 3.
4:638
Bei abgehellter Luft, Wenn schon des Thau's Troestung Zur Erde
niederquillt, Unsichtbar, auch ungehoert: - Denn zartes Schuhwerk
traegt Der Troester Thau gleich allen Trost-Milden -: Gedenkst du da,
gedenkst du, heisses Herz, Wie einst du durstetest, Nach himmlischen
Thraenen und Thau-Getraeufel Versengt und muede durstetest, Dieweil
auf gelben Gras-Pfaden Boshaft abendliche Sonnenblicke Durch schwarze
Baeume um dich liefen, Blendende Sonnen-Gluthblicke, schadenfrohe.
4:639
"Der _Wahrheit_ Freier? Du? - so hoehnten sie - Nein! Nur ein Dichter!
Ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, Das luegen muss,
Das wissentlich, willentlich luegen muss: Nach Beute luestern, Bunt
verlarvt, Sich selber Larve, Sich selbst zur Beute - _Das_ - der
Wahrheit Freier? Nein! Nur Narr! Nur Dichter! Nur Buntes redend, Aus
Narren-Larven bunt herausschreiend, Herumsteigend auf luegnerischen
Wort-Bruecken, Auf bunten Regenbogen, Zwischen falschen Himmeln Und
falschen Erden, Herumschweifend, herumschwebend, - _Nur_ Narr! _Nur_
Dichter!
4:640
_Das_ - der Wahrheit Freier? Nicht still, starr, glatt, kalt, Zum
Bilde worden, Zur Gottes-Saeule, Nicht aufgestellt vor Tempeln, Eines
Gottes Thuerwart: Nein! Feindselig solchen Wahrheits-Standbildern, In
jeder Wildniss heimischer als vor Tempeln, Voll Katzen-Muthwillens,
Durch jedes Fenster springend Husch! in jeden Zufall, Jedem Urwalde
zuschnueffelnd, Suechtig-sehnsuechtig zuschnueffelnd, Dass du in
Urwaeldern Unter buntgefleckten Raubthieren Suendlich-gesund und
bunt und schoen liefest, Mit luesternen Lefzen, Selig-hoehnisch,
selig-hoellisch, selig-blutgierig, Raubend, schleichend, luegend
liefest: -
4:641
Oder, dem Adler gleich, der lange, Lange starr in Abgruende blickt, In
_seine_ Abgruende: - - Oh wie sie sich hier hinab, Hinunter, hinein,
In immer tiefere Tiefen ringeln! - Dann, Ploetzlich, geraden Zugs,
Gezueckten Flugs, Auf Laemmer stossen, Jach hinab, heisshungrig,
Nach Laemmern luestern, Gram allen Lamms-Seelen, Grimmig-gram
Allem, was blickt Schafmaessig, lammaeugig, krauswollig, Grau, mit
Lamms-Schafs-Wohlwollen!
4:642
Also Adlerhaft, pantherhaft Sind des Dichters Sehnsuechte, Sind
_deine_ Sehnsuechte unter tausend Larven, Du Narr! Du Dichter!
4:643
Der du den Menschen schautest So Gott als Schaf -: Den Gott
_zerreissen_ im Menschen Wie das Schaf im Menschen, Und zerreisend
_lachen_ -
4:644
_Das_, _Das_ ist deine Seligkeit! Eines Panthers und Adlers Seligkeit!
Eines Dichters und Narren Seligkeit!" - -
4:645
Bei abgehellter Luft, Wenn schon des Monds Sichel Gruen zwischen
Purpurroethen Und neidisch hinschleicht: - dem Tage feind, Mit jedem
Schritte heimlich An Rosen-Haengematten Hinsichelnd, bis sie sinken,
Nacht-abwaerts blass hinabsinken:
4:646
So sank ich selber einstmals Aus meinem Wahrheits-Wahnsinne, Aus
meinen Tages-Sehnsuechten, Des Tages muede, krank vom Lichte, - sank
abwaerts, abendwaerts, schattenwaerts: Von Einer Wahrheit Verbrannt
und durstig: - gedenkst du noch, gedenkst du, heisses Herz, Wie da du
durstetest? - Dass ich verbannt sei Von _aller_ Wahrheit, Nur Narr!
Nur Dichter!
4:647
Von der Wissenschaft
4:648
Also sang der Zauberer; und Alle, die beisammen waren, giengen gleich
Voegeln unvermerkt in das Netz seiner listigen und schwermuethigen
Wollust. Nur der Gewissenhafte des Geistes war nicht eingefangen: er
nahm flugs dem Zauberer die Harfe weg und rief "Luft! Lasst gute Luft
herein! Lass Zarathustra herein! Du machst diese Hoehle schwuel und
giftig, du schlimmer alter Zauberer!
4:649
Du verfaehrst, du Falscher, Feiner, zu unbekannten Begierden und
Wildnissen. Und wehe, wenn Solche, wie du, von der _Wahrheit_ Redens
und Wesens machen!
4:650
Wehe allen freien Geistern, welche nicht vor _solchen_ Zauberern auf
der Hut sind! Dahin ist es mit ihrer Freiheit: du lehrst und lockst
zurueck in Gefaengnisse, -
4:651
- du alter schwermuethiger Teufel, aus deiner Klage klingt eine
Lockpfeife, du gleichst Solchen, welche mit ihrem Lobe der Keuschheit
heimlich zu Wolluesten laden!"
4:652
Also sprach der Gewissenhafte; der alte Zauberer aber blickte um sich,
genoss seines Sieges und verschluckte darueber den Verdruss, welchen
ihm der Gewissenhafte machte. "Sei still! sagte er mit bescheidener
Stimme, gute Lieder wollen gut wiederhallen; nach guten Liedern soll
man lange schweigen.
4:653
So thun es diese Alle, die hoeheren Menschen. Du aber hast wohl Wenig
von meinem Lied verstanden? In dir ist Wenig von einem Zaubergeiste."
4:654
"Du lobst mich, entgegnete der Gewissenhafte, indem du mich von dir
abtrennst, wohlan! Aber ihr Anderen, was sehe ich? Ihr sitzt alle noch
mit luesternen Augen da -:
4:655
Ihr freien Seelen, wohin ist eure Freiheit! Fast, duenkt mich's,
gleicht ihr Solchen, die lange schlimmen tanzenden nackten Maedchen
zusahn: eure Seelen tanzen selber!
4:656
In euch, ihr hoeheren Menschen, muss Mehr von Dem sein, was der
Zauberer seinen boesen Zauber- und Truggeist nennt: - wir muessen wohl
verschieden sein.
4:657
Und wahrlich, wir sprachen und dachten genug mitsammen, ehe
Zarathustra heimkam zu seiner Hoehle, als dass ich nicht wuesste: wir
_sind_ verschieden.
4:658
Wir _suchen_ Verschiednes auch hier oben, ihr und ich. Ich naemlich
suche _mehr_Sicherheit_, desshalb kam ich zu Zarathustra. Der naemlich
ist noch der festeste Thurm und Wille -
4:659
- heute, wo Alles wackelt, wo alle Erde bebt. Ihr aber, wenn ich
eure Augen sehe, die ihr macht, fast duenkt mich's, ihr sucht mehr
_Unsicherheit_,
4:660
- mehr Schauder, mehr Gefahr, mehr Erdbeben. Euch geluestet, fast
duenkt mich's so, vergebt meinem Duenkel, ihr hoeheren Menschen -
4:661
- euch geluestet nach dem schlimmsten gefaehrlichsten Leben, das _mir_
am meisten Furcht macht, nach dem Leben wilder Thiere, nach Waeldern,
Hoehlen, steilen Bergen und Irr- Schluenden.
4:662
Und nicht die Fuehrer _aus_ der Gefahr gefallen euch am besten,
sondern die euch von allen Wegen abfuehren, die Verfuehrer. Aber, wenn
solch Geluesten an euch _wirklich_ ist, so duenkt es mich trotzdem
_unmoeglich_.
4:663
Furcht naemlich - das ist des Menschen Erb- und Grundgefuehl; aus
der Furcht erklaert sich jegliches, Erbsuende und Erbtugend. Aus der
Furcht wuchs auch _meine_ Tugend, die heisst: Wissenschaft.
4:664
Die Furcht naemlich vor wildem Gethier - die wurde dem Menschen am
laengsten angezuechtet, einschliesslich das Thier, das er in sich
selber birgt und fuerchtet: - Zarathustra heisst es `das innere Vieh`.
4:665
Solche lange alte Furcht, endlich fein geworden, geistlich, geistig -
heute, duenkt mich, heisst sie: Wissenschaft." -
4:666
Also sprach der Gewissenhafte; aber Zarathustra, der eben in seine
Hoehle zurueckkam und die letzte Rede gehoert und errathen hatte,
warf dem Gewissenhaften eine Hand voll Rosen zu und lachte ob seiner
"Wahrheiten". "Wie! rief er, was hoerte ich da eben? Wahrlich, mich
duenkt, du bist ein Narr oder ich selber bin's: und deine `Wahrheit`
stelle ich rucks und flugs auf den Kopf.
4:667
_Furcht_ naemlich - ist unsre Ausnahme. Muth aber und Abenteuer und
Lust am Ungewissen, am Ungewagten, - _Muth_ duenkt mich des Menschen
ganze Vorgeschichte.
4:668
Den wildesten muthigsten Thieren hat er alle ihre Tugenden abgeneidet
und abgeraubt: so erst wurde er - zum Menschen.
4:669
_Dieser_ Muth, endlich fein geworden, geistlich, geistig, dieser
Menschen-Muth mit Adler-Fluegeln und Schlangen-Klugheit: _der_, duenkt
mich, heisst heute -"
4:670
"Zarathustra"! schrien Alle, die beisammen sassen, wie aus Einem Munde
und machten dazu ein grosses Gelaechter; es hob sich aber von ihnen
wie eine schwere Wolke. Auch der Zauberer lachte und sprach mit
Klugheit: "Wohlan! Er ist davon, mein boeser Geist!
4:671
Und habe ich euch nicht selber vor ihm gewarnt, als ich sagte, dass er
ein Betrueger sei, ein Lug- und Truggeist?
4:672
Sonderlich naemlich, wenn er sich nackend zeigt. Aber was kann _ich_
fuer seine Tuecken! Habe _ich_ ihn und die Welt geschaffen?
4:673
Wohlan! Seien wir wieder gut und guter Dinge! Und ob schon Zarathustra
boese blickt - seht ihn doch! er ist mir gram -:
4:674
- bevor die Nacht kommt, lernt er wieder, mich lieben und loben, er
kann nicht lange leben, ohne solche Thorheiten zu thun.
4:675
_Der_ - liebt seine Feinde: diese Kunst versteht er am besten von
Allen, die ich sah. Aber er nimmt Rache dafuer - an seinen Freunden!"
4:676
Also sprach der alte Zauberer, und die hoeheren Menschen zollten ihm
Beifall: so dass Zarathustra herumgieng und mit Bosheit und Liebe
seinen Freunden die Haende schuettelte, - gleichsam als Einer, der an
Allen Etwas gutzumachen und abzubitten hat. Als er aber dabei an die
Thuer seiner Hoehle kam, siehe, da geluestete ihn schon wieder nach
der guten Luft da draussen und nach seinen Thieren, - und er wollte
hinaus schluepfen.
4:677
Unter Toechtern der Wueste
4:678
hp 1.
4:679
"Gehe nicht davon! sagte da der Wanderer, welcher sich den Schatten
Zarathustra's nannte, bleibe bei uns, es moechte uns sonst die alte
dumpfe Truebsal wieder anfallen.
4:680
Schon gab uns jener alte Zauberer von seinem Schlimmsten zum Besten,
und siehe doch, der gute fromme Papst da hat Thraenen in den Augen und
hat sich ganz wieder auf's Meer der Schwermuth eingeschifft.
4:681
Diese Koenige moegen wohl vor uns noch gute Miene machen: das lernten
_Die_ naemlich von uns Allen heute am Besten! Haetten sie aber keine
Zeugen, ich wette, auch bei ihnen fienge das boese Spiel wieder an -
4:682
- das boese Spiel der ziehenden Wolken, der feuchten Schwermuth,
der verhaengten Himmel, der gestohlenen Sonnen, der heulenden
Herbst-Winde,
4:683
- das boese Spiel unsres Heulens und Nothschreiens: bleibe bei uns,
oh Zarathustra! Hier ist viel verborgenes Elend, das reden will, viel
Abend, viel Wolke, viel dumpfe Luft!
4:684
Du naehrtest uns mit starker Manns-Kost und kraeftigen Spruechen: lass
es nicht zu, dass uns zum Nachtisch die weichlichen weiblichen Geister
wieder anfallen!
4:685
Du allein machst die Luft um dich herum stark und klar! Fand ich je
auf Erden so gute Luft als bei dir in deiner Hoehle?
4:686
Viele Laender sah ich doch, meine Nase lernte vielerlei Luft pruefen
und abschaetzen: aber bei dir schmecken meine Nuestern ihre groesste
Lust!
4:687
Es sei denn, - es sei denn -, oh vergieb eine alte Erinnerung! Vergieb
mir ein altes Nachtisch-Lied, das ich einst unter Toechtern der Wueste
dichtete: -
4:688
- bei denen naemlich gab es gleich gute helle morgenlaendische Luft;
dort war ich am fernsten vom wolkigen feuchten schwermuethigen
Alt-Europa!
4:689
Damals liebte ich solcherlei Morgenland-Maedchen und andres blaues
Himmelreich, ueber dem keine Wolken und keine Gedanken haengen.
4:690
Ihr glaubt es nicht, wie artig sie dasassen, wenn sie nicht tanzten,
tief, aber ohne Gedanken, wie kleine Geheimnisse, wie bebaenderte
Raethsel, wie Nachtisch-Nuesse -
4:691
bunt und fremd fuerwahr! aber ohne Wolken: Raethsel, die sich
rathen lassen: solchen Maedchen zu Liebe erdachte ich damals einen
Nachtisch-Psalm."
4:692
Also sprach der Wanderer und Schatten; und ehe Jemand ihm antwortete,
hatte er schon die Harfe des alten Zauberers ergriffen, die Beine
gekreuzt und blickte gelassen und weise um sich: - mit den Nuestern
aber zog er langsam und fragend die Luft ein, wie Einer, der in neuen
Laendern neue fremde Luft kostet. Darauf hob er mit einer Art Gebruell
zu singen an.
4:693
hp 2.
4:694
Die Wueste waechst: weh Dem, der Wuesten birgt!
4:695
- Ha! Feierlich!
In der That feierlich!
Ein wuerdiger Anfang!
Afrikanisch feierlich!
Eines Loewen wuerdig,
Oder eines moralischen Bruellaffen -
- aber Nichts fuer euch,
Ihr allerliebsten Freundinnen,
Zu deren Fuessen mir
Zum ersten Male,
Einem Europaeer, unter Palmen
Zu sitzen vergoennt ist. Sela.
4:696
Wunderbar wahrlich!
Da sitze ich nun,
Der Wueste nahe und bereits
So fern wieder der Wueste,
Auch in Nichts noch verwuestet:
Naemlich hinabgeschluckt
Von dieser kleinsten Oasis -:
- sie sperrte gerade gaehnend
Ihr liebliches Maul auf.
Das wohlriechendste aller Maeulchen:
Da fiel ich hinein,
Hinab, hindurch - unter euch,
Ihr allerliebsten Freundinnen! Sela.
4:697
Heil, Heil jenem Wallfische,
Wenn er also es seinem Gaste
Wohl sein liess! - ihr versteht
Meine gelehrte Anspielung?
Heil seinem Bauche,
Wenn er also
Ein so lieblicher Oasis-Bauch war
Gleich diesem: was ich aber in Zweifel ziehe,
- dafuer komme ich aus Europa,
Das zweifelsuechtiger ist als alle
Aeltlichen Eheweibchen.
Moege Gott es bessern!
Amen!
4:698
Da sitze ich nun,
In dieser kleinsten Oasis,
Einer Dattel gleich,
Braun, durchsuesst, goldschwuerig, luestern
Nach einem runden Maedchenmunde,
Mehr noch aber nach maedchenhaften
Eiskalten schneeweissen schneidigen
Beisszaehnen: nach denen naemlich
Lechzt das Herz allen heissen Datteln. Sela.
4:699
Den genannten Suedfruechten
Aehnlich, allzuaehnlich
Liege ich hier, von kleinen
Fluegelkaefern
Umtaenzelt und umspielt,
Insgleichen von noch kleineren
Thoerichteren boshafteren
Wuenschen und Einfaellen,
Umlagert von euch,
Ihr stummen, ihr ahnungsvollen
Maedchen-Katzen,
Dudu und Suleika,
- _umsphinxt_, dass ich in Ein Wort
Viel Gefuehle stopfe:
(Vergebe mir Gott
Diese Sprach-Suende!)
- sitze hier, die beste Luft schnueffelnd,
Paradieses-Luft wahrlich,
Lichte leichte Luft, goldgestreifte,
So gute Luft nur je
Vom Monde herabfiel -
Sei es aus Zufall,
Oder geschah es aus Uebermuthe?
Wie die alten Dichter erzaehlen.
Ich Zweifler aber ziehe es
In Zweifel, dafuer aber komme ich
Aus Europa,
Das zweifelsuechtiger ist als alle
Aeltlichen Eheweibchen.
Moege Gott es bessern!
Amen!
4:700
Diese schoenste Luft trinkend,
Mit Nuestern geschwellt gleich Bechern,
Ohne Zukunft, ohne Erinnerungen,
So sitze ich hier, ihr
Allerliebsten Freundinnen,
Und sehe der Palme zu,
Wie sie, einer Taenzerin gleich,
Sich biegt und schmiegt und in der Huefte wiegt,
- man thut es mit, sieht man lange zu!
Einer Taenzerin gleich, die, wie mir scheinen will,
Zu lange schon, gefaehrlich lange
Immer, immer nur auf Einem Beine stand?
- da vergass sie darob, wie mir scheinen will,
Das andre Bein?
Vergebens wenigstens
Suchte ich das vermisste
Zwillings-Kleinod
- naemlich das andre Bein -
In der heiligen Naehe
Ihres allerliebsten, allerzierlichsten
Faecher- und Flatter- und Flitterroeckchens.
ja, wenn ihr mir, ihr schoenen Freundinnen,
Ganz glauben wollt:
Sie hat es verloren!
Es ist dahin!
Auf ewig dahin!
Das andre Bein!
Oh schade um dieses liebliche andre Bein!
Wo - mag es wohl weilen und verlassen trauern?
Das einsame Bein?
In Furcht vielleicht vor einem
Grimmen gelben blondgelockten
Loewen-Unthiere? Oder gar schon
Abgenagt, abgeknabbert -
Erbaermlich, wehe! wehe! abgeknabbert! Sela.
4:701
Oh weint mir nicht,
Weiche Herzen!
Weint mir nicht, ihr
Dattel-Herzen! Milch-Busen!
Ihr Suessholz-Herz-
Beutelchen!
Weine nicht mehr,
Bleiche Dudu!
Sei ein Mann, Suleika! Muth! Muth!
- Oder sollte vielleicht
Etwas Staerkendes, Herz-Staerkendes,
Hier am Platze sein?
Ein gesalbter Spruch?
Ein feierlicher Zuspruch? -
4:702
Ha! Herauf, Wuerde!
Tugend-Wuerde! Europaeer-Wuerde!
Blase, blase wieder,
Blasebalg der Tugend!
Ha!
Noch Ein Mal bruellen,
Moralisch bruellen!
Als moralischer Loewe
Vor den Toechtern der Wueste bruellen!
- Denn Tugend-Geheul,
Ihr allerliebsten Maedchen,
Ist mehr als Alles
Europaeer-Inbrunst, Europaeer-Heisshunger!
Und da stehe ich schon,
Als Europaeer,
Ich kann nicht anders, Gott helfe mir!
Amen!
4:703
Die Wueste waechst: weh Dem, der Wuesten birgt!
4:704
Die Erweckung
4:705
hp 1.
4:706
Nach dem Liede des Wanderers und Schattens wurde die Hoehle mit Einem
Male voll Laermens und Lachens; und da die versammelten Gaeste alle
zugleich redeten, und auch der Esel, bei einer solchen Ermuthigung,
nicht mehr still blieb, ueberkam Zarathustra ein kleiner Widerwille
und Spott gegen seinen Besuch: ob er sich gleich ihrer Froehlichkeit
erfreute. Denn sie duenkte ihm ein Zeichen der Genesung. So schluepfte
er hinaus in's Freie und sprach zu seinen Thieren.
4:707
"Wo ist nun ihre Noth hin? sprach er, und schon athmete er selber von
seinem kleinen Ueberdrusse auf, - bei mir verlernten sie, wie mich
duenkt, das Nothschrein!
4:708
- wenn auch, leider, noch nicht das Schrein." Und Zarathustra hielt
sich die Ohren zu, denn eben mischte sich das I-A des Esels wunderlich
mit dem Jubel-Laerm dieser hoeheren Menschen.
4:709
"Sie sind lustig, begann er wieder, und wer weiss? vielleicht auf
ihres Wirthes Unkosten; und lernten sie von mir lachen, so ist es doch
nicht _mein_ Lachen, das sie lernten.
4:710
Aber was liegt daran! Es sind alte Leute: sie genesen auf ihre Art,
sie lachen auf ihre Art; meine Ohren haben schon Schlimmeres erduldet
und wurden nicht unwirsch.
4:711
Dieser Tag ist ein Sieg: er weicht schon, er flieht,
_der_Geist_der_Schwere_, mein alter Erzfeind! Wie gut will dieser Tag
enden, der so schlimm und schwer begann!
4:712
Und enden _will_ er. Schon kommt der Abend: ueber das Meer her reitet
er, der gute Reiter! Wie er sich wiegt, der Selige, Heimkehrende, in
seinen purpurnen Saetteln!
4:713
Der Himmel blickt klar dazu, die Welt liegt tief: oh all ihr
Wunderlichen, die ihr zu mir kamt, es lohnt sich schon, bei mir zu
leben!"
4:714
Also sprach Zarathustra. Und wieder kam da das Geschrei und Gelaechter
der hoeheren Menschen aus der Hoehle: da begann er von Neuem.
4:715
"Sie beissen an, mein Koeder wirkt, es weicht auch ihnen ihr Feind,
der Geist der Schwere. Schon lernen sie ueber sich selber lachen:
hoere ich recht?
4:716
Meine Manns-Kost wirkt, mein Saft- und Kraft-Spruch: und wahrlich, ich
naehrte sie nicht mit Blaeh-Gemuesen! Sondern mit Krieger-Kost, mit
Eroberer-Kost: neue Begierden weckte ich.
4:717
Neue Hoffnungen sind in ihren Armen und Beinen, ihr Herz streckt sich
aus. Sie finden neue Worte, bald wird ihr Geist Muthwillen athmen.
4:718
Solche Kost mag freilich nicht fuer Kinder sein, noch auch fuer
sehnsuechtige alte und junge Weibchen. Denen ueberredet man anders die
Eingeweide; deren Arzt und Lehrer bin ich nicht.
4:719
Der _Ekel_ weicht diesen hoeheren Menschen: wohlan! das ist mein Sieg.
In meinem Reiche werden sie sicher, alle dumme Scham laeuft davon, sie
schuetten sich aus.
4:720
Sie schuetten ihr Herz aus, gute Stunden kehren ihnen zurueck, sie
feiern und kaeuen wieder, - sie werden _dankbar_.
4:721
_Das_ nehme ich als das beste Zeichen: sie werden dankbar. Nicht lange
noch, und sie denken sich Feste aus und stellen Denksteine ihren alten
Freuden auf.
4:722
Es sind _Genesende_!" Also sprach Zarathustra froehlich zu seinem
Herzen und schaute hinaus; seine Thiere aber draengten sich an ihn und
ehrten sein Glueck und sein Stillschweigen.
4:723
hp 2.
4:724
Ploetzlich aber erschrak das Ohr Zarathustra's: die Hoehle naemlich,
welche bisher voller Laermens und Gelaechters war, wurde mit Einem
Male todtenstill; - seine Nase aber roch einen wohlriechenden Qualm
und Weihrauch, wie von brennenden Pinien-Zapfen.
4:725
"Was geschieht? Was treiben sie?" fragte er sich und schlich zum
Eingange heran, dass er seinen Gaesten, unvermerkt, zusehn koenne.
Aber, Wunder ueber Wunder! was musste er da mit seinen eignen Augen
sehn!
4:726
"Sie sind Alle wieder _fromm_ geworden, sie _beten_, sie sind toll!" -
sprach er und verwundene sich ueber die Maassen. Und, fuerwahr!, alle
diese hoeheren Menschen, die zwei Koenige, der Papst ausser Dienst,
der schlimme Zauberer, der freiwillige Bettler, der Wanderer und
Schatten, der alte Wahrsager, der Gewissenhafte des Geistes und der
haesslichste Mensch: sie lagen Alle gleich Kindern und glaeubigen
alten Weibchen auf den Knien und beteten den Esel an. Und eben begann
der haesslichste Mensch zu gurgeln und zu schnauben, wie als ob etwas
Unaussprechliches aus ihm heraus wolle; als er es aber wirklich bis zu
Worten gebracht hatte, siehe, da war es eine fromme seltsame Litanei
zur Lobpreisung des angebeteten und angeraeucherten Esels. Diese
Litanei aber klang also:
4:727
Amen! Und Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Staerke sei
unserm Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit!
4:728
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:729
Er traegt unsre Last, er nahm Knechtsgestalt an, er ist geduldsam
von Herzen und redet niemals Nein; und wer seinen Gott liebt, der
zuechtigt ihn.
4:730
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:731
Er redet nicht: es sei denn, dass er zur Welt, die er Schuf, immer Ja
sagt: also preist er seine Welt. Seine Schlauheit ist es, die nicht
redet: so bekommt er selten Unrecht.
4:732
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:733
Unscheinbar geht er durch die Welt. Grau ist die Leib-Farbe, in welche
er seine Tugend huellt. Hat er Geist, so verbirgt er ihn; Jedermann
aber glaubt an seine langen Ohren.
4:734
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:735
Welche verborgene Weisheit ist das, dass er lange Ohren traegt und
allein ja und nimmer Nein sagt! Hat er nicht die Welt erschaffen nach
seinem Bilde, naemlich so dumm als moeglich?
4:736
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:737
Du gehst gerade und krumme Wege; es kuemmert dich wenig, was uns
Menschen gerade oder krumm duenkt. Jenseits von Gut und Boese ist dein
Reich. Es ist deine Unschuld, nicht zu wissen, was Unschuld ist.
4:738
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:739
Siehe doch, wie du Niemanden von dir stoessest, die Bettler nicht,
noch die Koenige. Die Kindlein laessest du zu dir kommen, und wenn
dich die boesen Buben locken, so sprichst du einfaeltiglich I-A.
4:740
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:741
Du liebst Eselinnen und frische Feigen, du bist kein Kostveraechter.
Eine Distel kitzelt dir das Herz, wenn du gerade Hunger hast. Darin
liegt eines Gottes Weisheit.
4:742
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
4:743
Das Eselsfest
4:744
hp 1.
4:745
An dieser Stelle der Litanei aber konnte Zarathustra sich nicht
laenger bemeistern, schrie selber I-A, lauter noch als der Esel, und
sprang mitten unter seine tollgewordenen Gaeste.
4:746
"Aber was treibt ihr da, ihr Menschenkinder? rief er, indem er die
Betenden vom Boden empor riss. Wehe, wenn euch Jemand Anderes zusaehe
als Zarathustra:
4:747
Jeder wuerde urtheilen, ihr waeret mit eurem neuen Glauben die
aergsten Gotteslaesterer oder die thoerichtsten aller alten Weiblein!
4:748
Und du selber, du alter Papst, wie stimmt Das mit dir selber zusammen,
dass du solchergestalt einen Esel hier als Gott anbetest?" -
4:749
"Oh Zarathustra, antwortete der Papst, vergieb mir, aber in Dingen
Gottes bin ich aufgeklaerter noch als du. Und so ist's billig.
4:750
Lieber Gott also anbeten, in dieser Gestalt, als in gar keiner
Gestalt! Denke ueber diesen Spruch nach, mein hoher Freund: du
erraethst geschwind, in solchem Spruch steckt Weisheit.
4:751
Der, welcher sprach `Gott ist ein Geist` - der machte bisher auf Erden
den groessten Schritt und Sprung zum Unglauben: solch Wort ist auf
Erden nicht leicht wieder gut zu machen!
4:752
Mein altes Herz springt und huepft darob, dass es auf Erden noch Etwas
anzubeten giebt. Vergieb das, oh Zarathustra, einem alten frommen
Papst-Herzen! -"
4:753
- "Und du, sagte Zarathustra zu dem Wanderer und Schatten, du nennst
und waehnst dich einen freien Geist? Und treibst hier solchen Goetzen-
und Pfaffendienst?
4:754
Schlimmer, wahrlich, treibst du's hier noch als bei deinen schlimmen
braunen Maedchen, du schlimmer neuer Glaeubiger!"
4:755
"Schlimm genug, antwortete der Wanderer und Schatten, du hast Recht:
aber was kann ich dafuer! Der alte Gott lebt wieder, Oh Zarathustra,
du magst reden, was du willst.
4:756
Der haesslichste Mensch ist an Allem schuld: der hat ihn wieder
auferweckt. Und wenn er sagt, dass er ihn einst getoedtet habe: _Tod_
ist bei Goettern immer nur ein Vorurtheil."
4:757
- Und du, sprach Zarathustra, du schlimmer alter Zauberer, was thatest
du! Wer soll, in dieser freien Zeit, fuerderhin an dich glauben, wenn
_du_ an solche Goetter-Eseleien glaubst?
4:758
Es war eine Dummheit, was du thatest; wie konntest du, du Kluger, eine
solche Dummheit thun!
4:759
"Oh Zarathustra, antwortete der kluge Zauberer, du hast Recht, es war
eine Dummheit, - es ist mir auch schwer genug geworden."
4:760
- "Und du gar, sagte Zarathustra, zu dem Gewissenhaften des Geistes,
erwaege doch und lege den Finger an deine Nase! Geht hier denn Nichts
wider dein Gewissen? Ist dein Geist nicht zu reinlich fuer diess Beten
und den Dunst dieser Betbrueder?"
4:761
"Es ist Etwas daran, antwortete der Gewissenhafte und legte den Finger
an die Nase, es ist Etwas an diesem Schauspiele, das meinem Gewissen
sogar wohlthut.
4:762
Vielleicht, dass ich an Gott nicht glauben darf: gewiss aber ist, dass
Gott mir in dieser Gestalt noch am glaubwuerdigsten duenkt.
4:763
Gott soll ewig sein, nach dem Zeugnisse der Froemmsten: wer so viel
Zeit hat, laesst sich Zeit. So langsam und so dumm als moeglich:
_damit_ kann ein Solcher es doch sehr weit bringen.
4:764
Und wer des Geistes zu viel hat, der moechte sich wohl in die Dumm-
und Narrheit selber vernarren. Denke ueber dich selber nach, oh
Zarathustra!
4:765
Du selber - wahrlich! auch du koenntest wohl aus Ueberfluss und
Weisheit zu einem Esel werden.
4:766
Geht nicht ein vollkommner Weiser gern auf den kruemmsten Wegen? Der
Augenschein lehrt es, oh Zarathustra, - _dein_ Augenschein!"
4:767
- "Und du selber zuletzt, sprach Zarathustra und wandte sich gegen den
haesslichsten Menschen, der immer noch auf dem Boden lag, den Arm zu
dem Esel emporhebend (er gab ihm naemlich Wein zu trinken). Sprich, du
Unaussprechlicher, was hast du da gemacht!
4:768
Du duenkst mich verwandelt, dein Auge glueht, der Mantel des Erhabenen
liegt um deine Haesslichkeit: _was_ thatest du?
4:769
Ist es denn wahr, was jene sagen, dass du ihn wieder auferwecktest?
Und wozu? War er nicht mit Grund abgetoedtet und abgethan?
4:770
Du selber duenkst mich aufgeweckt: was thatest du? was kehrtest _du_
um? Was bekehrtest _du_ dich? Sprich, du Unaussprechlicher?"
4:771
"Oh Zarathustra, antwortete der haesslichste Mensch, du bist ein
Schelm!
4:772
Ob _Der_ noch lebt oder wieder lebt oder gruendlich todt ist, - wer
von uns Beiden weiss Das am Besten? Ich frage dich.
4:773
Eins aber weiss ich, - von dir selber lernte ich's einst, oh
Zarathustra: wer am gruendlichsten toedten will, der _lacht_.
4:774
`Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen toedtet man` - so sprachst du
einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du
gefaehrlicher Heiliger, - du bist ein Schelm!"
4:775
hp 2.
4:776
Da aber geschah es, dass Zarathustra, verwundert ueber lauter solche
Schelmen-Antworten, zur Thuer seiner Hoehle zurueck sprang und, gegen
alle seine Gaeste gewendet, mit starker Stimme schrie:
4:777
"Oh ihr Schalks-Narren allesammt, ihr Possenreisser! Was verstellt und
versteckt ihr euch vor mir!
4:778
Wie doch einem jeden von euch das Herz zappelte vor Lust und Bosheit,
darob, dass ihr endlich einmal wieder wurdet wie die Kindlein,
naemlich fromm, -
4:779
- dass ihr endlich wieder thatet wie Kinder thun, naemlich betetet,
haende-faltetet und `lieber Gott` sagtet!
4:780
Aber nun lasst mir _diese_ Kinderstube, meine eigne Hoehle, wo heute
alle Kinderei zu Hause ist. Kuehlt hier draussen euren heissen
Kinder-Uebermuth und Herzenslaerm ab!
4:781
Freilich: so ihr nicht werdet wie die Kindlein, so kommt ihr nicht in
_das_ Himmelreich. (Und Zarathustra zeigte mit den Haenden nach Oben.)
4:782
Aber wir wollen auch gar nicht in's Himmelreich: Maenner sind wir
worden, - so wollen wir das Erdenreich."
4:783
hp 3.
4:784
Und noch einmal hob Zarathustra an zu reden. "Oh meine neuen Freunde,
sprach er, - ihr Wunderlichen, ihr hoeheren Menschen, wie gut gefallt
ihr mir nun, -
4:785
- seit ihr wieder froehlich wurdet! Ihr seid wahrlich Alle
aufgeblueht: mich duenkt, solchen Blumen, wie ihr seid, thun
_neue_Feste_ noth,
4:786
- ein kleiner tapferer Unsinn, irgend ein Gottesdienst und Eselsfest,
irgend ein alter froehlicher Zarathustra-Narr, ein Brausewind, der
euch die Seelen hell blaest.
4:787
Vergesst die Nacht und diess Eselsfest nicht, ihr hoeheren Menschen!
_Das_ erfandet ihr bei mir, Das nehme ich als gutes Wahrzeichen, -
Solcherlei erfinden nur Genesende!
4:788
Und feiert ihr es abermals, dieses Eselsfest, thut's euch zu Liebe,
thut's auch mir zu Liebe! Und zu _meinem_ Gedaechtniss!"
4:789
Also sprach Zarathustra.
4:790
Das Nachtwandler-Lied
4:791
hp 1.
4:792
Inzwischen aber war Einer nach dem Andern hinaus getreten, in's Freie
und in die kuehle nachdenkliche Nacht; Zarathustra selber aber fuehrte
den haesslichsten Menschen an der Hand, dass er ihm seine Nacht-Welt
und den grossen runden Mond und die silbernen Wasserstuerze bei seiner
Hoehle zeige. Da standen sie endlich still bei einander, lauter alte
Leute, aber mit einem getroesteten tapferen Herzen und verwundert bei
sich, dass es ihnen auf Erden so wohl war; die Heimlichkeit der Nacht
aber kam ihnen naeher und naeher an's Herz. Und von Neuem dachte
Zarathustra bei sich: "oh wie gut sie mir nun gefallen, diese hoeheren
Menschen!" - aber er sprach es nicht aus, denn er ehrte ihr Glueck und
ihr Stillschweigen. -
4:793
Da aber geschah Das, was an jenem erstaunlichen langen Tage das
Erstaunlichste war: der haesslichste Mensch begann noch ein Mal und
zum letzten Mal zu gurgeln und zu schnauben, und als er es bis zu
Worten gebracht hatte, siehe, da sprang eine Frage rund und reinlich
aus seinem Munde, eine gute tiefe klare Frage, welche Allen, die ihm
zuhoerten, das Herz im Leibe bewegte.
4:794
"Meine Freunde insgesammt, sprach der haesslichste Mensch, was duenket
euch? Um dieses Tags Willen - _ich_ bin's zum ersten Male zufrieden,
dass ich das ganze Leben lebte.
4:795
Und dass ich so viel bezeuge, ist mir noch nicht genug. Es lohnt sich
auf der Erde zu leben: Ein Tag, Ein Fest mit Zarathustra lehrte mich
die Erde lieben.
4:796
`War _Das_ - das Leben?` will ich zum Tode sprechen. `Wohlan! Noch Ein
Mal!`
4:797
Meine Freunde, was duenket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode
sprechen: War Das - das Leben? Um Zarathustra's Willen, wohlan! Noch
Ein Mal!" - -
4:798
Also sprach der haesslichste Mensch; es war aber nicht lange vor
Mitternacht. Und was glaubt ihr wohl, dass damals sich zutrug? Sobald
die hoeheren Menschen seine Frage hoerten, wurden sie sich mit Einem
Male ihrer Verwandlung und Genesung bewusst, und wer ihnen dieselbe
gegeben habe: da sprangen sie auf Zarathustra zu, dankend, verehrend,
liebkosend, ihm die Haende kuessend, so wie es der Art eines Jeden
eigen war: also dass Einige lachten, Einige weinten. Der alte
Wahrsager aber tanzte vor Vergnuegen; und wenn er auch, wie manche
Erzaehler meinen, damals voll suessen Weines war, so war er gewisslich
noch voller des suessen Lebens und hatte aller Muedigkeit abgesagt. Es
giebt sogar Solche, die erzaehlen, dass damals der Esel getanzt habe:
nicht umsonst naemlich habe ihm der haesslichste Mensch vorher Wein
zu trinken gegeben. Diess mag sich nun so verhalten oder auch anders;
und wenn in Wahrheit an jenem Abende der Esel nicht getanzt hat, so
geschahen doch damals groessere und seltsamere Wunderdinge als es
das Tanzen eines Esels waere. Kurz, wie das Sprichwort Zarathustra's
lautet: "was liegt daran!"
4:799
hp 2.
4:800
Zarathustra aber, als sich diess mit dem haesslichsten Menschen
zutrug, stand da, wie ein Trunkener: sein Blick erlosch, seine Zunge
lallte, seine Fuesse schwankten. Und wer moechte auch errathen, welche
Gedanken dabei ueber Zarathustra's Seele liefen? Ersichtlich aber
wich sein Geist zurueck und floh voraus und war in weiten Fernen und
gleichsam "auf hohem Joche, wie geschrieben steht, zwischen zwei
Meeren,
4:801
- zwischen Vergangenem und Zukuenftigem als schwere Wolke wandelnd."
Allgemach aber, waehrend ihn die hoeheren Menschen in den Armen
hielten, kam er ein Wenig zu sich selber zurueck und wehrte mit den
Haenden dem Gedraenge der Verehrenden und Besorgten; doch sprach er
nicht. Mit Einem Male aber wandte er schnell den Kopf, denn er schien
Etwas zu hoeren: da legte er den Finger an den Mund und sprach:
"Kommt!"
4:802
Und alsbald wurde es rings still und heimlich; aus der Tiefe aber kam
langsam der Klang einer Glocke herauf. Zarathustra horchte darnach,
gleich den hoeheren Menschen; dann aber legte er zum andern Male den
Finger an den Mund und sprach wiederum: "Kommt! Kommt! Es geht gen
Mitternacht!" - und seine Stimme hatte sich verwandelt. Aber immer
noch ruehrte er sich nicht von der Stelle: da wurde es noch stiller
und heimlicher, und Alles horchte, auch der Esel, und Zarathustra's
Ehrenthiere, der Adler und die Schlange, insgleichen die Hoehle
Zarathustra's und der grosse kuehle Mond und die Nacht selber.
Zarathustra aber legte zum dritten Male die Hand an den Mund und
sprach:
4:803
Kommt! Kommt! Kommt! Lasst uns jetzo wandeln! Es ist die Stunde: lasst
uns in die Nacht wandeln!
4:804
hp 3.
4:805
Ihr hoeheren Menschen, es geht gen Mitternacht: da will ich euch Etwas
in die Ohren sagen, wie jene alte Glocke es mir in's Ohr sagt, -
4:806
- so heimlich, so schrecklich, so herzlich, wie jene
Mitternachts-Glocke zu mir es redet, die mehr erlebt hat als Ein
Mensch:
4:807
- welche schon eurer Vaeter Herzens-Schmerzens-Schlaege abzaehlte -
ach! ach! wie sie seufzt! wie sie im Traume lacht! die alte tiefe
tiefe Mitternacht!
4:808
Still! Still! Da hoert sich Manches, das am Tage nicht laut werden
darf; nun aber, bei kuehler Luft, da auch aller Laerm eurer Herzen
stille ward, -
4:809
- nun redet es, nun hoert es sich, nun schleicht es sich in
naechtliche ueberwache Seelen: ach! ach! wie sie seufzt! wie sie im
Traume lacht!
4:810
- hoerst du's nicht, wie sie heimlich, schrecklich, herzlich zu _dir_
redet, die alte tiefe tiefe Mitternacht? Oh Mensch, gieb Acht!
4:811
hp 4.
4:812
Wehe mir! Wo ist die Zeit hin? Sank ich nicht in tiefe Brunnen? Die
Welt schlaeft -
4:813
Ach! Ach! Der Hund heult, der Mond scheint. Lieber will ich sterben,
sterben, als euch sagen, was mein Mitternachts-Herz eben denkt.
4:814
Nun starb ich schon. Es ist dahin. Spinne, was spinnst du um mich?
Willst du Blut? Ach! Ach! der Thau faellt, die Stunde kommt -
4:815
- die Stunde, wo mich froestelt und friert, die fragt und fragt und
fragt: "wer hat Herz genug dazu?
4:816
- wer soll der Erde Herr sein? Wer will sagen: _so_ sollt ihr laufen,
ihr grossen und kleinen Stroeme!"
4:817
- die Stunde naht: oh Mensch, du hoeherer Mensch, gieb Acht! diese
Rede ist fuer feine Ohren, fuer deine Ohren was spricht die tiefe
Mitternacht?
4:818
hp 5.
4:819
Es traegt mich dahin, meine Seele tanzt. Tagewerk! Tagewerk! Wer soll
der Erde Herr sein?
4:820
Der Mond ist kuehl, der Wind schweigt. Ach! Ach! Flogt ihr schon hoch
genug? Ihr tanztet: aber ein Bein ist doch kein Fluegel.
4:821
Ihr guten Taenzer, nun ist alle Lust vorbei, Wein ward Hefe, jeder
Becher ward muerbe, die Graeber stammeln.
4:822
Ihr flogt nicht hoch genug: nun stammeln die Graeber "erloest doch die
Todten! Warum ist so lange Nacht? Macht uns nicht der Mond trunken?"
4:823
Ihr hoeheren Menschen, erloest doch die Graeber, weckt die Leichname
auf! Ach, was graebt noch der Wurm? Es naht, es naht die Stunde, -
4:824
- es brummt die Glocke, es schnarrt noch das Herz, es graebt noch der
Holzwurm, der Herzenswurm. Ach! Ach! Die Welt ist tief!
4:825
hp 6.
4:826
Suesse Leier! Suesse Leier! Ich liebe deinen Ton, deinen trunkenen
Unken-Ton! - wie lang her, wie fern her kommt mir dein Ton, weit her,
von den Teichen der Liebe!
4:827
Du alte Glocke, du suesse Leier! Jeder Schmerz riss dir in's Herz,
Vaterschmerz, Vaeterschmerz, Urvaeterschmerz, deine Rede wurde reif,-
4:828
- reif gleich goldenem Herbste und Nachmittage, gleich meinem
Einsiedlerherzen - nun redest du: die Welt selber ward reif, die
Traube braeunt,
4:829
- nun will sie sterben, vor Glueck sterben. Ihr hoeheren Menschen,
riecht ihr's nicht? Es quillt heimlich ein Geruch herauf,
4:830
- ein Duft und Geruch der Ewigkeit, ein rosenseliger, brauner
Gold-Wein-Geruch von altem Gluecke,
4:831
von trunkenem Mitternachts-Sterbegluecke, welches singt: die Welt ist
tief und tiefer als der Tag gedacht!
4:832
hp 7.
4:833
Lass mich! Lass mich! Ich bin zu rein fuer dich. Ruehre mich nicht an!
Ward meine Welt nicht eben vollkommen?
4:834
Meine Haut ist zu rein fuer deine Haende. Lass mich, du dummer
toelpischer dumpfer Tag! Ist die Mitternacht nicht heller?
4:835
Die Reinsten sollen der Erde Herrn sein, die Unerkanntesten,
Staerksten, die Mitternachts-Seelen, die heller und tiefer sind als
jeder Tag.
4:836
Oh Tag, du tappst nach mir? Du tastest nach meinem Gluecke? Ich bin
dir reich, einsam, eine Schatzgrube, eine Goldkammer?
4:837
Oh Welt, du willst _mich_? Bin ich dir weltlich? Bin ich dir
geistlich? Bin ich dir goettlich? Aber Tag und Welt, ihr seid zu
plump, -
4:838
- habt kluegere Haende, greift nach tieferem Gluecke, nach tieferem
Ungluecke, greift nach irgend einem Gotte, greift nicht nach mir:
4:839
- mein Unglueck, mein Glueck ist tief, du wunderlicher Tag, aber doch
bin ich kein Gott, keine Gottes-Hoelle: tief ist ihr Weh.
4:840
hp 8.
4:841
Gottes Weh ist tiefer, du wunderliche Welt! Greife nach Gottes Weh,
nicht nach mir! Was bin ich! Eine trunkene suesse Leier, -
4:842
eine Mitternachts-Leier, eine Glocken-Unke, die Niemand versteht,
aber welche reden _muss_, vor Tauben, ihr hoeheren Menschen! Denn ihr
versteht mich nicht!
4:843
Dahin! Dahin! Oh Jugend! Oh Mittag! Oh Nachmittag! Nun kam Abend und
Nacht und Mitternacht, - der Hund heult, der Wind:
4:844
- ist der Wind nicht ein Hund? Er winselt, er klaefft, er heult. Ach!
Ach! wie sie seufzt! wie sie lacht, wie sie roechelt und keucht, die
Mitternacht!
4:845
Wie sie eben nuechtern spricht, diese trunkene Dichterin! sie
uebertrat wohl ihre Trunkenheit? sie wurde ueberwach? sie kaeut
zurueck?
4:846
- ihr Weh kaeut sie zurueck, im Traume, die alte tiefe Mitternacht,
und mehr noch ihre Lust. Lust naemlich, wenn schon Weh tief ist: Lust
ist tiefer noch als Herzeleid.
4:847
hp 9.
4:848
Du Weinstock! Was preisest du mich? Ich schnitt dich doch! Ich bin
grausam, du blutest -: was will dein Lob meiner trunkenen Grausamkeit?
4:849
"Was vollkommen ward, alles Reife - will sterben!" so redest du.
Gesegnet, gesegnet sei das Winzermesser! Aber alles Unreife will
leben: wehe!
4:850
Weh spricht: "Vergeh! Weg, du Wehe!" Aber Alles, was leidet, will
leben, dass es reif werde und lustig und sehnsuechtig,
4:851
- sehnsuechtig nach Fernerem, Hoeherem, Hellerem. "Ich will Erben, so
spricht Alles, was leidet, ich will Kinder, ich will nicht _mich_," -
4:852
Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder, - Lust will sich selber,
will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.
4:853
Weh spricht: "Brich, blute, Herz! Wandle, Bein! Fluegel, flieg! Hinan!
Hinauf! Schmerz!" Wohlan! Wohlauf! Oh mein altes Herz: Weh spricht:
"vergeh!"
4:854
hp 10.
4:855
Ihr hoeheren Menschen, was duenket euch? Bin ich ein Wahrsager? Ein
Traeumender? Trunkener? Ein Traumdeuter? Eine Mitternachts-Glocke?
4:856
Ein Tropfen Thau's? Ein Dunst und Duft der Ewigkeit? Hoert ihr's
nicht? Riecht ihr's nicht? Eben ward meine Welt vollkommen,
Mitternacht ist auch Mittag, -
4:857
Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch
eine Sonne, - geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch ein Narr.
4:858
Sagtet ihr jemals ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet
ihr Ja auch zu _allem_ Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfaedelt,
verliebt, -
4:859
- wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr jemals "du
gefaellst mir, Glueck! Husch! Augenblick!" so wolltet ihr _Alles_
zurueck!
4:860
- Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfaedelt, verliebt,
oh so _liebtet_ ihr die Welt, -
4:861
- ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht
ihr: vergeh, aber komm zurueck! Denn alle Lust will - Ewigkeit!
4:862
hp 11.
4:863
Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will
trunkene Mitternacht, will Graeber, will Graeber-Thraenen-Trost, will
vergueldetes Abendroth -
4:864
- _was_ will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger,
schrecklicher, heimlicher als alles Weh, sie will _sich_, sie beisst
in _sich_, des Ringes Wille ringt in ihr, -
4:865
- sie will Liebe, sie will Hass, sie ist ueberreich, schenkt, wirft
weg, bettelt, dass Einer sie nimmt, dankt dem Nehmenden, sie moechte
gern gehasst sein, -
4:866
- so reich ist Lust, dass sie nach Wehe durstet, nach Hoelle, nach
Hass, nach Schmach, nach dem Krueppel, nach _Welt_, - denn diese Welt,
oh ihr kennt sie ja!
4:867
Ihr hoeheren Menschen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die
unbaendige, selige, - nach eurem Weh, ihr Missrathenen! Nach
Missrathenem sehnt sich alle ewige Lust.
4:868
Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid! Oh
Glueck, oh Schmerz! Oh brich, Herz! Ihr hoeheren Menschen, lernt es
doch, Lust will Ewigkeit,
4:869
- Lust will _aller_ Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!
4:870
hp 12.
4:871
Lerntet ihr nun mein Lied? Erriethet ihr, was es will? Wohlan!
Wohlauf! Ihr hoeheren Menschen, so singt mir nun meinen Rundgesang!
4:872
Singt mir nun selber das Lied, dess Name ist "Noch ein Mal", dess Sinn
ist "in alle Ewigkeit!", singt, ihr hoeheren Menschen, Zarathustra's
Rundgesang!
4:873
Oh Mensch! Gieb Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
"Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit
will tiefe, tiefe Ewigkeit!"
4:874
Das Zeichen
4:875
Des Morgens aber nach dieser Nacht sprang Zarathustra von seinem
Lager auf, guertete sich die Lenden und kam heraus aus seiner Hoehle,
gluehend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen
kommt.
4:876
"Du grosses Gestirn, sprach er, wie er einstmal gesprochen hatte, du
tiefes Gluecks-Auge, was waere all dein Glueck, wenn du nicht _Die_
haettest, welchen du leuchtest!
4:877
Und wenn sie in ihren Kammern blieben, waehrend du schon wach bist
und kommst und schenkst und austheilst: wie wuerde darob deine stolze
Scham zuernen!
4:878
Wohlan! sie schlafen noch, diese hoeheren Menschen, waehrend _ich_
wach bin: _das_ sind nicht meine rechten Gefaehrten! Nicht auf sie
warte ich hier in meinen Bergen.
4:879
Zu meinem Werke will ich, zu meinem Tage: aber sie verstehen nicht,
was die Zeichen meines Morgens sind, mein Schritt - ist fuer sie kein
Weckruf.
4:880
Sie schlafen noch in meiner Hoehle, ihr Traum kaeut noch an meinen
Mitternaechten. Das Ohr, das nach _mir_ horcht, - das _gehorchende_
Ohr fehlt in ihren Gliedern."
4:881
- Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen gesprochen, als die Sonne
aufgieng: da blickte er fragend in die Hoehe, denn er hoerte ueber
sich den scharfen Ruf seines Adlers. "Wohlan! rief er hinauf, so
gefaellt und gebuehrt es mir. Meine Thiere sind wach, denn ich bin
wach.
4:882
Mein Adler ist wach und ehrt gleich mir die Sonne. Mit Adlers-Klauen
greift er nach dem neuen Lichte. Ihr seid meine rechten Thiere; ich
liebe euch.
4:883
Aber noch fehlen mir meine rechten Menschen!" -
4:884
Also sprach Zarathustra; da aber geschah es, dass er sich ploetzlich
wie von unzaehligen Voegeln umschwaermt und umflattert hoerte, - das
Geschwirr so vieler Fluegel aber und das Gedraeng um sein Haupt war
so gross, dass er die Augen schloss. Und wahrlich, einer Wolke gleich
fiel es ueber ihn her, einer Wolke von Pfeilen gleich, welche sich
ueber einen neuen Feind ausschuettet. Aber siehe, hier war es eine
Wolke der Liebe, und ueber einen neuen Freund.
4:885
"Was geschieht mir?" dachte Zarathustra in seinem erstaunten Herzen
und liess sich langsam auf dem grossen Steine nieder, der neben dem
Ausgange seiner Hoehle lag. Aber, indem er mit den Haenden um sich und
ueber sich und unter sich griff, und den zaertlichen Voegeln wehrte,
siehe, da geschah ihm etwas noch Seltsameres: er griff naemlich dabei
unvermerkt in ein dichtes warmes Haar-Gezottel hinein; zugleich aber
erscholl vor ihm ein Gebruell, - ein sanftes langes Loewen-Bruellen.
4:886
"Das Zeichen kommt," sprach Zarathustra und sein Herz verwandelte
sich. Und in Wahrheit, als es helle vor ihm wurde, da lag ihm ein
gelbes maechtiges Gethier zu Fuessen und schmiegte das Haupt an seine
Knie und wollte nicht von ihm lassen vor Liebe und that einem Hunde
gleich, welcher seinen alten Herrn wiederfindet. Die Tauben aber waren
mit ihrer Liebe nicht minder eifrig als der Loewe; und jedes Mal, wenn
eine Taube ueber die Nase des Loewen huschte, schuettelte der Loewe
das Haupt und wunderte sich und lachte dazu.
4:887
Zu dem Allen sprach Zarathustra nur Ein Wort: "meine Kinder sind nahe,
meine Kinder" -, dann wurde er ganz stumm. Sein Herz aber war geloest,
und aus seinen Augen tropften Thraenen herab und fielen auf seine
Haende. Und er achtete keines Dings mehr und sass da, unbeweglich und
ohne dass er sich noch gegen die Thiere wehrte. Da flogen die Tauben
ab und zu und setzten sich ihm auf die Schulter und liebkosten sein
weisses Haar und wurden nicht muede mit Zaertlichkeit und Frohlocken.
Der starke Loewe aber leckte immer die Thraenen, welche auf die Haende
Zarathustra's herabfielen und bruellte und brummte schuechtern dazu.
Also trieben es diese Thiere. -
4:888
Diess Alles dauerte eine lange Zeit, oder eine kurze Zeit: denn,
recht gesprochen, giebt es fuer dergleichen Dinge auf Erden _keine_
Zeit -. Inzwischen aber waren die hoeheren Menschen in der Hoehle
Zarathustra's wach geworden und ordneten sich mit einander zu einem
Zuge an, dass sie Zarathustra entgegen giengen und ihm den Morgengruss
boeten: denn sie hatten gefunden, als sie erwachten, dass er schon
nicht mehr unter ihnen weilte. Als sie aber zur Thuer der Hoehle
gelangten, und das Geraeusch ihrer Schritte ihnen voranlief, da
stutzte der Loewe gewaltig, kehrte sich mit Einem Male von Zarathustra
ab und sprang, wild bruellend, auf die Hoehle los; die hoeheren
Menschen aber, als sie ihn bruellen hoerten, schrien alle auf, wie mit
Einem Munde, und flohen zurueck und waren im Nu verschwunden.
4:889
Zarathustra selber aber, betaeubt und fremd, erhob sich von seinem
Sitze, sah um sich, stand staunend da, fragte sein Herz, besann sich
und war allein. "Was hoerte ich doch? sprach er endlich langsam, was
geschah mir eben?"
4:890
Und schon kam ihm die Erinnerung, und er begriff mit Einem Blicke
Alles, was zwischen Gestern und Heute sich begeben hatte. "Hier ist
ja der Stein, sprach er und strich sich den Bart, auf _dem_ sass ich
gestern am Morgen; und hier trat der Wahrsager zu mir, und hier hoerte
ich zuerst den Schrei, den ich eben hoerte, den grossen Nothschrei.
4:891
Oh ihr hoeheren Menschen, von _eurer_ Noth war's ja, dass gestern am
Morgen jener alte Wahrsager mir wahrsagte, -
4:892
- zu eurer Noth wollte er mich verfuhren und versuchen: oh
Zarathustra, sprach er zu mir, ich komme, dass ich dich zu deiner
letzten Suende verfuehre.
4:893
Zu meiner letzten Suende? rief Zarathustra und lachte zornig ueber
sein eigenes Wort: _was_ blieb mir doch aufgespart als meine letzte
Suende?"
4:894
- Und noch ein Mal versank Zarathustra in sich und setzte sich wieder
auf den grossen Stein nieder und sann nach. Ploetzlich sprang er
empor, -
4:895
"Mitleiden! Das Mitleiden mit dem hoeheren Menschen! schrie er auf,
und sein Antlitz verwandelte sich in Erz. Wohlan! _Das_ - hatte seine
Zeit!
4:896
Mein Leid und mein Mitleiden - was liegt daran! Trachte ich denn nach
_Gluecke_? Ich trachte nach meinem _Werke_!
4:897
Wohlan! Der Loewe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif,
meine Stunde kam: -
4:898
Dies ist _mein_ Morgen, _mein_ Tag hebt an: herauf nun, herauf, du
grosser Mittag!" - -
4:899
Also sprach Zarathustra und verliess seine Hoehle, gluehend und stark,
wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.